Woher kommt diese Verachtung für alles Deutsche?
März 9th, 2006Der zweite Weltkrieg endete für Deutschland am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation. Das ist demnächst 61 Jahre her. So alt ist also auch die historische Erfahrung der Schweizer, vom nördlichen Nachbarn bedroht worden zu sein. „Die Schweiz das kleine Stachelschwein, das nehmen wir auf dem Rückweg ein“ soll das geflügelte Wort der Deutschen Soldaten gelautet haben, als sie Frankreich besetzten und dabei über das Elsass in Richtung Süden an der Schweiz vorbei marschierten.
Kommt aus dieser Zeit die Angst vieler Schweizer vor den Deutschen? Ist es wirklich Angst, oder ist es mehr „Verachtung“, die sich vor allem dann lautstark äussert, wenn die Deutschen Fussballer gerade in irgend einem Meisterschaftsspiel gegen eine fremde Nationalmannschaft spielen? Dann schlägt das Herz für den Gegner der Deutschen, ganz egal ob der aus Brasilien, England oder einem Afrikanischen Staat kommt. Definiert sich das nationale Selbstverständnis, das Selbstvertrauen vieler Schweizer in der Besinnung auf alles „Schweizerisch“, das vor allem dadurch gekennzeichnet ist, das es „nicht Deutsch“ sein darf?
Wie sagte der Schriftsteller Hugo Loetscher in dem Film „Kniefall & Karneval“
Das hat natürlich mit einem Nationalismus zu tun, der sehr hartnäckig ist. Aber den man insofern verstehen kann, aus der Geschichte heraus, es war eine Selbstbehauptung, nicht, vor allem war das eben doch in den Dreissigern und dem Zweiten Weltkrieg, das man sich gegenüber Deutschland, also dem Nationalsozialismus behaupten musste, also behauptet man sich eben per „schweizerisch“, und plötzlich hat man eben Sachen als schweizerisch bezeichnet, die Schweiz als Qualitätsbegriff und nicht als Eigenschaft, ja eben als Eigenschaft genommen.
(Quelle: Kniefall & Karneval)
Und der Schweizer Philippe schrieb in einem Kommentar:
Das Problem: Man muss sich abgrenzen von dem, das einem am nächsten ist. Deshalb sträuben sich den Schweizern, hören sie hochdeutsch, gleich die Nackenhaare.
(Quelle)
Abgrenzen von dem, was am nächsten ist. Darin liegt vielleicht das Problem. Die eigenen Schwächen, Fehler und schlechten Charaktereigenschaften kann man am besten dadurch bewältigen, dass man sich ein Ziel für die Übertragung sucht: Die Schweizer mögen an den Deutschen genau jene Eigenarten nicht, die sie an sich selbst auch nicht mögen. Aber so schafft es wenigstens Erleichterung, wenn man sie beim anderen verachten kann.
Vielleicht müsst Ihr Deutschen einfach lernen, dass die Schweiz ein ganz normales Nachbarland mit einer eigenen Sprache und einer eigenen Kultur ist. Niemand käme auf den Gedanken, den Norwegern vorzuwerfen, sie sprächen eigentlich Dänisch, nur irgendwie falsch. Und es würde wohl zu grösseren Irritationen führen, wenn die Russen plötzlich erklärten, die Ukrainer sollten wieder mehr richtiges Russisch sprechen, weil das doch ihre Sprache sei. Das Vorurteil, dass die Schweizer eigentlich Deutsche seien, die das nur noch nicht begriffen hätten, schwingt bei vielen dieser Diskussionen unüberhörbar mit.
(Kommentar des Schweizers Peter)
Wir haben diesen Vorwurf häufig gehört und gelesen: Die Deutschen nehmen die Schweizer nicht für voll, die Deutschen glauben, dass „die Schweizer eigentlich Deutsche seien“ usw.
Der Leser Jonny schrieb:
Die Schweiz ist eben nicht das 17. Bundesland und Schweizerdeutsch nicht einfach ein Dialekt, sondern eine Sprache und deshalb hinkt der Vergleich mit dem Hamburger, der in Ba-Wü kein Schwäbisch spricht.
(Quelle)
Wir glauben, dass hier zwei Dinge miteinander vermischt werden. Man muss schon ziemlich belämmert sein und ohne Schulbildung, um durch die Welt zu laufen mit der Auffassung, die Schweiz sei so etwas wie ein „Teil von Deutschland“ und kein eigenständiges Land. Wir glauben gern, dass bei den Ballermann-Strand-Deutschen auf Mallorca solche Meinungen kursieren. Dort werden garantiert auch Kanadier für Amis gehalten, und Slowenen und Slowaken kommen aus dem gleichen Land. Gegen Ignoranz ist kein Kraut gewachsen, ausser das der Aufklärung.
Der Satz, dass „Schweizer eigentlich Deutsche“ seien bezieht sich unserer Meinung nach nur auf die Sprache: Das Schweizerisch zum deutschen Sprachraum gehört. Ob nun eigenständig oder nicht, als eigene „Sprache“ oder nur als „Dialekt“, darüber mögen sich die Sprachwissenschaftler streiten. Der Begriff „Sprache“ kennt in der Linguistik zahlreiche Definitionen, da mag sich jeder eine passende aussuchen. Die Sprachwissenschaftler sprechen hier von „Höchst-Alemannisch“:
Höchstalemannisch ist eine Gruppe von Alemannischen Dialekten, die im äussersten Südwesten des deutschen Sprachraums gesprochen wird.
(Quelle: Wiki)
Uns erstaunt bei dieser Diskussion oft die rigorose Abwehrhaltung mancher Schweizer gegenüber allem Deutschen. Die Angst, nicht für voll genommen zu werden. Die Angst, von Deutschen und ihrer Sprache vereinnahmt zu werden. Wir rätseln über die Herkunft dieses offensichtlichen Minderwertigkeitkomplexes, unter dem, Gott sei Dank, nicht alle Schweizer zu leiden scheinen, sonst gäbe es nicht 70.000 Auslandsschweizer in Deutschland, die auch in vielen Spitzenpositionen in Wirtschaft und Medien zu finden sind. (vgl. Blogwiese)
Diese Auslandsschweizer in Deutschland kommen wunderbar aus mit den nördlichen Nachbarn, sie werden auch nicht ständig als „Kuhschweizer“ belächelt, wenn sie nur ihren Fuss über den Rhein setzen. Den Ausdruck „Kuhschweizer“ kennt in Deutschland niemand.
Natürlich amüsieren sich die Deutschen, die neu in die Schweiz kommen oder nur zu Besuch hier sind, über echtes Schweizerdeutsch. Sie haben Freude dran, weil sie es nicht gewohnt sind, weil sie nur trockenes Hochdeutsch kennen und sonst wenig Varianten. Es gefällt ihnen auch ein deftiges Bairisch aus Oberbayern, oder sie gehen mit Freude in eine Vorstellung im „Millowitsch-Theater“ in Köln auf Kölsch. Wenn sie dann nicht mehr aufhören mit dem „Spass haben“, dann wird es erst kritisch. Der erste und wichtigste Satz, den man sich als Deutscher in der Schweiz merken sollte, lautet: „Denken sie immer daran: die Schweizer sprechen nicht so wie sie sprechen, damit Sie als Deutscher Spass haben“.
Doch zurück zur Ausgangsfrage:
Wir fanden einen gute Erklärung im neuen „Variantenwörterbuch des Deutschen“ (De Gruyter Berlin 2004), S.19:
Die Sprachsituation in der deutschen Schweiz ist geprägt vom Nebeneinander von Dialekt (Mundart) und Standardsprache (einer so genannten „Diglossie“). Im alltäglichen Verkehr unter deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizern wird fast ausschliesslich örtlicher Dialekt gesprochen. Nur in bestimmten formalen Situationen kommt die Standardsprache in ihrer spezifisch schweizerischen Ausprägung (Schweizerhochdeutsch) zur Anwendung. In vielen dieser Situationen stützen sich die Sprecher auf ein Manuskript. Das gilt für die Rede in einer Versammlung, die Voten der Politiker im Parlament, die Plädoyers der Anwälte vor Gericht, für die Predigt in der Kirche, Nachrichten und Kommentare im Radio und für die Vorlesung an der Universität.
So weit, so gut. Das hatten wir alles schon erwähnt und ausgiebig diskutiert. Jetzt kommt ein neuer Aspekt hinzu:
Das freie Gespräch in der Standardsprache ist fast ausschlieslich auf den Unterricht an Schule und Universtität und auf die Kommunikation mit Nicht-Dialektsprechern beschränkt. (…)
Das Standarddeutsche ist für die Schweizer jeglicher sozialer Herkunft vor allem Schul- und Schriftsprache. Dies hat grosse Auswirkungen nicht nur auf die Sprachfertigkeit in der Standardsprache, sonder auch auf den aktiven Wortschatz und die kommunikativen Fähigkeiten insgesamt. Die Schweizer und Schweizerinnen können sich in der Standardsprache relativ gut über alles unterhalten, was Thema des Schulunterrichts ist oder war. Dagegen fehlt vielen der präzise standardsprachliche Wortschatz, wenn es beispielsweise um das Essen oder die Küche, die Einrichtungsgegenstände in der Wohnung oder um das spontane Äussern von Emotionen geht (z. B. fluchen, trösten, loben, „Pillow-Talk“). Über solche, in schriftlichen Texten eher selten abgehandelten Belange sprechen die allermeisten deutschsprachigen Schweizer ausschliesslich im Dialekt, so dass die Umstellung auf die Standardsprache vielen schwer fällt. Mangelnde Übung mit der Erinnerung an Schulsituationen verursacht häufig eine gewisse Scheu vor dem Gebrauch der Standardsprache.
Wir finden das eine absolut überzeugende Argumentation: Negative Erinnerungen an fiese Lehrer, an Schulzwang, an Notendruck und das Gefühl, dabei überfordert zu sein, könnte der Grund für die negative Haltung zum Hochdeutschen sein. „Pillow-Talk“, das nennt man auch „Bettgeflüster“, darüber wurde im Deutschunterricht sicher nie gesprochen, das wurde auch nie aufgeschrieben, woher soll ein Schweizer das dann überhaupt auf Hochdeutsch können? Flüche schreibt man gleichfalls nicht auf, wie soll man sie also je auf Schriftdeutsch gelernt haben?
Jetzt sind wir erleichtert: Es hat weniger etwas mit der geschichtlichen Erfahrung zu tun, bei der jüngeren Generation schon gar nicht, als mit den persönlichen Erinnerungen an Schule und Lehrer, sowie dem Umstand, dass dort nicht alle Lebensbereiche gleich intensiv in der Standardsprache behandelt wurden, daher die Lücken im Wortschatz und die Ablehnung, sich auf Hochdeutsch zu äussern.