Nicht gähnen bitte — Wenn alles „so gäh“ ist
(reload vom 16.05.11)
Bei manchen Ausdrücken im gesprochenen Schweizerdeutsch sind die Gene des ehemaligen Bergvolkes noch deutlich zu spüren. Ein Bergvolk plagte sich dereinst ab an steilen Berghängen und Wiesen. Während im deutschen Flachland ein „steiler Zahn“ unter den Jugendlichen „Halbstarken“ in den Fünfzigern noch ein beliebter Ausdruck für ein hübsches Mädchen war, pflegen die Schweizer heutzutage in Erinnerung an die „steilen Lagen“ noch ein paar andere Ausdrücke für „steil“ zu verwenden:
„So gäh“ hörten wir in einem Gespräch zwischen jungen Zürchern in der S-Bahn, „so gäh“ sei eine Sache gewesen. Nein, sie sprachen gewiss nicht von der letzten Wanderung auf den Pilatus, dem Hausberg von Luzern.
Die Erklärung für diese Wort fand sich dann glücklich im Slangikon
(Quelle: Slangikon)
es gaht zümftig abe, gäch, högerig, schtotzig, schtötzlig, spitzig, zünftig
Nun, bei „zümftig“ und „zünftig“ sind natürlich die alten Zünfte mit im Spiel, die sich althochdeutsch noch mit „m“ schrieben als „Zumft“ (vgl. Wikipedia).
Hingegen „schtotzig“, „schtötzlig“ müssen eindeutig von besagten unbequemen Bergpfaden hergeleitet worden sein. Selbst unser Duden spricht dieses Wort den Alemannen zu:
stọtzig [alemann. stotzig = steil, zu: Stotz[e] = Hügel, Abhang] (bes. südwestd., schweiz.): steil: der Weg war stozig
(Quelle: duden.de)
Doch etwas fehlt in der Erklärung des Dudens, denn nicht der Weg allein war schtozig, schtotzlig oder stozig, sondern auch das letzte Event in Zürich, zumindest im Gespräch meiner S-Bahn Nachbarn. Oder sprachen die eventuell doch vom letzten Kletterwochenende?
Aber gäh? Es erinnert uns an „gähnen“, dem plötzlichen Maulaufreissen, was wir kaum unterdrücken können, am Ende einer durchtanzten Nacht. Dabei hat dieses Wörtchen, bevor es im Zürcher Slangikon der Jugendsprache auftauchte, schon gewaltige Karriere im Deutschen gemacht, wie ein Auszug aus Grimms Wörterbuch belegt:
1) rasch, von höchster schnelligkeit oder eile, mhd. die vorherschende bed., ahd. z. b. gâheჳ waჳჳer (…)
a) von stürzenden dingen, wie eben ahd.: platzregen oder geher regen (…)
der dick beschäumte flusz dringt durch der felsen ritzen
und schieszt mit gäher kraft weit über ihren wall. (…)
b) von menschen, thieren in bewegung, von allerlei thun überhaupt: ein gächs wenden im lauf, (…), man beachte den starken lat. ausdruck; darfst (brauchst) du nit ze eilen, so ist mir auch nit gäch. (…)
c) meistens und vielleicht ursprünglich rasch mit ungestüm, ‚überstürzung‘: preceps … ein geher, gar gech, der sich übergrift. (…)
e) auch als a d v . (wofür besser gach, s. d.): hoch kompt man nit gäh. (…)
2) steil abfallend.
a) mhd. zwar noch nicht belegt, aber sicher durch ahd. ‚gâhi abrupta‘ GRAFF 4, 129 und durch ein swinde gæhe, steile bergwand:
(Quelle: Grimms Wörterbuch)
Wir können nicht genug bekommen von diesen vielen Belegen in den unterschiedlichsten Schreibweisen. Die Verwandschaft von „gäh“ zu „jäh“, noch erhalten in „jähzorning“ wird deutlich.
jähzornig [spätmhd. gæchzornig] : zu Jähzorn neigend; sich in einer Anwandlung von Jähzorn befindend: ein -er Charakter; j. fuhr er auf.
(Quelle: Duden.de)
Und nun wird klar, dass wir mit diesem vermeintlich neuem Schweizerdeutschen Wort einfach ein sehr altes Deutsches Wort in der S-Bahn gehört und im Zürcher Slangikon wiederentdeckten hatten. Nebenbei bemerkt: Auch im Ruhrgebiet wird ein „jetzt“ zu „getzt“ verhärtet. Und getzt ist Feierabend.
Mai 16th, 2011 at 10:43
„gäch“ ja. Neben „zünftig, steil“ ist mit „gäch“ heutzutage auch einfach nur „krass“ gemeint.
Wenn jemand in der CH „gäh“ sagt, ist damit fast immer „geben / gegeben“ gemeint.