Wer immer nur 120 km/h fahren darf wird aggressiv? — Autofahren in Deutschland und in der Schweiz
März 27th, 2006Eine der angenehmsten Errungenschaften der Schweizer ist die Höchstgeschwindigkeit 120 km/h auf der Autobahn. Wir berichteten bereits darüber, dass diese Festlegung das Ergebnis eines Kompromisses war. Gefordert wurde damals Tempo 100 (siehe Blogwiese), realisiert wurde schliesslich Tempo 120.
Die Schweiz ist von Nord nach Süd in 2 Stunden und 50 Minuten durchquert, so lange dauert es laut Routenplaner bei Tempo 120, die 286 Km von Basel nach Chiasso zurückzulegen. Auch mit Tempo 130 oder 150 würde sich diese Zeit nicht wesentlich verkürzen, aber sicher stressiger werden. Fragen wir uns also, ob dieses ewige „gedrosselte Fahren“ die Schweizer irgendwann aggressiv werden lässt. Wir glauben eher nein. Sie fügen sich in ihr Schicksal und empfinden es als angenehm, keine „Catch me if you can“ Rennen mit 180 km/h durchführen zu müssen, wie wir sie in Deutschland oft erlebt haben.
Wir erleben auf Deutschen Autobahnen wesentlich stressigere Situationen. Dort gibt es zwar auch vielerorts Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber sobald man zwischen Freiburg im Breisgau und Basel am Autobahndreieck Mulhouse vorbei ist, wird die letzte Begrenzung aufgehoben und alle beginnen, bis zur Grenze noch mal tüchtig auf die Tube zu drücken und das Letzte an Pferdestärken aus ihren Boliden herauszuholen. Dabei ist die Autobahn von Basel nach Karlsruhe lange Jahre nach der Wiedervereinigung in einem bemerkenswert schlechten Zustand geblieben:
Betonplatten, die ständig unter der Last des Schwerverkehrs (als er noch ohne Maut kostenlos möglich war) zerbrachen und provisorisch geflickt werden mussten, erlaubten es nicht, dass schneller als 120 km/h gefahren werden konnte. Warum? Weil sonst viele Fahrzeuge durch die starken Erschütterungen ihre Ladung zu verlieren drohten, und sei es nur den Auspuff, was auf einer Autobahn schnell zu gefährlichen Situationen und Unfällen führt. Einmal verlor sogar ein Sattelschlepper seinen Hänger, nur wegen der Löcher in der Fahrbahn. Das Geld für den Ausbau wanderte in den „Aufbau Ost“, denn dort sah es noch schlimmer aus. Heute sind die Autobahnen nach Berlin perfekt und so nach und nach konnte auch im Südwesten Deutschland etwas getan werden.
„Freie Fahrt für freie Bürger“ nennt man dieses Prinzip in Deutschland, nichts ist so mächtig wie die Autolobby, allen voran der mitgliederstarke Allgemeine Deutsche Automobil-Club ADAC. Man muss sich das mal klarmachen: Dieser Verein hat über 15 Millionen Mitglieder, also doppelt so viel wie die Schweiz Einwohner! Der Spruch „Freie Fahrt für freie Bürger“ wurde übrigens vom ADAC am 28.02.74 als Autoaufkleberaktion ins Leben gerufen:
Diese Aktion zog eine Protestwelle und viele Austritte nach sich, da sich viele Mitglieder mit der aggressiven Pro-Autopolitik des Vereins nicht einverstanden erklärten. Dabei ist aber zu bedenken, dass der ADAC keineswegs nur die Interessen der in ihm organisierten Autofahrer vertritt, sondern auch die Interessen ihm nahe stehender Organisationen und Unternehmen wie der Automobilindustrie, Sachverständigen und Fahrschulen.
(Quelle: Wiki)
Der Erfolg des ADACs in Deutschland liegt zum grossen Teil darin begründet, das viele Menschen glauben: Nur wenn ich dort Mitglied bin, bekomme ich Pannenhilfe. Das ist natürlich Quatsch, und jede Versicherung bietet heute einen wesentlich billigeren Pannenschutz an, als ihn der ADAC zusätzlich zur Mitgliedsgebühr in Rechnung stellt.
Jede Nacht tummeln sich auf den schnurgeraden Autobahnstrecken rund um Frankfurt, die zum Teil vierspurig ausgebaut wurden, Testfahrzeuge von Herstellern aus der ganzen Welt, die hier ganz legal und kostenlos ihre Fahrzeuge mit 250 Km/h ausfahren können, ohne dafür ein Testgelände unterhalten zu müssen.
Der Blogwiese-Leser Chrugail schrieb als Kommentar zu der Frage: „Warum die Schweizer die Deutschen nicht mögen?“:
Aus Erfahrung…
– wenn dich Jemand bei 140 auf der Autobahn anschiebt, ist es ein Deutscher (…)
Wir nehmen an, dass ihm das „angeschoben werden“ in Deutschland widerfahren ist. Wir haben sowas in der Schweiz nicht erlebt, stellen aber generell fest, dass Mindestabstände in der Schweiz genauso wenig wie in Deutschland eingehalten werden. Leider reichen bei 120 km/h keine 15 Meter für eine Bremsung, sollte der Vordermann plötzlich einen geplatzten Reifen haben oder aus einem anderen nichtverschuldeten Grund die Kontrolle über sein Fahrzeug verlieren.
Nochmals Chrugail:
Die grössten Unterschiede fallen mir beim Autofahren auf – wenn Ich in Deutschland in einer 70 km/h-Zone(ausserorts) mit 82 km/h unterwegs bin, werde ich dauernd überholt – in der Schweiz bin ich einer der schnellsten. Und in Deutschland entspricht ein Stopp-Schild offenbar einem schweizerischen “Kein Vortritt”-Schild. Und für einem Deutschen zu, der in der Schweiz geblitzt wurde –
wie letzthin mein Schwager … 😉
Ich halte das für persönliche Wahrnehmungen, die sich genauso auch in der Schweiz machen lassen. Auf der neuen Autobahn von Bern nach Lausanne fährt niemand 120 km/h, denn dort lässt sich weit voraus jede Radarfalle leicht erkennen. Und zwischen Lausanne und Genf empfinden wir den Berufsverkehr als besonders dicht, stressig und schneller als 120, auch wenn nicht unbedingt mehr Deutsche dort unterwegs sind, sondern eher viele Franzosen und Romands.
Und was das Überholen in einer 70 km/h Zone angeht: Das passiert mir jeden Morgen in einer Industriezone bei Zürich, in dem Tempo 60 vorgeschrieben ist und alle mit 80 an mir vorbeirauschen, nur weil die Strecke kurz zweispurig ist.
Die Beobachtung mit dem Stopp-Schild können wir ebenfalls nicht teilen, denn das kriegt man in einer Fahrschule in Deutschland besonders eingetrichtert:
Rote Ampel, Zebrastreifen und Stoppschild, wer da nicht hält kassiert viele Punkte in Flensburg und ist rasch seinen Lappen los. (vgl. Blogwiese) und dann ist es vorbei mit „Freie Fahrt für freie Bürger“.