(reload vom 30.03.2007)
Paris im Ausnahmezustand
1987-88 verbrachte ich ein Jahr als „assistant de langue“ an einem Lycée in Paris, und nach ein paar Wochen Eingewöhnungszeit beschloss ich, ganz offiziell eine Aufenthaltsgenehmigung, eine „carte de séjour“ für Frankreich zu beantragen. Rein rechtlich war das schon damals nicht notwendig, weil ich mich als EG-Bürger in Frankreich aufhalten durfte, solange ich wollte. Nur um ein Girokonto zu bekommen, war dieser „titre de séjour“ mit eingetragener Wohnanschrift wichtig.
1. Nachmittag: Îsle de la Cité
Also fuhr ich an einem schönen Septembermittag nach der Schule ins Zentrum von Paris zur Îsle de la Cité, weil ich mich daran erinnert hatte, dass es dort eine grosse Polizeidienststelle gab. Ein Polizist hatte mir gesagt, dass man eine Carte de séjours bei jeder Polizeidienststelle ausgestellt bekommt. Im Jahr zuvor waren in Paris einige Bomben explodiert, die in Papierkörben am Strassenrand versteckte worden waren. Das hatten meinen deutschen Vorgänger an der Schule dazu bewegt, seine Stelle „aus Sicherheitsgründen“ lieber nicht anzutreten.
Es herrschte also immer noch „Ausnahmezustand“, und dementsprechend scharf waren die Sicherheitsvorkehrungen beim Betreten des Polizei-Gebäudes. Eine Metalldetektorschleuse am Eingang wie beim Flughafen, grimmig drein blickende Flics mit Maschinenpistole im Anschlag, dann stand ich am Empfangsschalter.
Sind sie über die Mauer in Berlin gesprungen?
(Original auf Französisch, hier übersetzt:) „Guten Tag, ich komme aus Deutschland und möchte gern eine carte de séjour beantragen“. Antwort: „Ist ihre Heimatland Mitglied der Europäischen Gemeinschaft?“ Kurz war ich verdattert und musste scharf nachdenken. Wusste die Dame das wirklich nichts von den Römischen Verträgen von 1957, den Gründungsstaaten der EWG und so weiter?
Doch halt, vielleicht dachte sie ja, ich käme aus der (damals noch sehr existenten) DDR! „Nein, ich bin nicht über die Mauer geklettert, ich komme aus der R.F.A“. Dann fragte sie, wo ich denn wohne und ich nannte den Vorort in der Banlieu von Paris. Dort musste ich mich hinwenden, an den Hauptort des „Département de l’Essone“. Der Hauptort ist Evry, und dorthin fährt man ab der Gare de Lyon. Sicherlich nicht mehr am gleichen Tag, denn es ging auf 16:00 Uhr zu.
2. Nachmittag: In Evry ist niemand zuständig
Am nächsten Tag nach der Schule fuhr ich zum Gare de Lyon und nahm von dort den nächsten Zug nach Evry. Unterwegs fiel mir plötzlich auf, dass die Zonen meiner Monatskarte nicht ausreichten für den Trip, denn Evry lag genau eine Zone weiter als ich eigentlich fahren durfte. Prompt geriet ich auch in eine Kontrolle, und um nicht zu viel Zeit zu verlieren, spielte ich den unbedarften nur Amerikanisch sprechenden Ausländer, der das mit den Zonen nicht blickt.
Ziemlich fiese Masche, aber erfolgreich. Weder der Kontrolleur noch sonst jemand im Zug konnte mir auf Englisch weiterhelfen, aber aussteigen musste ich trotzdem und kam ohne Strafe davon. Mit Nachlösen und in den nächsten Zug steigen verging soviel Zeit, dass ich erst um 15:30 Uhr in Evry den Weg zur Departements-Verwaltung erfragen konnte. Dort angekommen war es kurz vor Büroschluss. Immerhin erhalte ich noch die Auskunft, dass ich hier sowieso am falschen Ort war. Denn nicht der Hauptort meines Departements sei für die Aufenthaltsbewilligung zuständig, sondern die mir am nächsten gelegene Polizeidienststelle.
Also fuhr ich wieder heim, was in den Banlieus von Paris nicht so trivial ist, wie es sich anhört, denn alle Wege führen nach Paris, nicht „seitlich“ in die Nachbargemeinde, und so brauchte ich gut zwei Stunden und mehreren Buslinien dafür.
3. Nachmittag: Geburtsname und Beruf der Mutter bitteschön?
Am nächsten Nachmittag fuhr ich dann direkt zum nächsten Ort mit Polizeidienststelle. Ich hatte dort angerufen und mich erkundigt, ob ich man mir dort eine „carte de séjour“ ausstellen könnte. Nun, den Antrag wollten sie schon entgegennehmen, aber das mit der Carte, das geht ein bisschen länger. So fand ich mich dort ein, und ein netter Polizist begann auf seiner Schreibmaschine mit dem Ausfüllen des Formulars. Vorname des Vaters, Geburtsort der Mutter, Schuhgrösse des Grossvaters und was es nicht noch alles für Details einzutragen gab, das alles im „Einfinger-Adler-such-System„.
Als wir nebenbei auf Fussball zu sprechen kamen (irgendeine WM oder EM war gerade vorüber), taute er plötzlich auf und schien gar nicht mehr so interessiert daran zu sein, jedes Feld im Formular genauestens auszufüllen. Dann kam die Sichtung der von mir mitgebrachten Dokumente:
Kopie des Personalausweises. Kopie des Reisepasses. Kopie meiner „carte professionelle“ die mich als Bediensteter des Französischen Staates auswies, beglaubigte und übersetzte Kopie der Geburtsurkunde, des Abitur-Zeugnisses, Kopie der letzten Stromrechnung, der Krankenversicherung etc. etc. Ich war gut präpariert und hatte alles dabei. Auch die 5 gleichen und neuen Passfotos in schwarzweiss sowie zwei Briefumschläge, an mich selbst adressiert, mit Briefmarke versehen und, ganz besonders wichtig, „autocollante“, d. h. selbst klebend, damit sich kein Französischer Beamter die Zunge beim Ablecken verkleben muss.
Ich habe eine Récépissé de carte de séjour!
Nach gut einer Stunde verliess ich die Polizeidienststelle mit einem gefalteten und gestempelten Karte, mit Foto und Unterschrift, betitelt als „récépissé de carte de séjour“, also einer „vorläufigen Aufenthaltsbewilligung“. Die eigentliche Carte wurde mir dann nach 8 Monaten in Frankreich schliesslich postalisch angekündigt. Sie kam an, ein Tag bevor ich das Land wieder verlassen wollte, und war dann noch 3 weitere Monate gültig.
Jens-Rainer veut dire Jean-René
Mit diesem „récépissé“ konnte ich auf einer Pariser Sparkasse mit dem hübschen Namen écureuil = Eichhörnchen ein Konto beantragen. Frage: „Quel est votre prénom?“ Antwort: „Jens-Rainer“. Rückfrage: „Comment?“ Antwort: „Jens-Rainer, ca veut dire ‚Jean-René‘ en Français“.
Reaktion. „Alors je mets ‚Jean-René‘?“. Schade, dass ich in dieser Sekunde nicht schneller geschaltet habe, ich besässe sonst heute noch eine Caisse d’Espargne Ecureuil EC Karte mit „Jean-René“ statt „Jens-Rainer“. So leicht kann man seinen Namen ändern!
Köpenick is still alive!
Als ich später einem Pariser Freund die Geschichte erzählte, wie lange ich gebraucht hatte, um meine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen, begann er daraufhin seinerseits zu erzählen, wie er in Berlin versuchte hatte, sich an der Uni einzuschreiben. Das ging aber nur mit einem Krankenversicherungsnachweis. Den bekam man nur mit einem Girokonto bei einer Bank. Das wiederum erhielt man nur, wenn man an einem festen Wohnsitz in Berlin hatte. Er wollte in ein günstiges Studentenwohnheim einziehen. Ein Platz in einem Studentenwohnheim gibt es aber nur, wenn man korrekt an der Uni eingeschrieben war. Und einschreiben kann man sich nur mit Versicherungsnachweis. So ging das immer wieder von vorn los. Hauptmann von Köpenick lässt grüssen, er war damals noch sehr lebendig in der deutschen Bürokratie.