Wenn der Traktor über Bord geht

April 20th, 2006

  • Ein Bord hinunter stürzen ist nicht über Bord gehen

  • Wir entdeckten in einer Meldung der Polizei Basel-Landschaft:

    Am Freitag, 24. Februar 2006, um 10.00 Uhr, stürzte ein Traktor am Steinrieselweg in Brislach BL rund fünf Meter ein Bord hinunter. Der Fahrer blieb unverletzt.
    (Quelle: bl.ch)

    Wir machen uns natürlich Sorgen bei dieser Meldung, ob auch dem Lenker nichts zugestossen ist? Vielleicht ist er ja verbogen, in dem Fall? Besonders spannend finden wir an dieser Meldung die Bezeichnung „ein Bord“, denn das war uns bisher nur in ganz anderen Kontexten bekannt.

  • Mann über Bord, Tassen auf das Bord
  • Nämlich in der Seefahrt, wenn jemand „über Bord“ geht, und sich dann im Meer wiederfindet, in der Hoffnung, dass seine Kollegen „an Bord“ ihn wieder rausfischen werden. Oder in der Küche, wenn wir Tassen auf „ein Bord“ stellen, welches wir dann Neudeutsch „Cupboard“ nennen. Oder wir stellen sie im Wohnzimmer auf unser schickes neues „Sideboard“.

    Die Polizeimeldung berichtet weiter:

    Ein 29-jähriger Traktorfahrer war mit der an dem Gefährt angebrachten Schaufel damit beschäftigt, den Steinrieselweg, eine Naturstrasse, zu planieren. Plötzlich bemerkte der Mann, dass bei der Schaufelaufhängung ein Bolzen lose war. Er hielt auf der abfallenden Strasse an und wollte Nachschau halten. Weil er die Handbremse zu wenig stark angezogen hatte, machte sich der Traktor selbstständig und stürzte rund fünf Meter das Bord hinunter.
    (Quelle: bl.ch)

  • Haltet die Nachschau!
  • Auch die Nachschau haben wir noch nie gehalten, bisher kannten wir nur die „Nabelschau“. Wenn man die Nachschau nicht hält, läuft sie dann weg? Immerhin finden wir 63 weitere Belege für „Nachschau halten“ bei Google-Schweiz. Auch in Österreich und Deutschland ist diese Formulierung beliebt, mit Vorliebe taucht sie aber in Schweizer Berichten auf.

    Beim auf der Seite liegenden Traktor lief ein wenig Dieselbenzin aus, welches von der Feuerwehr Brislach aufgenommen wurde. Der Traktor konnte durch den von der Polizei Base-Landschaft aufgebotenen Abschleppdienst in einer spektakulären Aktion wieder auf die Strasse gehoben wurde.

    Andere Städte nehmen Flüchtlinge auf, manche Führungskräfte auch die Arbeit. Hier wird zur Abwechslung mal Dieselbenzin nicht entsorgt oder abgesaugt, sondern aufgenommen. Na klar, es hatte sich ja in der Zwischenzeit auch mit dem Erdreich verbunden. Das der Abschleppdienst nicht einfach bestellt oder geholt, sondern in der Schweiz gleich „aufgeboten“ wird, fiel uns zum Schluss gar nicht mehr auf. Hier dreht sich ständig alles ums „Aufgebot“ , da fällt ein Abschleppwagen mehr oder weniger auch nicht ins Gewicht.

    Nicht das wir uns jetzt als Deutschtümler oder ewige Sprach-Nörgler bezeichnen lassen. Die Meldung der Polizei-Basel (die im Original Text zur Base-Landschaft mutierte, kann mal passieren, bei soviel Säuren und Basen, welche dort in der Chemie produziert werden) ist sprachlich absolut einwandfrei, aber gleichzeitig ein ganz typisches Exemplar Schweizer Schriftsprache, erkennbar am „Bord“ und am „aufbieten“.

  • Was heisst „Bord“ in der Schweiz
  • Wir finden die Antwort im Variantenwörterbuch auf Seite 130:

    Bord CH das; -(e)s, -e/Börder:
    kleiner Abhang, Böschung
    ,
    aufgeworfener oder abschüssiger Rand:
    „Die Wucht des Aufpralls katapultierte [das] Auto zuerst gegen das Heck eines Lieferwagens und schleuderte es danach das Bord hinunter (NLZ 3. 10.2001, Internet)

    In „Gemeindeutschen“, wie das Variantenwörterbuch die Standardsprache nennt, sind nur „Schiffsbord“ und „Ablagebrett an der Wand“ bekannt. Und wenn die Deutschen vom „Bordstein“ oder der „Bordkante“ reden, dann meinen sie den Schweizer „Trottoirrand“.

    Es gibt auch noch die Varianten „Bachbord“ (das nicht mit dem „Backbord“ des Schiffes verwechselt werden darf), „Bahnbord“, „Strassenbord“, „Wegbord“ und, was uns ganz besonders freut, das „Wiesenbord“! Auf keinen Fall darf man an das hübsch Wort „Bord“ noch die Endung „-ell“ anfügen, denn dann ändert es gleich ungemein seine Bedeutung.

    Der Ärger eines Deutschschweizers über Meteo im Dialekt

    April 19th, 2006
  • Mailbox in der Weltwoche
  • Der Chefredaktor von Le Matin, der zweitgrössten Tageszeitung der Französischen Schweiz, Peter Rothenbühler, schreibt in der Rubrik „Mailbox“ der Weltwoche Nr. 15.06 auf Seite 26 unter dem Titel „Lieber Thomas Bucheli“:

    Glaub mir, was jetzt kommt, ist nicht einfach ein Röstigraben-Reflex. Nein, mein Ärger ist der Ärger eines Deutschschweizers. Ich kann es nicht fassen, mit welcher Argumentation ihr Leutschenbacher den Entscheid rechtfertigt, «Meteo» im Dialekt zu moderieren. Die Argumente sind schlicht falsch und zeugen von einer Mentalität, die ich als provinziell und fremdenfeindlich qualifizieren würde.

    Der Ärger eines Deutschschweizers, der als Jurassier auch auf Französisch zu schreiben versteht, zielt besonders auf die Verwendung von „Schweizerdeutsch“:

    Euer Kundendienst sagt, die Landessprache der deutschsprachigen Schweiz sei Schweizerdeutsch. Stimmt nicht: In der Bundesverfassung heisst es «Deutsch». Schweizerdeutsch gibt’s gar nicht! Es gibt, meteorologisch gesagt, nur einen Dialektpflotsch, also eine Unzahl durcheinander geschüttelter Dialekte, die niemand korrekt ausspricht. (…)

    Peter Rothenbühler versucht im letzten Teil seines offenen Briefes dann zu ergründen, was die Ursachen für die Dialektverwendung sein könnten:

    Nun, ich habe mich gefragt, warum dieses Festklammern am Dialekt gerade jetzt kommt, wo vom peinlichen Versagen der kleinen Schweizer im Deutschunterricht die Rede ist. Und fand eine unangenehme Erklärung: In Zürich gibt es eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit gegenüber den massenhaft zuwandernden Deutschen.

    „Massenhaft“ ist relativ, denn wie wir von Patrick Rohr in der Sendung QUER gelernt haben, leben derzeit gerade 148.000 Deutsche in der Schweiz, von denen nur knapp 100.000 hier auch arbeiten.

    Mit ihrem geschliffenen Mundwerk werden sie von vielen als Bedrohung für das dialektplätschernde bluemente Trögli empfunden. Das ist es, was euch zum regressiven Einbunkern im Réduit der Babysprache treibt: alter Deutschenhass, verbunden mit sprachlichem Minderwertigkeitskomplex.

    Wir sollten doch mal wieder zum feinen Schleifpapier und zum Schwingschleifer greifen, um an unserem Mundwerk herumzuschleifen. Und was das „dialektplätschernde bluemente Trögli“ angeht, wie könnten wir dem je mit einem Schwingschleifer zu nahe treten wollen?
    Hier ein geschliffenes Exemplar von roth-holz.ch
    Blumentrog ohne Schwingschleifer
    Es erfreut doch unser Auge und unsere Ohren, sowie alle sonstigen Sinne ganz phänomenal!

    Ich kann nur sagen: Wer in die Minderwertigkeit flüchtet, wird den Komplex nicht los. Schick deine Moderatoren in den Migros-Sprachkurs. Und schafft beim Wetter wieder Klarheit: deutsch und deutlich.

    Rothenbühler sagt leider nicht, ob die Moderatoren im Migros-Sprachkurs nun Hochdeutsch oder Schweizerdeutsch lernen sollen. Die Migros-Klubschule bietet übrigens auch Arabisch, Chinesisch und Russisch an. Das wären doch mal interessante Sprachen für eine Meteo-Moderation!

    Wir hatten das Thema schon in der Frühzeit der Blogwiese am Beispiel „Wetterbericht auf Tele Züri“ mit der wunderbaren Jeannette Eggenschwiler besprochen. Für uns Deutsche ist diese Sendung Kult, denn nirgends können wir unser Hörverständnis und langsam auch die aktive Betonung von „Räge“ und „Näbel“ besser üben als beim „Zuelose“ von Frau Eggenschwiler. Da kommt uns das Angebot von «Meteo» des Schweizer Fernsehens gerade zupass, auch wenn wir mit den dort gebotenen „Dialektpflotsch“ mehr Schwierigkeiten haben.

    Alle Schweizer sprechen so wie Emil

    April 18th, 2006
  • Alle Schweizer sprechen so wie Emil in der ARD
  • Es begann alles mit dem klassischen Missverständnis der Deutschen, die in den 70er und 80er Jahren Emil Steinberger am Fernsehen erlebten:

    Im Jahr 1977 stand er für neun Monate in der Manege des Circus Knie. Die in der ARD ausgestrahlten Emil-Aufzeichnungen machten ihn auch in Deutschland bekannt. Es folgten diverse Tourneen durch die Bundesrepublik und die Schweiz, auch in der DDR trat er mehrmals auf. Wegen dieser überaus erfolgreichen Tourneen entschloss er sich ab 1980 nur noch „Emil“ zu sein.
    (Quelle: Wiki über Emil)

    Daraus schlussfolgerten die Deutschen, die noch niemals gesprochenes Schweizdeutsch im Fernsehen gehört hatten: „Aha, so klingt also Schweizerdeutsch“. Kein Schweizer hatte bis dahin irgend etwas öffentlich auf Dialekt im Deutschen Fernsehen gesagt. Lilo Pulver sprach Hochdeutsch, oder manchmal auch leicht eingefärbtes Bairisch-Österreichisch, je nach Filmrolle. Von Bruno Ganz wusste ich lange gar nicht, dass er Schweizer ist. Er sprach ebenfalls in allen Filmen Hochdeutsch. Nur als Hitler, da sprach er Österreichisch.

  • Warum äffen Deutsche Comedians so blöd Schweizerdeutsch nach?
  • Noch heute wirkt das künstliche „Schweizerische Hochdeutsch“ von Emil nach bei vielen deutschen Comedians. So auch in der Sendung Genial Daneben auf SAT1: Liest Hugo Egon Balder eine Frage aus der Schweiz vor, dann ereifern sich alle sofort und verfallen in die „Emil-Sprechweise“, die sie von den ARD-Aufzeichnungen kennen. Sie mochten diese Sprechweise und halten das ohne Arglist tatsächlich für typisches Schweizerdeutsch!

    Viele Comedians in Deutschland können auf Knopfdruck ihre Vorbilder, mit denen sie aufgewachsen sind, rezitieren und imitieren: Otto Walkes Liveplatten, Sketche der Ulkserie „Klimbim“ (mit Ingrid Steeger), Didi Hallervorden und eben auch EMIL aus der Schweiz. Was anderes aus der Schweiz haben diese Comedians nie erlebt. Es wurde ihnen niemals Mani Matter gezeigt, Lorenz Keiser kam nie im Deutschen Fernsehen. Marco Rima hat in seiner Glanzzeit bei der Wochenschau niemals Schweizerdeutsch gesprochen, und wenn, dann nur in besagter „Emil-Sprechweise“.

    Woher sollen die Deutschen dann wissen, wie Schweizerdeutsch klingt? Selbst Ursus&Nadeschkin haben ihre Programm „Hailights“, das sie lange und mit grossem Erfolg in Deutschland spielten, in einer angepassten Schweizer-Hochdeutschen Version präsentiert. Man wollte dem Deutschen Publikum nicht zumuten, sich wirklich mit Dialekt auseinanderzusetzen.

  • Dialekte kennen die Deutschen auch, nur keine Schweizerdeutschen
  • Die Ignoranz der Deutschen, was die Schweizerdeutschen Dialekte angeht, ist also wirklich nicht ihr Verschulden. Die Deutschen würden auf Anhieb eher Sächsisch, Bairisch, Hessisch, Schwäbisch oder Plattdeutsch als Mundarten aufzählen können, als auch nur einen einzigen Schweizer Dialekt. Woher sollten sie die denn auch kennen. Sie werden ihnen in Film und Fernsehen einfach vorenthalten. Die erfolgreiche Komödie „Achtung, Fertig Charlie!“ wurde auch in Deutschen Kinos gezeigt, allerdings nur in einer auf Schweizer-Hochdeutsch synchronisierten Fassung. Solange wir in Deutschland immer nur den ewigen EMIL als Referenz für „typisches Schweizerdeutsch“ zitieren können, wird sich wohl nie was ändern an der Ahnungslosigkeit der Deutschen. Ob die von den Schweizern vielleicht so gewollt ist?

    Warum wissen die Deutschen so wenig über die Schweizer?

    April 17th, 2006
  • Warum sind Deutsche arrogant und ignorant?
  • Eines der Vorurteile der Schweizer gegenüber den Deutschen bezieht sich auf deren angebliche Arroganz, gepaart mit der Ignoranz der Deutschen, was die Lebenswirklichkeit in der Schweiz angeht. Die Deutschen wissen nichts oder wenig über die Schweizer, das stimmt. Doch ist das ihre Schuld?

  • Warum brauchen die Deutschen eine Gebrauchsanweisung für die Schweiz?
  • Thomas Küng sagte in der Sendung QUER am 24.03.06 auf die Frage von Patrick Rohr „Haben die Deutschen eine Gebrauchsanweisung für die Schweiz nötig? Wissen sie nicht, wie man umgeht mit den Schweizerinnen und Schweizern?“

    Ja, ganz eindeutig. Für die Deutschen sind ja die Schweizer ein Volk, dass sie irgendwie zu kennen glauben, aber sie sind für sie völlig exotisch, und wenn sie dann zu uns kommen, sind sie überrascht, dass sie die Schweizer eben doch nicht kennen. Also wir schauen regelmässig das Deutsche Fernsehen, wir wissen wie die Deutschen Politiker sich gegenseitig nieder machen, und wir völlig konsterniert dasitzen und denken, das kann doch nicht sein, das auf der einen Seite nur die Idioten sitzen, und auf der anderen Seite nur die Cleveren. Also das man irgendwie was zusammen machen muss. Also wir kennen Euch sehr gut, aber die Deutschen haben von uns eigentlich keine Ahnung, deshalb brauchen Sie eine Gebrauchsanweisung.
    (Quelle: Transkript vom Videostream)

    Thomas Küng hat Recht bei seinen Ausführungen, aber er sagt auch nicht die ganze Wahrheit. Die Schweizer können tatsächlich via Kabel oder Satellitenschüssel die Deutschen Sender ARD, ZDF sowie die zahlreichen Privatsender empfangen. Und wie ist es umgekehrt?

  • Schweizer Fernsehen nur für die Schweiz
  • Was die wenigsten Schweizer wissen: Es gibt keine Schweizer Sender im Deutschen Fernsehen, auch nicht via Satellit oder Kabel! Nur im grenznahen Bereich ist der Empfang über die Hausantenne und über Kabel möglich. Will ein Auslandsschweizer in Deutschland auch dort SF1 und SF2 über Satellit empfangen, kann er dies kostenlos bei der Schweizer Botschaft beantragen. Ausserdem muss er seine Sateliten-Schüssel auf den richtigen Sateliten ausrichten, und das ist nicht ASTRA. [Dank für den Hinweis an SU nach Osnabrück]. Es ist der klassische Trugschluss: „Wenn ich alles über Deutschland sehen kann, müssen die doch auch alles über die Schweiz empfangen“.

    Deutsche können also gar kein Schweizer Fernsehen empfangen, bis auf wenige ausgewählte Sendungen, die meistens synchronisiert oder zumindest untertitelt auf 3SAT gezeigt werden. So z. B. in der Sendung „Schweizweit“. Es gibt keine Schweizer Tagesschau in Deutschland, kein 10 vor 10, keine Arena, kein QUER mit Patrick Rohr. Wenn dieser in Deutschland unterwegs ist, wird er nur im grenznahen Lörrach auf der Strasse angesprochen, und zwar von Schweizern. Sonst kennt ihn niemand.

  • Billige Sendelizenzen für nur 7 Millionen Zuschauer
  • Patrick Rohr hat es mir nach der Sendung erläutert. Es hängt einfach mit den Lizenzkosten zusammen, die in der Schweiz für die Ausstrahlung von Spielfilmen gezahlt werden müssen. Sie sind im Vergleich zu Deutschland sehr niedrig, weil das potentielle Zielpublikum nur aus den 7 Millionen Einwohner der Schweiz besteht. Würde das Schweizer Fernsehen auch in Deutschland oder via Kabel oder Satellit zu empfangen sein, müssten wesentlich höhere Lizenzkosten bezahlt werden. Darum kommt es manchmal zu der absurden Situation, dass teure Spielfilme in der Schweiz gleichzeitig auf ORF, SAT1 und SF zu sehen sind, mit gleicher Startzeit und unterschiedlichem Ende, wegen unterschiedlich langer Werbeeinspielungen. Deutsche Zuschauer sehen nur die SAT1 Fassung, SF wird nicht ausgestrahlt in Deutschland.

    Die Ausführungen von Thomas Küng klangen ein wenig vorwurfsvoll:

    „Also wir kennen Euch sehr gut, aber die Deutschen haben von uns eigentlich keine Ahnung, (…)“

    Durch das Fernsehen, das ist richtig, kennen uns die Schweizer oder meinen uns jedenfalls zu kennen. Und weil in Deutschland kein Schweizer Fernsehens empfangen werden kann, haben die Deutschen oft keine Ahnung von der Schweiz. Es ist ihnen deswegen aber auch weiss Gott kein Vorwurf deswegen zu machen.

  • Was lernt man aus dem Fernsehen über sein Nachbarland?
  • Natürlich stellt sich die Frage: Was kann man aus dem Fernsehen über sein Nachbarland lernen? Eine ganze Menge, vor allen Dingen über den Alltag. Während Deutsche Telenovelas in der Schweiz empfangen werden können, die Schweizer also auch seit ewigen Zeiten das sozialtherapeutische Dauerexperiment der „Lindenstrasse“ verfolgen können, herrscht anders herum absolute Funkstille. Kein „Lüthi & Blanc“ für die Deutschen. Kein Einblick in den Schweizer Alltag für Deutsche. Ganz ganz selten kommen Spielfilme ins Deutsche Fernsehen, natürlich auf Hochdeutsch, die in der Schweiz gedreht wurden und ein ganz kleines Stück Lebenswirklichkeit der Schweiz widerspiegeln. Beispiel: Joachim Król in „Tod eines Keilers“. Der Film wurde erst in der Schweiz gezeigt, auf Schweizerdeutsch (Król wurde synchronisiert!), dann auf Hochdeutsch in Deutschland.

    Deutsche, die gern Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche oder Die Zeit lesen, sind in der Regel ein bisschen besser informiert über die Schweiz, denn alle grossen Tageszeitungen haben Korrespondenten in der Schweiz. So berichtet Konrad Mrusek für die FAZ aus der Schweiz, und Jürg Altwegg schreibt ebenfalls regelmässig für die FAZ aus der Schweiz. Der Schweizer Publizist Roger de Weck war 1997 bis 2001 Chefredakteur der ZEIT und schreibt auch heute noch ab und an für deutsche Zeitungen. Natürlich ist der Einfluss und die erreichte Zielgruppe einer Tageszeitung nicht zu vergleichen mit dem Fernsehen.

  • Schweizer Zeitungen und Schriftsteller in Deutschland
  • Ganz abgesehen davon haben Schweizer Zeitungen wie die NZZ oder die Weltwoche auch eine ganz ordentliche Leserschaft in Deutschland! Schweizer Autoren wie Urs Widmer, Markus Werner oder Martin Suter haben sicherlich mehr Leser in Deutschland als in der Schweiz, es kann also nicht viel dran sein an dem Vorwurf, dass wir Deutsche uns nicht für den Alltag und die Lebenswirklichkeit der Schweizer interessieren würden. Wieso werden sonst solche Bücher wie „Die dunkle Seite des Mondes“ (Martin Suter) gekauft, die in Zürich spielen und gespickt sind mit Lokalkolorit und Beschreibungen der Schweizer Alltagsgesellschaft?

  • Schweizer in Deutschland verheimlichen ihre Sprache
  • Fazit: Liebe Schweizer, hört auf uns Deutschen unsere Unwissenheit bezüglich der Schweiz und ihrer wundervollen Sprachvielfalt vorzuwerfen. Wer können zum Grossteil nichts dafür, denn Eure Fernsehsender werden uns in Deutschland einfach vorenthalten.
    Nur wer sich für die Schweiz interessiert, Zeitungen liest oder Bücher von Schweizer Autoren, wird sich mühsam sein eigenes Bild der Schweiz bereits in Deutschland machen können. Dabei fehlt natürlich die Erfahrung mit dem Schweizerdeutschen, denn jeder Schweizer, der nach Deutschland kommt und dort arbeitet (und das sind immerhin 70.000 Schweizer zur Zeit!), lässt sein heimatliches Idiom daheim. Wir kennen nur Emils Schweizerdeutsch, und das wird wohl für alle Ewigkeiten so bleiben.
    (Dazu morgen mehr).

    Darf es etwas mehr sein? — Weniger als auch schon

    April 16th, 2006
  • Neu alte Schweizer Redewendungen
  • Wir lasen im Blick-Online vom 7.4.06

    Die Schweizer „gügeln“ weniger als auch schon

    (Quelle Blick-Online)

    Über das „gügeln“ hatten wir uns gestern geäussert (vgl. Blogwiese), wenden wir uns nun der wunderschönen Formulierung „weniger als auch schon“ zu.

  • Is auch schön!
  • Es handelt sich hier um ein sprachliches Kuriosum der ganz besonderen Art. Die Bestandteile sind reines Schriftdeutsch, allein die Kombination der Wörter gibt uns Rätsel auf. Rätsel, die sich mit den üblichen Nachschlagewerken wie Duden oder Variantenwörterbuch nicht knacken lassen. Leider haben wir unseren wiederaufgelegten Duden-Schweiz (von Kurt Meyer) noch nicht erhalten, obwohl er ab dem 1. April ausgeliefert werden sollte. Vielleicht war es doch nur ein Aprilscherz? Wie schrieb der Leser MaxH noch zum nicht mehr lieferbaren alten Duden-Schweiz:

    Das ist ein echtes Schätzchen… dieser Duden, den gibt es gebraucht bei Amazon uk! Und kostet (ist als “low price” ausgewiesen!) 58,60 PFUND! Für ein Duden Taschenbuch! Ich denke, das Buch gibt es nicht, weil alle Schweizer sich eines in ihr Bankschließfach gelegt haben. Ca. 150% Wertzuwachs in drei bis vier Jahren, das macht kaum eine andere Anlageform! Link zum gebrauchten Duden bei Amazon hier
    (Quelle: Kommentar MaxH)

    Versuchen wir doch einmal, uns dem Satz „weniger als auch schon“ analytisch zu nähern. Das „schon“ am Ende ist der merkwürdige Teil. Vielleicht ist es eine abgekürzte Form von „zu Schonzeiten“ (des zu jagenden Wildes) oder „schon früher Mal“, oder „als auch schon wieder weiss ich nicht, wann das war“. Jedenfalls gibt es 235 Belege für diese Formulierung bei Google-Schweiz.

    Darunter der Tages-Anzeiger:

    Alles in allem wächst der Ausländeranteil weiter, wenn auch weniger als auch schon. Ende Mai lebten gut 1,5 Millionen Ausländerinnen und Ausländer hier, gut 1 Prozent mehr als ein Jahr vorher.
    (Quelle tagesanzeiger.ch vom 17.8.2005)

    Die Aargauer Zeitung v. 6.12.2005

    Dass Drogen konsumiert werden, wissen wir. Die gefundene Menge ist aber um einiges tiefer als bei der letzten Razzia im April. Ich habe nichts anderes erwartet: Dass Drogen im Umlauf sind, aber weniger als auch schon.
    (Quelle: züristyle.ch)

    Sogar die NZZ, sonst immer vorsichtig bei der Verwendung von Helvetismen:

    40 000 Zuschauer, weniger als auch schon, drohten am Samstag in kollektive Trauer zu versinken, weil Andreas Buder als Siebenter der Beste des ÖSV-Teams war.
    (Quelle: nzz.ch vom 23.01.06)

  • Spielen Schweizer auch mit Sprache?
  • Wir fragen uns langsam, warum wir diese Formulierung nicht früher entdeckt haben. Ob es einfach nur eine „Verballhornung“ von Sprache ist? Ein Wortspiel, das sich irgendwann verselbständigt hat? Es erinnert stark an so hübsche Ausrufe wie „je höher des fall“, oder „je tiefer desto platsch“, die auch mit radikaler Sprachreduktion arbeiten. Ausserdem denken wir bei dem Satz „als auch schon“ schnell an die qualitativ und quantitativ hochgradig wertvollen Urteile von alten Damen aus dem Ruhrgebiet, die auf die Frage, wie ihnen ihr letzter Urlaubsort gefallen hat, stets die Antwort parat haben: „Da is auch schön!?“, wobei die Stimme am Ende des Satzes leicht fragend und empört angehoben werden muss.

  • Von weitem näher als von schön
  • Auch dieser hübsche Ausdruck würde in die erwähnte Reihe passen. Natürlich ist das hier eine einfache Verdrehung des Satzes: „Von weitem schöner als von nah“, geäussert als höflich verklausulierte Beurteilung der Schönheit einer Vertreterin des weiblichen Geschlechts. Doch der Witz besteht gerade darin, die Verdrehung und nicht das Original zu äussern. Jetzt müssen wir passen und das Feld den gewieften Schweizer Linguisten und Sprachlehrern überlassen, denn wir „kommen einfach nicht draus“, ob es sich bei „weniger als auch schon“ um einen grammatikalisch und semantisch vollständigen Nebensatz handelt, oder ob es eine neue Entwicklung ist, mit Sprache zu spielen, die sich einfach verselbstständigt hat. Beobachten kann man das bei der häufig geäusserten Floskel „in keinster Weise“. Ursprünglich ein Witz, dann als „Elativ“ vollkommen akzeptiert, wie wir beim werten Kollegen Zwiebelfisch Bastian Sick hier nachlesen dürfen.