Woher kommt diese Verachtung für alles Deutsche?

März 9th, 2006
  • Woher kommt nur diese Verachtung für alles Deutsche?
  • Der zweite Weltkrieg endete für Deutschland am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation. Das ist demnächst 61 Jahre her. So alt ist also auch die historische Erfahrung der Schweizer, vom nördlichen Nachbarn bedroht worden zu sein. „Die Schweiz das kleine Stachelschwein, das nehmen wir auf dem Rückweg ein“ soll das geflügelte Wort der Deutschen Soldaten gelautet haben, als sie Frankreich besetzten und dabei über das Elsass in Richtung Süden an der Schweiz vorbei marschierten.

    Kommt aus dieser Zeit die Angst vieler Schweizer vor den Deutschen? Ist es wirklich Angst, oder ist es mehr „Verachtung“, die sich vor allem dann lautstark äussert, wenn die Deutschen Fussballer gerade in irgend einem Meisterschaftsspiel gegen eine fremde Nationalmannschaft spielen? Dann schlägt das Herz für den Gegner der Deutschen, ganz egal ob der aus Brasilien, England oder einem Afrikanischen Staat kommt. Definiert sich das nationale Selbstverständnis, das Selbstvertrauen vieler Schweizer in der Besinnung auf alles „Schweizerisch“, das vor allem dadurch gekennzeichnet ist, das es „nicht Deutsch“ sein darf?

    Wie sagte der Schriftsteller Hugo Loetscher in dem Film „Kniefall & Karneval“

    Das hat natürlich mit einem Nationalismus zu tun, der sehr hartnäckig ist. Aber den man insofern verstehen kann, aus der Geschichte heraus, es war eine Selbstbehauptung, nicht, vor allem war das eben doch in den Dreissigern und dem Zweiten Weltkrieg, das man sich gegenüber Deutschland, also dem Nationalsozialismus behaupten musste, also behauptet man sich eben per „schweizerisch“, und plötzlich hat man eben Sachen als schweizerisch bezeichnet, die Schweiz als Qualitätsbegriff und nicht als Eigenschaft, ja eben als Eigenschaft genommen.
    (Quelle: Kniefall & Karneval)

    Und der Schweizer Philippe schrieb in einem Kommentar:

    Das Problem: Man muss sich abgrenzen von dem, das einem am nächsten ist. Deshalb sträuben sich den Schweizern, hören sie hochdeutsch, gleich die Nackenhaare.
    (Quelle)

    Abgrenzen von dem, was am nächsten ist. Darin liegt vielleicht das Problem. Die eigenen Schwächen, Fehler und schlechten Charaktereigenschaften kann man am besten dadurch bewältigen, dass man sich ein Ziel für die Übertragung sucht: Die Schweizer mögen an den Deutschen genau jene Eigenarten nicht, die sie an sich selbst auch nicht mögen. Aber so schafft es wenigstens Erleichterung, wenn man sie beim anderen verachten kann.

    Vielleicht müsst Ihr Deutschen einfach lernen, dass die Schweiz ein ganz normales Nachbarland mit einer eigenen Sprache und einer eigenen Kultur ist. Niemand käme auf den Gedanken, den Norwegern vorzuwerfen, sie sprächen eigentlich Dänisch, nur irgendwie falsch. Und es würde wohl zu grösseren Irritationen führen, wenn die Russen plötzlich erklärten, die Ukrainer sollten wieder mehr richtiges Russisch sprechen, weil das doch ihre Sprache sei. Das Vorurteil, dass die Schweizer eigentlich Deutsche seien, die das nur noch nicht begriffen hätten, schwingt bei vielen dieser Diskussionen unüberhörbar mit.
    (Kommentar des Schweizers Peter)

    Wir haben diesen Vorwurf häufig gehört und gelesen: Die Deutschen nehmen die Schweizer nicht für voll, die Deutschen glauben, dass „die Schweizer eigentlich Deutsche seien“ usw.

    Der Leser Jonny schrieb:

    Die Schweiz ist eben nicht das 17. Bundesland und Schweizerdeutsch nicht einfach ein Dialekt, sondern eine Sprache und deshalb hinkt der Vergleich mit dem Hamburger, der in Ba-Wü kein Schwäbisch spricht.
    (Quelle)

    Wir glauben, dass hier zwei Dinge miteinander vermischt werden. Man muss schon ziemlich belämmert sein und ohne Schulbildung, um durch die Welt zu laufen mit der Auffassung, die Schweiz sei so etwas wie ein „Teil von Deutschland“ und kein eigenständiges Land. Wir glauben gern, dass bei den Ballermann-Strand-Deutschen auf Mallorca solche Meinungen kursieren. Dort werden garantiert auch Kanadier für Amis gehalten, und Slowenen und Slowaken kommen aus dem gleichen Land. Gegen Ignoranz ist kein Kraut gewachsen, ausser das der Aufklärung.

    Der Satz, dass „Schweizer eigentlich Deutsche“ seien bezieht sich unserer Meinung nach nur auf die Sprache: Das Schweizerisch zum deutschen Sprachraum gehört. Ob nun eigenständig oder nicht, als eigene „Sprache“ oder nur als „Dialekt“, darüber mögen sich die Sprachwissenschaftler streiten. Der Begriff „Sprache“ kennt in der Linguistik zahlreiche Definitionen, da mag sich jeder eine passende aussuchen. Die Sprachwissenschaftler sprechen hier von „Höchst-Alemannisch“:

    Höchstalemannisch ist eine Gruppe von Alemannischen Dialekten, die im äussersten Südwesten des deutschen Sprachraums gesprochen wird.
    (Quelle: Wiki)

    Uns erstaunt bei dieser Diskussion oft die rigorose Abwehrhaltung mancher Schweizer gegenüber allem Deutschen. Die Angst, nicht für voll genommen zu werden. Die Angst, von Deutschen und ihrer Sprache vereinnahmt zu werden. Wir rätseln über die Herkunft dieses offensichtlichen Minderwertigkeitkomplexes, unter dem, Gott sei Dank, nicht alle Schweizer zu leiden scheinen, sonst gäbe es nicht 70.000 Auslandsschweizer in Deutschland, die auch in vielen Spitzenpositionen in Wirtschaft und Medien zu finden sind. (vgl. Blogwiese)

    Diese Auslandsschweizer in Deutschland kommen wunderbar aus mit den nördlichen Nachbarn, sie werden auch nicht ständig als „Kuhschweizer“ belächelt, wenn sie nur ihren Fuss über den Rhein setzen. Den Ausdruck „Kuhschweizer“ kennt in Deutschland niemand.

    Natürlich amüsieren sich die Deutschen, die neu in die Schweiz kommen oder nur zu Besuch hier sind, über echtes Schweizerdeutsch. Sie haben Freude dran, weil sie es nicht gewohnt sind, weil sie nur trockenes Hochdeutsch kennen und sonst wenig Varianten. Es gefällt ihnen auch ein deftiges Bairisch aus Oberbayern, oder sie gehen mit Freude in eine Vorstellung im „Millowitsch-Theater“ in Köln auf Kölsch. Wenn sie dann nicht mehr aufhören mit dem „Spass haben“, dann wird es erst kritisch. Der erste und wichtigste Satz, den man sich als Deutscher in der Schweiz merken sollte, lautet: „Denken sie immer daran: die Schweizer sprechen nicht so wie sie sprechen, damit Sie als Deutscher Spass haben“.

    Doch zurück zur Ausgangsfrage:

  • Warum diese starke Ablehnung von Hochdeutsch?
  • Wir fanden einen gute Erklärung im neuen „Variantenwörterbuch des Deutschen“ (De Gruyter Berlin 2004), S.19:

    Die Sprachsituation in der deutschen Schweiz ist geprägt vom Nebeneinander von Dialekt (Mundart) und Standardsprache (einer so genannten „Diglossie“). Im alltäglichen Verkehr unter deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizern wird fast ausschliesslich örtlicher Dialekt gesprochen. Nur in bestimmten formalen Situationen kommt die Standardsprache in ihrer spezifisch schweizerischen Ausprägung (Schweizerhochdeutsch) zur Anwendung. In vielen dieser Situationen stützen sich die Sprecher auf ein Manuskript. Das gilt für die Rede in einer Versammlung, die Voten der Politiker im Parlament, die Plädoyers der Anwälte vor Gericht, für die Predigt in der Kirche, Nachrichten und Kommentare im Radio und für die Vorlesung an der Universität.

    So weit, so gut. Das hatten wir alles schon erwähnt und ausgiebig diskutiert. Jetzt kommt ein neuer Aspekt hinzu:

    Das freie Gespräch in der Standardsprache ist fast ausschlieslich auf den Unterricht an Schule und Universtität und auf die Kommunikation mit Nicht-Dialektsprechern beschränkt. (…)
    Das Standarddeutsche ist für die Schweizer jeglicher sozialer Herkunft vor allem Schul- und Schriftsprache. Dies hat grosse Auswirkungen nicht nur auf die Sprachfertigkeit in der Standardsprache, sonder auch auf den aktiven Wortschatz und die kommunikativen Fähigkeiten insgesamt. Die Schweizer und Schweizerinnen können sich in der Standardsprache relativ gut über alles unterhalten, was Thema des Schulunterrichts ist oder war. Dagegen fehlt vielen der präzise standardsprachliche Wortschatz, wenn es beispielsweise um das Essen oder die Küche, die Einrichtungsgegenstände in der Wohnung oder um das spontane Äussern von Emotionen geht (z. B. fluchen, trösten, loben, „Pillow-Talk“). Über solche, in schriftlichen Texten eher selten abgehandelten Belange sprechen die allermeisten deutschsprachigen Schweizer ausschliesslich im Dialekt, so dass die Umstellung auf die Standardsprache vielen schwer fällt. Mangelnde Übung mit der Erinnerung an Schulsituationen verursacht häufig eine gewisse Scheu vor dem Gebrauch der Standardsprache.

    Wir finden das eine absolut überzeugende Argumentation: Negative Erinnerungen an fiese Lehrer, an Schulzwang, an Notendruck und das Gefühl, dabei überfordert zu sein, könnte der Grund für die negative Haltung zum Hochdeutschen sein. „Pillow-Talk“, das nennt man auch „Bettgeflüster“, darüber wurde im Deutschunterricht sicher nie gesprochen, das wurde auch nie aufgeschrieben, woher soll ein Schweizer das dann überhaupt auf Hochdeutsch können? Flüche schreibt man gleichfalls nicht auf, wie soll man sie also je auf Schriftdeutsch gelernt haben?
    Jetzt sind wir erleichtert: Es hat weniger etwas mit der geschichtlichen Erfahrung zu tun, bei der jüngeren Generation schon gar nicht, als mit den persönlichen Erinnerungen an Schule und Lehrer, sowie dem Umstand, dass dort nicht alle Lebensbereiche gleich intensiv in der Standardsprache behandelt wurden, daher die Lücken im Wortschatz und die Ablehnung, sich auf Hochdeutsch zu äussern.

    Was pendelt denn da? Der Plämpel

    März 8th, 2006
  • Der Bembel ist kein Plämpel — Neue alte Schweizer Wörter
  • Bei der Winterolympiade in Turin gewinnt die Schweizerin Tanja Frieden die Goldmedaille, weil ihre Konkurrentin, die Amerikanerin Lindsay Jacobelli es sich bei uneinholbaren Vorsprung beim vorletzten Sprung nicht verkneifen konnte, noch rasch ein Showeinlage zu bringen, bei der sie dummerweise stürzte. Aus der Traum vom Gold. Eine Schweizer Fahrerin wäre nie auf die Idee gekommen, so arrogant noch schnell vor den anderen eine Showeinlage zu riskieren.

  • Hochmut kommt vor dem Fall
  • „In dem Fall“ wurde es ein Glücksfall für die Schweizerin, „im Fall“, die nun mit einer Medaille nach Hause fahren kann. Was lernen wir daraus? Bleibe ruhig und bescheiden, versuche nicht dich selbst in eine besseres Licht zu rücken, versuche nicht aufzutrumpfen. All dies sind typisch schweizerische Tugenden die hier eindeutig zum Sieg beigetragen haben.

    Tanja Frieden macht das zweite Gold perfekt
    «Das Glück der einen ist das Pech der anderen. Tanja hatte schon lange davon geträumt, und wir hatten darauf gehofft, dass sie einen Plämpel nach Hause bringt, aber dass es gerade ein goldener sein würde …»
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Was bringt sie da mit nach Hause? Einen „Plämpel“? Was ist das für ein Ding? Erinnert an den hessischen „Bembel“, oder „Geplänkel“. Alles falsch. In der Schweiz kennt man das Teil ganz genau, Google-Schweiz findet gleich auf Anhieb 58 Belege für Plämpel.
    Beim Wörterbuch von Wahrig Fehlanzeige, auch Langenscheidt hat keine Ahnung. Mit dem Duden haben wir ebenfalls diesmal kein Glück. Also müssen grössere Geschütze aufgefahren werden. Die 16 Bände des Grimms Wörterbuch sind gerade richtig. Grimms Wörterbuch kennt Plamper als Variante zu „pendel“:

    PLAMPER, m., basl. pendel, perpendikel SEILER 33a. vergl. plempel, plemper.
    PLAMPEN,BLAMPEN, verb., schweiz. freihangend, pendelartig sich langsam hin- und herbewegen, bampeln MAALER 318d. STALDER 1, 179. TOBLER 55b. SEILER 33a, dann nachlässig einhergehen, sich mühsam bewegen, langsam arbeiten, müszig, geschäftlos sein, faulenzen, überhaupt sich hin- und herbewegen, rutschen: die seiden (womit die wunde geheftet ist) hindert auch dero heilung, so sie hin und wider in den wunden plampet. WÜRTZ practica der wundartznei 10. vergl. bampeln, pampeln.

    So lassen wir ihn denn einfach pampeln, den Pämpel, und beschliessen, in Zukunft gleich den Grimm aufgeschlagen auf dem Tisch liegen zu lassen, wenn wir morgens den Tages-Anzeiger lesen. Wir haben ohne Nachschlagewerke hier im sprachlichen Exil sonst wenig Chancen.

    Flucht auf die Hochdeutsch-Insel — Das Zürcher Schauspielhaus

    März 7th, 2006
  • Wo spricht man in der Schweiz Hochdeutsch?
  • Es gibt nicht viele Orte, an denen in der Schweiz garantiert Hochdeutsch gesprochen wird. Im Deutschunterricht an den Schulen? Wir wollen es hoffen und fest dran glauben.

    1) In der Reformierten Kirche beim „Vater Unser“ Gebet. Bisweilen auch in der Predigt, wenn der Pfarrer ein Deutscher ist oder bekennender Hochdeutsch-Fan: „Ich spreche langsamer und konzentrierter, wenn ich auf Hochdeutsch predige“, sagte uns mal ein Schweizer Pfarrer.

    2) Als Kunden in einem Computer-Fachgeschäft werden wir immer auf Hochdeutsch bedient. Die Verkäufer wollen einen guten Eindruck machen und gekonnt fachlich beraten, also würden sie nie auf die Idee kommen, die Deutschen Kunden mit der Standardfrage „Verstehen Sie Schweizerdeutsch?“ zu Nahe zu treten. Würden wir auf Englisch fragen, wir sind sicher, die Beratung könnte in den meisten Fällen auf Englisch fortgesetzt werden.

    3) In Tourismus-Zeiten oder –Zentren werden Sie auch garantiert mit Hochdeutsch beglückt, denn Sie sind zahlender und gern gesehener Gast auf Durchreise, und sollen ja nächstes Jahr wiederkommen. Für den Wetterbericht „Meteo“ im Schweizer Fernsehen organisiert die Tourismus-Branche sicher irgendwann noch die Simultanübersetzung in der Hotel-Lobby, alles kein Problem.

    Und natürlich im Zürcher Schauspielhaus.

  • Ein geheimer Treffpunkt für Deutsche?
  • Wir lieben das Zürcher Schauspielhaus, diese „Insel des Hochdeutschen“ mitten in Zürich! Es scheint entweder der geheime Treffpunkt aller Deutschen in Zürich zu sein, oder die Schweizer geben, kaum dass sie das Haus betreten, alle ihre Dialektvarianten an der Garderobe zusammen mit den Mänteln ab und beginnen, einen Abend lang nur noch Hochdeutsch zu sprechen.

  • Montags für nur 30 Franken Theater satt erleben
  • Es gibt hier den genialen „Theater-Montag“, da kosten alle Plätze nur 30 Franken, und wenn Sie frühzeitig die Karten übers Internet buchen, reicht es sogar für Luxusplätze in den ersten 5 Reihen. Falls Sie weiter hinten sitzen, ist es auch nicht schlimm. Denn das Schauspielhaus in Zürich ist klein, kleiner als manche Provinzbühne in Deutschland. Und so hört man auch von hinten gut. Denn so weit hinten ist hinten gar nicht.

  • Theater ist wie Kino ohne Untertitel und in 3D

  • Wir haben hier weder unter dem letzten Intendanten Marthaler noch jetzt unter Matthias Hartmanns Leitung auch nur eine einzige langweilige Inszenierung gesehen. Bei Marthaler nervte uns nur manchmal die berühmte „Marthalersche Wiederholung“, wenn ein guter Gag nicht nur einmal kam, sondern im Laufe des Stückes gleich 4-5 Mal wiederholt wurde.

  • Das Schiff in „Was ihr wollt“
  • In „Was ihr wollt“ war auf der Bühne die Innenansicht eines Passagierschiffs zu sehen. Irgendwann gab es einen imaginäre Ruck und alles flog nach vorn zur Bühnenkante. Was war passiert? Das Schiff war aufgelaufen. Toller Einfall, toller Gag, die Illusion war perfekt, nur das dieser Gag dann noch ein paar Mal wiederholt wurde.

  • Der Schleudersitz in „Grounding“
  • Oder im Stück „Grounding“, das lange vor dem derzeitigen Kinofilm den Untergang der Swissair lustvoll inszenierte. Dort gab es einen „Schleudersessel“ auf Schienen, der alle paar Minuten mit Karacho durch die stets frisch neu verschlossen Pseudo-Holzwand sauste, auf unsichtbaren Schienen, mit jeweils einem anderen gefeuerten Aufsichtsrat als Passagier.

  • Handy bei Romeo und Julia
  • Jetzt unter Hartmann sahen wir „Romeo und Julia“, mit grandiosen Fecht-Szenen und einem Bühnenbild mit Wasserbecken, in denen fleissig geplanscht wurde. Mitten im Stück klingelt plötzlich im Publikum ein Handy, alles stöhnt auf. Der Nokia-Klingelton wird immer lauter, alles dreht sich nach dem Unhold um, der sein Handy nicht ausgeschaltet hat. Plötzlich hören wir Romeos Stimme über Lautsprecher als Combox, auf die seine Freunde vergeblich die entscheidende Nachricht sprechen. Romeo hört die Combox nicht ab, und so kommt es planmässig zur Katastrophe des Dramas.

  • Spielen gegen die Videowand bei Ivanow
  • Oder die Inszenierung von Tschechows „Ivanow“. Die Darsteller sind zugleich auf Video-Leinwänden und in Natura zu sehen, der Zuschauer weiss nie genau, ob das Videobild von einem Tape kommt oder gerade live von einer Kamera übertragen wird. Mitunter spielt Ivanow seine Rolle abwechselnd als Video und selbst, kommuniziert mit seinem Alter Ego auf der Leinwand.

  • Der nackte Adam im „Zerbrochenen Krug“

  • Das Stück „Der zerbrochene Krug“ beginnt im Foyer des Theaters, der Dorfrichter Adam steht im „Adamskostüm“ auf den Tresen der Garderobe und diskutiert über die Köpfe der Zuschauer hinweg mit seinem Schreiber Licht, der dann später solches in die Sache bringen wird. Auch hier sind Sie als Zuschauer gefordert, Sie sind Teil der Volksmenge im Gerichtssaal. Und als in der Verhandlung eine Pause angekündigt wird, steht das echte Publikum auf und will rausgehen, wie bei einer echten Pause, obwohl alles nur zum Spiel gehört.

  • Othello ohne Bühnenbild aber dafür live dabei
  • Beim Othello in der Spielstätte „Schiffsbau“ sitzt das Publikum ganz dicht am Geschehen, die Schauspieler in Alltagskleidern nehmen häufig zwischen den Zuschauern Platz. Es gibt kein Bühnenbild, die „Stückeinführung“ am Anfang geht nahtlos ins Stück über. Der Mohr ist nicht schwarz, gefochten wird ohne Degen aber mit Gesang, dafür gibt es zwischendurch echten Sekt für das Publikum, und über die Pause darf das Publikum demokratisch abstimmen. Das Stück ist aufregend, aufwühlend, witzig, schnell, ergreifend und packend, und am Ende sind fast alle tot.

  • Klatschen müssen Sie leider für drei
  • Kurzum, gehen Sie einfach mal ins Schauspielhaus in Zürich. Sie werden es nicht bereuen. Ein Fest für alle Sinne erwartet Sie. Doch an eins können wir uns in Zürich nicht gewöhnen: Den mageren Applaus. Die Schauspieler geben ihr Letztes, verausgaben sich einen Abend lang für ihr Publikum, und die Zürcher? Die klatschen so müde und gelangweilt, als ob sie soeben einem 65jährigen Alleinunterhalter im Altersheim zugehört hätten, und nicht einer grandiosen Theatertruppe. Also müssen Sie einfach für drei Personen klatschen, mit den Füssen trampeln, laut „Bravo“ rufen, und am besten noch Blumen mitbringen, die sie auf die Bühne werfen können. Schauspieler lieben das, und in Zürich haben die das auch echt verdient.

    Fremdsprache Deutsch — Helfen kann nur der Psychiater

    März 6th, 2006

    Unter der Überschrift „Fremdsprache Deutsch“ schreibt der Schweizer Journalist Mathieu von Rohr in der Zeitschrift „Das Magazin“ Ausgabe 06-2006 auf Seite 14:

    „Die Deutschschweizer entfremden sich vom Hochdeutschen und verkriechen sich im Dialekt. Helfen kann nur der Psychiater“.

    Fremdsprache Deutsch

    Wenn man Deutschschweizer Kinder beobachtet, wie sie durchs Wohnzimmer rennen und das geschliffene Hochdeutsch der Fernsehserien nachahmen, kann man sich nur schwer vorstellen, dass sie einst ein hochproblematisches Verhältnis zu dieser Sprache entwickeln werden. Aber der Weg ist ihnen vorgezeichnet, es gibt kein Entrinnen: Eines Tages werden sie zur Schule gehen müssen, und dort werden Lehrer auf sie warten, die selber Mühe haben mit dem Hochdeutschen, und die in die Mundart wechseln, wann immer möglich.
    (Quelle aller Zitate: Das Magazin 06-2006)

    Noch ein Bruder im Geiste! Wie oft haben wir das in 5 Jahren in der Schweiz als Deutsche beobachtet: Je jünger die Kinder, desto unbefangener haben sie automatisch auf Hochdeutsch mit uns gesprochen, so wie sie es aus der „Sendung mit der Maus“ oder von Peter Lustigs „Löwenzahn“ her kannten. Und wie oft haben wir selbst bei ausgebildeten Lehrern vermisst, dass sie mit uns Deutschen in der Sprache kommunizierten, die sie laut Anweisung der Eidgenössischen Erziehungsdirektion von Jahr zu Jahr früher im Primarschulunterricht verwenden sollten. Schriftdeutsch im Unterricht wurde stets von oben diktiert, aber konsequent dran gehalten haben sich wenige. Warum auch, Hochdeutsch mit den Kindern zu sprechen, das sei ein „Rohrkrepierer“, sagte ein Primarschullehrer zu uns.

    Hier, in der Schule, lernen die Kinder, dass Hochdeutsch etwas Schwieriges und Fremdes ist. Sie lernen, dass Hochdeutsch den Deutschen gehört, dass die Schweizer es von den Deutschen nur zum Schreiben ausleihen und es sowieso nie so gut beherrschen werden wie die. Sie lernen, dass es unschweizerisch ist, so Deutsch zu sprechen wie die Leute im Fernsehen. Es dauert nicht lange, bis die kleinen Schweizer jede Freude an der deutschen Sprache verloren und diese ungesunde Mischung aus Verachtung und Bewunderung erlernt haben, die man als Schweizer einem geschliffen sprechenden Deutschen gegenüber zu empfinden hat.

    Wenn es nicht positiv vorgelebt wird durch Lehrer und Medien, dass es schick und cool sein kann, sich auf Hochdeutsch zu verständigen, und dass das praktische Beherrschen dieser zweiten Muttersprache nicht nur für das Schreiben nützlich ist sondern auch relativ einfach lernbar, dann wird Deutsch von den Kindern eben bald als „schwierig“ empfunden und verachtet.

    Wir können immer schlechter Hochdeutsch, und schlimmer noch, es scheint uns nicht zu kümmern. Viele Schweizer sind seltsam stolz auf ihre sprachliches Unvermögen, ist es doch der Beweis dafür, dass wir sind, wer wir sind, vor allem aber, dass wir anders sind als die. Es scheint zwar seltsam, sich über etwas zu definieren, das man nicht kann, aber etwas Besseres bleibt uns offenbar nicht: Das unbeholfene Deutsch macht uns Schweizer erst zu Schweizern.

    Auch die Schwaben sind stolz auf ihre sprachliches Unvermögen. Sie machen Werbung mit dem Satz „Wir können alles – ausser Hochdeutsch“ und würden dennoch nicht auf die Idee kommen, in einem Vorstellungsgespräch für eine Lehrstelle in Stuttgart etwas anderes zu sprechen als geschliffenes Hochdeutsch, so weit möglich, um die gute Schulbildung damit unter Beweis zu stellen.

    Das Problem ist aber nicht der Dialekt an sich. Die Sprachforschung hat gezeigt, dass es Kindern Vorteile beim sprachlichen Ausdruck verschaffen kann, wenn sie mit Dialekt und Hochsprache zugleich aufwachsen. Die Schweizer sind mit ihrem Dialekt auch nicht der Sonderfall, der sie so gerne wären. Hunderttausende von Kindern wachsen in Deutschland mit Dialekten auf, sprechen zu Hause erst Badisch, Hessisch, Kölsch oder Platt und müssen Hochdeutsch genauso in der Schule lernen wie die Schweizer. Aber während in Deutschland der Dialekt ein schlechtes Image hat und als Sprache der Ungebildeten gilt, ist es in der Schweiz genau umgekehrt: Der Dialekt wird verherrlicht, Hochdeutsch abgelehnt. Hier liegt das Problem. (…)

    Wer in Hochdeutsch ungeübt ist, dem fällt es selbstverständlich schwer, sich darin präzise auszudrücken. Weil wir also kein Hochdeutsch können, ist es eine Fremdsprache, und weil es eine Fremdsprache ist, müssen wir es auch nicht besser beherrschen.

    Was dabei untergeht, ist jegliches Vermögen, sich in einer Schriftsprache auszudrücken. Abgesehen von der immer grösseren Geschwindigkeit, die Schweizer Jugendliche dabei entwickeln, wenn sie im Dialekt SMS schreiben oder emailen. Wir haben in vier Jahren Primarschulzeit in Bülach vermisst, dass auch nur ein einziges Mal ein zusammenhängender Text im Deutschunterricht geschrieben werden musste: Kein Aufsatz „Mein schönstes Ferienerlebnis“, keine spannende Nacherzählung, keine Entfaltung der freien Fabulierlust, all das wurde von den Kindern nicht gefordert. Höchstens mal ein Lückentext mit einer Einsetzübung.

    Kaufmännisches Rechnen wurde ausgiebig geübt, schliesschlich wollen alle ins KV. Die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken in dieser „Fremdsprache Deutsch“, ist kein Thema. Zum Glück gibt es ja die Schweizer Blogger, die uns täglich davon überzeugen, dass es noch Schweizer gibt, die Spass daran haben, sich in der Schriftsprache gekonnt zu äussern. Obwohl auch hier die Dialekt-Blogger-Welle rollt.

    Mathieu von Rohr kommt zum Schluss:

    Unser Verhältnis zum Hochdeutschen ist weniger ein Fall für die Pädagogen als einer für den Psychiater. Gegen die Vorbehalte, die inneren Blockaden, die deutschfeindlichen Reflexe, die zu dieser Deutschschweizer Sprachneurose geführt haben, kommt frühes Hochdeutsch in Schule und Kindergarten nicht an. Und doch ist es natürlich ein richtiger Schritt – vorausgesetzt, der Gebrauch des Hochdeutschen wird mit aller Konsequenz durchgesetzt. Trotz unwilliger Schüler, Lehrern und Eltern. Ist dieser Kraftakt geschafft, können vielleicht wenigstens unsere Kinder lernen, Hochdeutsch, die Sprache Frisch und Dürrenmatts, als das Eigene zu akzeptieren und nicht länger als das Fremde zu verteufeln. Vielleicht gar: Hochdeutsch zu lieben. Die Schweiz würde dran nicht zu Grunde gehen. Schon eher aus dem gegenteiligen Grund. Man kann nicht auf Dauer mit einer Sprache leben, die man verachtet.

    Das konsequente Durchsetzen des Hochdeutschen, daran hat es uns immer gefehlt in den Bülacher Primarschulen. Dort wurde auf Dialekt gesungen, wurden die Leitmotive für das Handeln der Lehrer auf Dialekt im Treppenflur an die Wand gehängt, wurde mit den Kindern auf Dialekt Theater gespielt. Alles verpasste Gelegenheiten, spielerisch und vorbildhaft Standarddeutsch zu üben und zu gebrauchen. Leider Fehlanzeige.

    Der Artikel von Mathieu von Rohr löste übrigens eine Flut von Leserbriefen aus, zustimmend wie ablehnend. Bis hin zu einer im Dialekt geschriebenen Aufforderung an den Autoren, doch für immer das Land zu verlassen.

  • Aufruf an die Schweizer: Sprecht Hochdeutsch!
  • Wir sind überzeugt davon, dass die Schweizer besser Hochdeutsch und Schriftdeutsch und Standarddeutsch sprechen und schreiben, als sie selbst glauben. Wir haben viele Schweizer kennengelernt, die es uns gekonnt vormachten, ohne mit der Wimper zu zucken. Schaut euch doch die vielen lesenswerten Schweizer Blogs an!

    Diejenigen, die erst nur Schweizerdeutsch mit uns sprachen, trauten sich nach ein bisschen Ermutigung gleichfalls, ihr Hochdeutsch zu praktizieren. Es ist doch alles nur eine Sache des Selbstvertrauen und der Übung. Lasst Euch doch nicht einreden, dass ihr es nicht könnt! Die Deutschen sind doch auch nicht alle perfekt in Sachen Grammatik und Rechtschreibung.

    Nehmt jede Gelegenheit war und sprecht Hochdeutsch mit Deutschen! Schlagt deren Aufforderung „Sie können ruhig Schwiizerdütsch sprechen“ einfach in den Wind und sprecht weiter Hochdeutsch mit Ihnen! Deutsch ist auch Eure Sprache, eure zweite Sprache. Ihr habt sie nicht von den Deutschen ausgeliehen nur zum Schreiben, ihr teilt sie Euch doch mit Ihnen. Und warum sollen die Deutschen diese wunderbare Sprache einfach so für sich alleine besitzen? Pflegt Eure Zweisprachigkeit wo ihr könnt und lasst Euch nicht hollandisieren!

    Gisplig, gispelig und Dizzy Gillespie

    März 5th, 2006
  • Gisplig oder gispelig?
  • Am 16.02.06 lasen wir im Tages-Anzeiger den schönen Satz:

    „Er begrüsste nicht die zwanzig Medienleute, die die Szene völlig beherrschen. Nein, dieser laute, gisplige Medienpulk ist im 1000-Seelen-Dorf Aesch fehl am Platz.“

    Der Gisplige Medienpulk
    Jetzt wird es schwierig. Wie lässt sich rausfinden, was „gisplig“ bedeutet? Im Duden ist es nicht zu finden, nur Google bringt ein paar Belege, die Teils mit e wie „gispelig“, Teils ohne e wie „gisplig“ geschrieben werden.
    Nur im Wörterbuch der Brüder Grimm findet sich ein Eintrag.
    Der Gispel:

    GISPEL, m., süd- und westmitteldt. wort, vgl. gispel ‚kind, das mit füszen und händen nie ruhig ist‘ MARTIN-LIENHART 1, 240a, ‚unruhiger mensch mit fast fieberhaft lebhaften bewegungen‘ STAUB-TOBLER 2, 482; anders, vielleicht in mischung mit gimpel, ‚halbnärrischer, dummer mensch, einfaltspinsel‘ UNGER-KHULL steir. 293b, ‚eitler …, geistig minderwertiger mensch‘ rhein. wb. 2, 1245; so auch seit dem 17. jh. literarisch belegt bei obd. autoren im sinne von ’narr, dummkopf‘, meist mit gutmütig-jovialem unterton: ein einfältiger gispel thäte sich mit einer schönen, doch verruften und beschreiten dirn … in eheverlöbnis ABELE V. LILIENBERG gerichtshändel 2 (1658) 78; du unbesunnener gispel ABR. A S. CLARA Judas 1 (1686) 222; ja, sag ich zu mir, bist ein schöner gischpel, willst andern leuthen ein vollgschancktes tintenfassl verehrn und kanst selber itze ninx schreybn J. J. SCHWABE tintenfässl (1745) A 3b; potzblitz! … sieht er nicht, gispel, dasz wir unserer sieben sind? L.
    (Quelle: Grimms Wörterbuch)

    Es muss also „nervös“ und „unruhig“ bedeuten, und wie wir bei Grimm lesen, dies bereits seit dem 17. Jh. und noch länger.
    Ob die unruhige Spielart von Dizzy Gillespie auch etwas mit diesem „Gispel“ zu tun hat? Aber da stehen die Ls ja vorn und nicht hinten, also sicher keine Verwandschaft.