Wo es Aufsteller gibt, gibt es auch Ablöscher — Neues aus der Schweizer Alltagssprache

August 29th, 2010

(reload vom 7.3.07)

  • Eine Mannschaft kann man aufstellen
  • Vor langer Zeit fragte ich auf der Blogwiese „Soll ich sie aufstellen?“ Ich war damals weder als Fussballtrainer damit beschäftigt, eine Mannschaft von guten Kickern „aufzustellen“, noch musste ich auf dem Bürgersteig (so heisst das trottelige Trottoir im Alltagstrott in Deutschland. Sie wissen schon, die steigen auf alles, die Bürger) „Aufsteller“ wie diesen

    Aufsteller

    platzieren. Ach ja, und an den Verkauf von Viagra denkt auch niemand in der Schweiz, wenn er nach einem guten „Aufsteller“ fragt, denn „Aufsteller“ sind „aufgestellte Leute“, und von denen wimmelt es nur so in Schweizer Kontaktanzeigen und Internetforen.

  • Ablöschen ohne Wein
  • Jetzt endlich, nach so langer Zeit, haben wir erfahren, wie in der Schweiz das Gegenteil eines echten „Aufstellers“ genannt wird. Es ist ein „Ablöscher“. Nein, kein Koch, der beim Kochen den Braten mit kalter Flüssigkeit ablöscht. So findet sich das Wort auch im Duden:
    ablöschen:

    3. a) (einen Brand) löschen: das Feuer konnte erst am Morgen abgelöscht werden;
    b) (Kochkunst) einer Sache kalte Flüssigkeit zusetzen: das angebratene Fleisch mit einem Glas trockenem Weißwein ablöschen.
    (Quelle: duden.de)

    Es gibt auch noch die Verwendung „die Tafel ablöschen“, wenn sie mit mit einem Schwamm oder Tuch saubergewischt wird, bzw. „die Tinte mit einem Löschblatt ablöschen“. Doch welches Kind weiss heutzutage noch, was Tinte und Löschblätter sind, wenn in der Schweiz die Löschtaste mit „Delete“ beschriftet ist und an Zerstörung denken lässt. So hübsche IBM-Deutsch Übersetzungen wie „Rücklöschtaste“ (= Backspace) oder „Wagenrücklauftaste“ (=Enter) haben sich die Schweizer auf ihren PC-Tastaturen aus Rücksicht auf die Romandie gar nicht erst geleistet. Auch eine „Einf“ = Einfügetaste heisst hier wie in England „Ins“ wie „Insane“.

  • Heimstätten des Ablöschers
  • Zurück zum Ablöscher. Lassen sich da Belege für finden?
    Bei Wikipedia gibt es sogar eine Abteilung „Seelenstrip“, welche nach dem „grössten Ablöscher der letzen Zeit fragt“.
    Ablöscher bei Wikipedia
    (Quelle: de.wikipedia.org)

    Nein, um Bratenrezepte oder den letzten Einsatzbericht der Freiwilligen Feuerwehr geht es hier ganz bestimmt nicht. Die haben echt praktische Wörter in der Schweiz, denn wie könnte man sonst zu einem Menschen oder Erlebnis sagen, das einen so richtig stimmungsmässig in den Keller bringt? Ein „Fertigmacher“? Ein „Abtörner“? Ein „Frank Baumann“? So langsam fühlen wir uns wie in einem Fortbildungseminar für creative Barmixer, die vom „Absacker“ genug haben.

    Wir fanden das Wort sogar in einem sprachkritischen WatchBlog:

    Zu hoffen bleibt, dass das “trendige” neue Lokal trotz seiner Marketingkampagne einen anständigen Espresso anbietet. Alles andere wäre Ablöscher pur.
    (Quelle: wortreich.nightshift.ch)

    Auch im filmblog.ch wir fleissig gelöscht:

    Nicht nur ich empfinde das als Ablöscher, auch Oliver hat darüber klar ihren Unmut erklärt.
    (Quelle: www.filmblog.ch)

    Ob Oliver eine Frau ist, liess sich in diesem Artikel nicht genau herausfinden. Wird wohl.

  • Wie löschen die Deutschen ab?
  • Wenn man in Deutschland nicht „ablöscht“, wie würde man das sonst ausdrücken? Gibt es das Wort „abtörnen“ als neudeutsches Gegenteil von „to turn up“ eigentlich noch? Ja hoppla, sogar der Duden hat es verzeichnet:

    1. abtörnen ( ugs. für die Laune verderben; verdrießen)
    2. abtörnen (sw. V.; hat) (ugs.): aus der Stimmung bringen.

    Aber ist das wirklich von der Bedeutung her mit einem „Ablöscher“ vergleichbar? Man spürt bei diesem Wort geradezu den kalten Schwall Wasser, den man über den Nacken geschüttet bekommt, um nur ja das kleinste glimmende Stimmungselement abzulöschen.

  • Der Ablöscher muss in den Duden!
  • Wir werden gleich heute noch einen Brief an die Dudenredaktion schreiben und um Aufnahme dieses hübschen Nomens in den Duden bitten, es hätte es verdient! Nicht einmal im Züri Slängikon findet sich das Wort. Die meisten Schweizer sind sich wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass sowohl der „Aufsteller“ als auch der „Ablöscher“ etwas sind, dass es im Gemeindeutschen völlig unbekannt ist. Höchste Zeit dass sich das ändert.

  • Abstellen ist auch eine Methode des Ablöschens
  • Unser Variantenwörterbuch setzt sogar noch eins drauf: Der „Absteller“, neben dem Ablöscher ein „Anlass für schlechte Laune“. Ob das aus der Zeit stammt, als die Eltern den zu laut angestellten Plattenspieler einfach abstellten? Oder die Stereoanlage, und dadurch der Haussegen schief hing?
    Zitat aus dem Variantenwörterbuch:

    Wenn sie vor dem kollektiven Theaterbesuch mit der Klasse noch ein ein Reclam-Büchlein lesen und später einen Aufsatz schreiben müssen, ist das für viele der totale Ablöscher (Tages-Anzeiger 24.2.1999, S. 21)

    Wir sollten jetzt endlich erklären, dass in der Schweiz das Licht nicht „ausgemacht“ sondern eben „abgelöscht“ wird. Bestimmt ist das der Ursprung dieses Stimmungsdämpfers. Mitten im schönsten „Was-auch-immer-Gefummel“ löschte jemand das Licht ab. Der „Ablöscher“ war geboren und gesellte sich zu dem Fiesling, der die Musik abstellte, dem „Absteller“. Warum gibt es diese Wörter nur in der Schweiz? Vielleicht weil die dazu passende aussersprachliche Wirklichkeit, die sie beschreiben, auch nur hier existiert? Licht aus, Musik aus und fertig ist die Kiste.

    Warum die Schweizer so anders sind — Neue Theorien über die Menschen aus den Bergen von Ursus und Nadeschkin

    August 23rd, 2010

    (reload vom 6.3.07)

  • Sprachkünstler in Deutschland unterwegs
  • Unsere Schweizer Lieblingskünstler, genauer gesagt „Sprachkünstler“, Clowns, Comedians, Artisten und Makramee-Spezialisten „Ursus & Nadeschkin“, die im wahren Leben Ursus Wehrli und Nadja Sieger heissen und niemals einzeln und unabhängig voneinander genannt werden dürfen (denn sonst gibt es postwendend Post von Nadja), tourten 2007 durch Deutschland mit der Hochdeutschen Fassung ihres Programmes „Weltrekord“ (aktuelle Termine siehe hier).

  • Doch manchmal voneinander isoliert
  • Isoliert tritt Nadja Sieger regelmässig bei der Schweizer Version von „Genial Daneben“ auf, und Ursus ist im Nebenberuf ein begnadeter „Kunstaufräumer“. Er hat schon zwei Werke zum kunstgerechten Aufräumen von Kunst herausgebracht. Echt aufgeräumt. So schrieb BR-Online über ihn:

    Wehrli verhilft Klassikern wie Klee, Picasso oder Jawlenski zu einer neuen Übersichtlichkeit und gestaltet sie Platz sparender und übersichtlicher. Die Ergebnisse können sich in Originalität und Ästhetik durchaus mit ihren „unordentlichen“ Vorbildern messen und begeistern Kunstliebhaber wie Kunsthasser gleichermaßen – und diejenigen, die Kunst nicht nur ernst nehmen, sowieso.
    (Quelle: br-online)

    Ursus und Nadeschkin in Köln
    (Ursus und Nadeschkin, Foto von Geri Born)

  • Die Berge machen bescheiden
  • Während der Tournee führte Marianne Kolarik ein Gespräch mit Ihnen, das am 08.02.07 im Kölner Stadtanzeiger veröffentlicht wurde. Hier ein paar Auszüge daraus:

    KS: Sie kommen aus der Schweiz, einem, wie manche meinen, fremden Kulturkreis.
    URSUS: Deutschland und die Schweiz liegen so nah beieinander, aber man weiß wenig voneinander. Ein Deutscher fährt im Urlaub vielleicht in die Südschweiz, aber ein Schweizer geht nie nach Deutschland. Wieso auch?
    (Quelle für dieses und alle weiteren Zitate: ursusnadeschkin.ch)

    Mit der „Südschweiz“ meint Ursus das Tessin, welches der deutsche Normalo auf dem Weg zur billigen Küste in Italien möglichst rasch durchfährt, nicht ohne noch rasch die Ozonwerte im Levantino hochzuschrauben und bei der Durchfahrt durch den Kanton Uri zu hoffen, das ihm kein Felsen aufs Dach knallt.

    NADESCHKIN: Wenn Schweizer nach Berlin fahren, bleiben sie meistens da. Weil Deutschland und Italien so verschieden sind, glaubt man, dass die Schweiz weniger verschieden ist.

    Stimmt, uns fallen ganz spontan ein paar Schweizer ein, die in Berlin hängengeblieben sind oder zumindestens eine Zeit dort blieben. Neulich erzählte mir eine Schweizerin, wie laut sich Schweizer Touristen mitunter in der Berliner S-Bahn aufführen, lautstark auf breitestem Berndeutsch über die nächste Sehenswürdigkeit diskutierten, in totalen Gefühl der Sicherheit, sowieso von niemanden dort dabei verstanden werden zu können. Auch Thomas Bohrer und Roger Schawinski sind in Berlin, nach Ende ihrer Amtszeit bzw. Kündigung des Vertrags, hängengeblieben. Kennen Schweizer eigentlich auch Städte wie Frankfurt oder Stuttgart, Dortmund oder Bremen?

    KS: Worin besteht denn der Unterschied zwischen den Ländern?
    NADESCHKIN: Wenn der Schweizer ein Bier bestellt, sagt er: „Entschuldigung, ich hätte gerne ein Bier.“ Der Deutsche sagt: „Ich krieg’n Bier.“ Deutsche befehlen.
    URSUS: Deswegen haben es die Deutschen in der Schweiz nicht leicht, weil jeder denkt: „Was ist das denn für ein arrogantes Arschloch?“ Dabei meint der Deutsche das gar nicht so.

    Nee, der hat Durst, und darum sagt er das auch. Kurz und präzise und direkt. Der Keller wird nicht fürs Quatschen bezahlt, oder fürs Zuhören. Und die Bierchen sind auch gleich immer wieder leer, wenn man in Köln ist und aus Reagenzgläsern trinkt. Da ist Eile geboten beim Nachbestellen.

    NADESCHKIN: Die Schweiz ist nicht größer als Bayern und hat vier Sprachen. Wenn einer aus den Bergen rätoromanisch spricht, versteht er die Menschen in Zürich schon nicht. Es gibt immer hundert Ansichten, aber nie eine Einigung. Wir müssen immer erst einen Tunnel bauen und können nicht wie in Deutschland direkt losfahren. In der Schweiz muss man immer Umwege machen. Das ist symptomatisch für die Bevölkerung. Deswegen haben es Neuerungen viel schwerer als die alten Angewohnheiten.

    So wie die Aufbewahrung des Teppichklopfers im heimischen Kleiderschrank? Diese alte Gewohnheit darf nie abgeschafft werden, wir erinnern daran. Das mit den vier Sprachen in der Schweiz wussten wir auch noch nicht. Gemeint war doch jetzt bestimmt der Kanton Graubünden für sich, oder?

    KS: Was ist Eurer Meinung nach der Grund für die unterschiedlichen Temperamente?
    URSUS: Es ist erstaunlich, wie die Natur die Menschen beeinflusst. Die Mehrheit der Schweizer sehen einen Berg, wenn sie aus dem Haus treten.
    KS: Und zwar einen großen Berg.
    NADESCHKIN: Und ziemlich nah.
    URSUS: Sie sehen etwas, das größer ist als sie. Dagegen ist man machtlos. Da wird man kleiner, bescheidener, dankbarer.
    NADESCHKIN: Ein Berg ist ein Aufwand, etwas, was sich dir in den Weg stellt. Er nimmt dir den Horizont. Die Leute sind ängstlicher.

    Diese Theorie von der Umgebung, die einen Einfluss auf das Denken der Menschen hat, wurde im 19. Jahrhundert unter dem Namen „Positivismus“ in Frankreich ernsthaft erforscht:

    Der Positivist Hypolite Taine (…) sah die Erkenntnis, aber auch die schöpferische Tat des Künstlers von vier Faktoren bestimmt: Rasse, Milieu, Moment und spezifische Individualität (Genialität).
    (Quelle: weltchronik.de)

    Das ging im Detail soweit, dass laut Taine im nebeligen und regnerischen Deutschland nur triste Philosophie und Literatur entstehen konnte, und unter dem lichten und blauen Himmel des Mittelmeers die wahren Genies (wie z. B. Napoleon) aufwuchsen.

    KS: In Deutschland beneidet man die Schweizer um ihre Neutralität.
    NADESCHKIN: Mir hat ein deutscher Kollege gesagt, dass er bei Gastspielen in der Schweiz spüre, dass wir keinen Krieg hatten. Die Aggression sei nicht da.

    Ach nein? Der hat noch nie die geheime Landesverteidigung der Schweizer gesehen, vermuten wir mal. Verteidigungsanlagen im Grenzgebiet, egal wohin man schaut. Keine Brücke ohne Löcher für die Panzersperren, kein Pass ohne „Beton-Toblerone“, und keine 300 Opfer durch Ordonanzwaffen im Jahr. Alles so schön friedlich hier.

    Beton Toblerone

    URSUS: Vieles funktioniert in der Schweiz nicht. Wir haben in der Schweiz keine Stars. Berühmte Schweizer wie Roger Federer, DJ Bobo oder Martina Hingis können unbehelligt in ihrer Stamm-Kneipe hocken. Die Massenphänomene gehen hier nicht. Der Schweizer hat etwas Behäbiges, das Gegenteil von Hysterie.

    Jeder kennt jeden, auch an die Promis ist leicht heranzukommen. Bis zum Attentat auf Zug fuhren Bundesräte in Bern mit dem Tram zur Sitzung. Hysterie kommt jetzt erst auf, seitdem jeden Monat 2000 Deutsche mehr in die Schweiz kommen.

    KS: Viele Deutsche halten die Schweiz für ein Paradies . . .
    NADESCHKIN: Weil wir besser im Verstecken sind. Es ist nicht so, dass es bei uns nur reiche Leute gibt. Wenn man in Deutschland ein Problem richtig laut rausschreit, findet sich immer jemand, der zuhört. Das würde sich ein Schweizer nie trauen. Wenn jemand nicht genug Geld hat, dann schweigt er und guckt, wie er über die Runden kommt.
    (…)

    Denn über Geld wird nicht geredet, und über nicht vorhandenes Geld noch weniger. Tragisch aber wahr. Die „working poor“, die es auch in der Schweiz gibt, würden lieber verrecken als Hilfe beim Staat zu beantragen. Sogenannte Obdachlose, Penner oder Stadtstreicher, wie sie in Deutschland in jeder Fussgängerzone zu finden sind, muss man in der Schweiz echt suchen gehen. Natürlich gibt es die „Randständigen“, aber zahlenmässig bewegt sich das in wesentlich kleineren Dimensionen als in Deutschland, und auf sie fällt schnell der Lichtstrahl des Rayonverbots und es wird ihnen der Weg gewiesen.

    Let’s talk Hochdeutsch — Standardsprache nur in Parodien möglich

    August 16th, 2010

    (reload vom 5.3.07)

  • Die Gänsefüsschen in der Luft
  • Es gibt da ein merkwürdiges Phänomen, dass wir als Deutsche in der Schweiz immer wieder beobachten konnten, wenn wir in in einer Gruppe von ausschliessliche untereinander auf Züritüütsch sprechenden Schweizern an der Kommunikation teilhaben wollten. Im beruflichen Umfeld wird je nach Lust und Sprachvermögen der anwesenden Schweizer weiter mit uns Mundart gesprochen, oder es wird „geswitched“ auf Hochdeutsch, oder es werden Mischformen gepflegt. Jeder Schweizer praktiziert das so wie er kann oder will oder mag oder nicht mag.

    In privaten Bereichen, sei es in einem Verein, in einem Chor oder sonstigen, nicht „professionellen“ Umfeld (apropos: Was sprechen eigentlich Damen im Zürcher Langstrassengebiet?) haben wir beobachtet, dass manche gut gelaunten und uns wohl gesonnenen Schweizer dann plötzlich begannen, mit uns in Anwesenheit ihrer Kollegen oder Vereinsmitglieder in einem perfekten hochdeutschen Hochdeutsch zu sprechen, allerdings sahen wir bei jedem Satz zwei „Gänsefüsschen“ in der Luft schweben.

    Amerikaner machen in solchen Gesprächssitutationen eine bestimmte Geste, in dem sie gleichzeitig mit der linken und rechten Hand hochfahren und die ersten beiden Finger jeder Hand kurz zweifach einknicken, um so zwei „Anführungszeichen“ in die Luft zu malen und damit anzudeuten, dass das so Gesagte nicht „wörtlich“ gemeint ist.

  • Hochdeutsch in Gänsefüsschen
  • Hochdeutsch zu sprechen geht also nur als „Parodie von Hochdeutsch“. Wir haben das mehrfach von Schweizern gesagt bekommen oder gelesen, dass für sie die Aussprache von deutschem Hochdeutsch zwar rein lautlich kein Problem sei, psychologisch aber nur schwer über die Lippen komme. Das sei so ähnlich, wie wenn ein Deutscher im Englisch Unterricht plötzlich kein „Schulenglisch“ mehr spricht, sondern den breitesten Texas-Akzent hinlegt oder einen rollenden „Scottish-accent“ zu Gehör bringt.

    Der Leser Giacometti schrieb:

    Wenn ich will, kann ich gut Hochdeutsch sprechen – aber wenn ich das tue, verfalle ich jeweils automatisch in die Parodie. Alles, was ich dann sage, ist ironisch gemeint. Ernsthaft Hochdeutsch sprechen geht nicht – das klingt einfach zu doof. Man will sich ja einen gewissen Selbstrespekt bewahren. Nicht weil es “schlecht” klingt, sondern weil das nicht ICH bin.
    Gleichzeitig spreche ich mit Genuss andere Fremdsprachen, und wie mir oft bestätigt wird, auch mit einem gewissen Talent, was die Aussprache und Intonation betrifft.
    (Quelle: blogwiese)

  • Hochdeutsch nur im „Parodie-Stil“?
  • Es ist also nicht angesagt und schon gar nicht gesellschaftlich möglich, als Schweizer in Anwesenheit von anderen Schweizern ohne mit den Wimpern zu zucken auf Hochdeutsch umzuschalten, es sei denn man deutet dabei an: „Achtung, ich mache mir jetzt mal einen Jux“. Oder, „Jetzt reden wir mal aus Spass so wie die Deutschen“. Das nennt man in der Schweiz übrigens „angekündigte Ironie“.
    Die in einer solchen Situation anwesenden Deutschen würden es wahrscheinlich gar nicht merken, dass deutsches Hochdeutsch sprechen für einen Schweizer etwas anderes ist, als „helvetisches Schriftdeutsch“ laut zu äussern.

    Nach einer Weile pflege ich dann nachzufragen: „Bist Du eigentlich Schweizer?“ Vielleicht ist das der Moment, in dem unser Gegenüber die Angst bekommt, in seiner Identität nicht mehr wahrgenommen zu werden und dann flugs auf Schweizerhochdeutsch weiterspricht.

    Bei Kindern und Jugendlichen haben wir diese merkwürdige Hemmschwelle der Schweizer übrigens seltener beobachtet. Die plappern im originalen TV-Total-Ton los, oder je nach Alltagsgruppe hört man auch Peter Lustigs „Dürft ihr nicht machen, ist viel zu gefährlich“ Aussprache heraus.

  • Welches Englisch im Englischunterricht?
  • Als ich Englisch lernte, war es äusserst verpönt, einen speziellen britischen oder amerikanischen Akzent zu sprechen. Gefragt war deutsches „Schulenglisch“, damit auch jeder in der Klasse es verstehen konnte. Die Grundhaltung hat sich in der Fremdsprachendidaktik in der Zwischenzeit geändert. Wer Kinder in Baden-Württemberg beim Englischunterricht belauscht wird feststellen, dass dort sehr genau auf das britische Lautbild geachtet wird und dass die verwendeten Hörbeispiele der Lektionstexte alle von britischen Nativspeakern aufgenommen wurden. Wir gehen davon aus, dass es in der Schweiz genauso gehandhabt wird.

  • Helvetisches Hochdeutsch ja oder nein?
  • Beim Deutschunterricht gehen dann die Meinungen auseinander. „Mut zum helvetischen Hochdeutsch“ fordern die einen, und „Wie werde ich zum sprachlichen Chamäleon?“ praktizieren die anderen. Es gibt da diese Hemmschwelle: „Ernsthaft Hochdeutsch sprechen geht nicht – das klingt einfach zu doof. Man will sich ja einen gewissen Selbstrespekt bewahren. Nicht weil es “schlecht” klingt, sondern weil das nicht ICH bin“

    Warum klingt es „doof“, einen Standard zu sprechen? Hätten wir auch Probleme damit, Oxford-Englisch oder Pariser Französisch zu sprechen?

    Es haben uns auch Schweizer berichtet, wie ihnen im Deutschunterricht sehr pragmatisch die helvetische Aussprache abtrainiert wurde, wie man ihnen die perfekte Tarnung für den nächsten Deutschlandbesuch beibrachte.

  • Wenn Deutsche Schweizer parodieren
  • Deutsche kennen die Schweiz in der Regel nur aus dem Skiurlaub, von der Durchfahrt nach Südfrankreich, von den Schaltungen bei Thomas Gottschalk und durch die alten Emil-Folgen. In Unkenntnis der Schweizer Dialektvielfalt meinen Sie oft, mit ein paar „li“ am Ende der Wörter und einigen Krachlauten beim „ch“ sei Schweizer Mundart leicht zu parodieren.

    Warum wird eigentlich nicht zur besten Sendezeit in Deutschland ein Film wie „Strähl“ über das Drogenmilieu der Zürcher Langstrasse ausgestrahlt, original mit hochdeutschen Untertiteln (Beispiel siehe Trailer) , um so alle Klischees von der gemütlichen und langsamen Schweiz und ihrer „putzigen“ Sprache zu zerstören?

    Straehl als Sprachkurs für Deutsche
    (Quelle Foto: straehl.net)

    Die am häufigsten zu hörende Lautfolge in diesem Film ist übrigens der Ausdruck „Figgdii!“, mit dem keine Feigenfrüchte gemeint sind. Das Beispiel half uns endgültig die Erfahrung „Schweizer fluchen nicht“ ad Akta zu legen. (vgl. Blogwiese).

    Doch, das ZDF strahlte am 9.7.2006 den Film aus, jedoch erst um Mitternacht. Solche Filme bringen mehr „sprachliche Aufklärung“ über die Schweiz als jeder Kurs bei einer Migros-Clubschule. Zwar wurde auch der Lausbubenfilm „Mein Name ist Eugen“ mit einigem Erfolg in Deutschland in den Kinos gespielt, jedoch in einer rein synchronisierten Fassung. Untertitel hätten unserer Meinung nach ausgereicht, um die wunderbaren alten Berndeutschen Schimpfwörter zu erhalten. Hier eine Umfrage zum Film von der Webseite:
    Schimpfwörter aus Eugen
    (Quelle Foto: eugen-film.ch )

  • Triglossie oder Diglossie?
  • Bleibt zum Schluss die Frage zu beantworten, ob die sprachliche Zukunft der Deutschschweizer eher in einer Triglossie (Mundart, helvetisches Hochdeutsch, deutsches Hochdeutsch) oder in einer Diglossie (Mundart plus eine weitere Variante) zu suchen ist. Wer die Ansicht vertritt, es reiche aus, neben seiner gesprochenen Mundart die helvetische Hochdeutsch-Variante zu beherrschen, verbaut sich damit den Weg nach Deutschland. Denn dort über Jahre diese Variante im Gespräch mit Norddeutschen oder Berlinern durchzuhalten, das braucht eine Menge Selbstbewusstsein und Standhaftigkeit gegen den permanent aufblitzenden „Jöö-Faktor“.

  • Worauf ich mir dann schwor, ich werde Redaktor
  • Wer nie vor hat, nach Deutschland zu gehen und sich lediglich in der Schweiz mit Ausländern auf Hochdeutsch verständigen möchte, für den reicht die Diglossie mit der helvetischen Schriftdeutschvariante allemal. Falls es dann doch einmal zu einem literarischen Erfolg kommt, müssen die Verlagslektoren darauf achten, ob sich ein „es tönt“ an Stelle von „es klingt“ in den Text verirrte, oder „wir sind es uns gewohnt“ an Stelle von „wir sind es gewohnt“ zu lesen ist. Redakteur, sorry, „Redaktor“ des Tages-Anzeigers ist mit perfekt beherrschtem helvetischen Schriftdeutsch auf jedem Fall eine mögliche berufliche Perspektive.

    Als die Deutschen plötzlich nicht mehr verhandelten — Das Scheitern der Schweizer Konsensdemokratie im Streit um den Zürcher Flughafen

    August 8th, 2010

    (reload vom 2.3.07)

  • Leben mit dem Fluglärm
  • Seit neun Jahren leben wir in Bülach, am nördlichen Rand des Zürcher Flughafens Kloten. Vom Fluglärm bekommen wir wenig mit. Der konzentriert sich auf eine relativ schmale Schneise, die unweit von Bülach über das Dorf Höri führt. Doch sehen wir die Flugzeuge von Norden her, also von Deutschland kommend, im 1 ½ Minutentakt über Höri einschweben. Wenn man in der Schneise lebt, hört man sie natürlich auch, und zwar ab 6:00 Uhr morgens bis tief in die Nacht.

  • Laut ist es überall
  • Bevor wir nach Bülach gezogen sind, wurden wir gewarnt: „Fluglärm haben sie im ganzen Zürcher Unterland. Schlimm ist es in Glattbrugg und in Wallisellen, wenn die Maschinen in Richtung Zürich starten und sofort eine scharfe Kurve fliegen, um die Stadt nicht zu überfliegen.“ Diese lautstarke Kurve drehten die startenden Flugzeuge abends zwischen 21:00 Uhr und Mitternacht über Bülach auch, weil ein Überflug der deutschen Grenze nicht mehr erlaubt war. Von Anfang an faszinierte uns im Zürcher Unterland der Umstand, dass hier niemand „gegen den Flughafen“ ist, sondern lediglich eine „Gerechte Fluglärmverteilung“ gefordert wird. Tausende von Menschen arbeiten am Flughafen, jeden Morgen sieht man die Flugbegleiter in schicken Kostümen mit ihren Rollkoffern zur Haltestelle des Flughafen-Schnellbusses laufen, und in fast jedem Mehrfamilienwohnhaus lebt garantiert ein Pilot oder Mitarbeiter vom Bodenpersonal.

  • Ein solider Vertrag mit Unterschrift
  • Jahrelang verhandelte Deutschland mit der Schweiz wegen des Fluglärms, im Oktober 2001 wurde „Nägel mit Köppen“ gemacht, wie wir in Deutschland sagen. Ein solider Vertrag war ausgehandelt:

    Heute (18.10.2001) Donnerstag haben der Direktor des Bundesamtes für Zivilluftfahrt (BAZL), André Auer, und der deutsche Botschafter in der Schweiz, Reinhard Hilger, in Bern den Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland über den Luftverkehr unterzeichnet. Die erste vorgezogene Massnahme, ein Nachtflugverbot über süddeutschem Gebiet von 22.00 bis 06.00 Uhr, tritt per 19. Oktober in Kraft. Das BAZL hat die hierfür notwendige provisorische Änderung des Betriebsreglementes für den Flughafen Zürich genehmigt.
    (…)
    Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages haben über dreijährige Verhandlungen zwischen den zwei Ländern offiziell ihr Ende gefunden. Der Staatsvertrag regelt einerseits die Flugsicherung über süddeutschem Gebiet, die unverändert vom Schweizer Unternehmen Skyguide durchgeführt werden kann. Anderseits legt er die Modalitäten für An- und Abflüge auf den beziehungsweise vom Flughafen Zürich über das Territorium Deutschlands fest. Einer der Kernpunkte ist die Limitierung der Anzahl Flüge auf 100’000 pro Jahr ab Februar 2005. Bis zu diesem Termin garantiert die Schweiz, eine jährliche Obergrenze von 154’000 Flugbewegungen nicht zu überschreiten. Als erste vorgezogene Massnahme des Vertrages gilt ab dem 19. Oktober 2001 eine Nachtflugsperre über Süddeutschland zwischen 22.00 und 06.00 Uhr. Mit dem Winterflugplan 2002 tritt die zweite vorgezogene Massnahme, eine Flugsperre zwischen 20.00 und 09.00 Uhr an Wochenenden, in Kraft. Ausgenommen von diesen Einschränkungen sind Flüge, welche bedingt durch äussere Umstände über süddeutsches Gebiet anfliegen müssen.
    Damit der Staatsvertrag seine Rechtskraft entfalten kann, bedarf er der Ratifikation durch die beiden Länder. In der Schweiz liegt dies in der Kompetenz der Eidgenössischen Räte. Die Behandlung des Geschäftes im Parlament ist im Verlauf des kommenden Jahres vorgesehen.
    (Quelle: uvek.admin.ch 18.10.2001)

    Drei Jahre hatte es gedauert, bis dieser Vertrag endlich unterschrieben werden konnte:

    Seit Ende der Siebzigerjahre bestanden Differenzen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz wegen diesen An- und Abflügen durch deutschen Luftraum, die trotz verschiedener Bemühungen nie beigelegt werden konnten. Ende 1998 haben auf Wunsch der Bundesrepublik Deutschland Gespräche über den Abschluss eines Staatsvertrages begonnen. Er sollte einerseits eine genügende rechtliche Grundlage für die Ausübung der Flugsicherung im deutschen Hoheitsgebiet schaffen und andererseits die durch den An- und Abflugverkehr verursachten Lärmbelastungen auf deutschem Gebiet regeln. Am 18. Oktober 2001 wurde ein entsprechender Vertrag unterzeichnet. Der Vertrag räumt der Schweiz die Befugnis zur Durchführung der Flugsicherung in einem grossen Gebiet Süddeutschlands ein. Er beschränkt zudem die Anzahl Anflüge nach Zürich durch deutschen Luftraum auf unter 100 000 pro Jahr und verbietet im Regelfall Anflüge zwischen 22.00 Uhr und 06.00 Uhr. An Wochenenden gilt eine auf 20.00 Uhr bis 09.00 Uhr ausgedehnte Nachtflugbeschränkung. Die Schweiz erhielt die erforderlichen langen Übergangsfristen für Anpassungen der Infrastruktur, welche bei einer Neuverteilung des An- und Abflugverkehrs notwendig werden.
    (Quelle: admin.ch 8.3.2002 )

  • Konsenspolitik kontra repräsentative Demokratie
  • Der Vertrag war unterzeichnet, aber noch nicht von der Schweiz ratifiziert. Was sich nun nach in der Zeit vom November 2001 bis zum Februar 2003 zwischen der Schweiz und Deutschland abspielte, ist für uns das klassische Lehrbeispiel für das tragische Aufeinanderprallen zweier politischer Systeme: Schweizer Konsenspolitik, die es gewohnt ist, so lange weiterzureden und zu verhandeln, bis tatsächlich eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung des Problems ausgehandelt ist, auch mehrheitsfähig bei einem anstehenden Volksentscheid, prallte auf Deutsche Exekutive, genauer gesagt auf „Repräsentative Demokratie“, bei der gewählte Volksvertreter vor ihren Wählern beweisen müssen, dass sie sich durchsetzen können und unterschriebene Verträge auch ernst nehmen.

    Keine Nachverhandlungen zum Staatsvertrag mit Deutschland
    Die Schweiz und Deutschland werden keine Nachverhandlungen zum Luftverkehrs-Staatsvertrag führen. An den Sondierungsgesprächen vom 17.2. 2003 in Berlin konnten Bundesrat Moritz Leuenberger und der deutsche Verkehrsminister Manfred Stolpe keine Annäherung ihrer Standpunkte erreichen.
    Ausschlaggebend war insbesondere die harte Haltung des Bundeslandes Baden-Württemberg, das bei der Wochenendregelung zu keinen Konzessionen bereit war. Der schweizerische Verkehrsminister hatte sich in Absprache mit den Betroffenen namentlich für eine Lockerung der im Staatsvertrag vereinbarten Flugverbotszeiten an Wochenenden eingesetzt.
    Die Gespräche in Berlin zeigen aber auch, dass der Staatsvertrag angesichts der massiven innenpolitischen Widerstände in Deutschland und der Schweiz nach wie vor den bestmöglichen Kompromiss darstellt. Er verlangt beiden Seiten erhebliche Zugeständnisse ab. Bundesrat Leuenberger wird sich deshalb im Ständerat weiterhin für die Ratifizierung der Vereinbarung einsetzen.
    Für den Fall einer Ablehnung des Staatsvertrages durch die Schweiz hat Bundesverkehrsminister Stolpe bekräftigt, dass er sich „zum Handeln gezwungen“ sähe: Deutschland würde einseitige Massnahmen erlassen, die voraussichtlich die im Staatsvertrag vorgesehenen Beschränkungen verschärfen würden. Diese Massnahmen könnten vor einem deutschen Gericht angefochten werden. Ein solches Vorgehen ist jedoch riskant, nachdem das Verwaltungsgericht Mannheim kürzlich den Rekurs von „Unique“ und Swiss gegen die vorgezogenen Massnahmen (Nacht- und Wochenendflugverbot) abgelehnt hatte. Im weitern würde Deutschland die Rücknahme der Flugsicherung im deutschen Luftraum prüfen.
    Veröffentlicht am: 18.02.2003 (Quelle)

  • Noch eine weitere kleine Nachverhandlung gefällig?
  • Die Positionen waren klar. Die Schweizer wollen weiter verhandeln, die Deutschen kündigten Massnahmen an. Doch die Schweizer „Dauerverhandler“ pokerten weiter und spielten auf Zeit:

    (sda-Meldung vom 27.02.2003)
    Zürcher Regierungsrat bekräftigt sein Nein zum Staatsvertrag. Risiko von einseitigen Massnahmen wird in Kauf genommen.

    Der Zürcher Regierungsrat bekräftigt seine Ablehnung des Staatsvertrags mit Deutschland über den Luftverkehr. Trotz des Risikos von einseitigen Massnahmen Deutschlands gebe es keinen Grund, von der bisherigen Haltung abzuweichen.
    Nach dem erfolglosen Sondierungsgespräch von Bundesrat Moritz Leuenberger mit dem deutschen Verkehrsminister Manfred Stolpe in Berlin habe die Zürcher Regierung eine Lagebeurteilung vorgenommen. Mit dem Resultat, „dass der Staatsvertrag nicht im langfristigen Interesse des Kantons Zürich und des Flughafens liegt“.
    Durch die Entwicklung der letzten Monate sehe sich der Regierungsrat in seiner ablehnenden Haltung zum Staatsvertrag bestätigt, heisst es in einem Communiqué vom Donnerstag. Unter anderem habe sich letzte Woche die vorberatende Kommission des Ständerats ablehnend zum Luftverkehr-Staatsvertrag geäussert.
    Der Zürcher Regierungsrat ist sich bewusst, dass einseitig angeordnete Massnahmen durch Deutschland nicht auszuschliessen sind. In diesem Fall würde die Bevölkerung eine grössere Belastung erfahren und der Flughafen in seiner Kapazität eingeschränkt.
    Dennoch bekräftigt der Regierungsrat sein bereits im April und im November 2002 geäussertes Nein zum Staatsvertrag. Im November sprach er sich zudem dafür aus, für die nächsten 10 bis 15 Jahre am bestehenden Betriebsreglement festzuhalten. Demnach soll es keine zusätzlichen Ostanflüge und keine neuen Südanflüge geben.
    (Quelle: parlament.ch )

  • Als die „einseitige Verordnung“ den Schwebezustand beendete
  • Schliesslich greift in Deutschland die Exekutive per Verordnung durch. Was die Schweizer Konsenspolitiker bis zu diesem Moment nicht wirklich realistisch erwartet haben, tritt ein, als Deutschland die Überflug-Verordnung ausser Kraft setzt:

    Streit um Fluglärm. Deutschland setzt einseitige Verordnung per 17. April in Kraft
    Berlin (sda) Deutschland hat am Freitag seine Ankündigung wahr gemacht: Nach dem Scheitern der Luftverkehrsverhandlungen wird per 17. April die einseitige Verordnung für Überflüge zum Flughafen Zürich-Kloten in Kraft gesetzt. Dadurch wird die Zahl der Überflüge über Süddeutsches Gebiet in einem ersten Schritt auf unter 110 000 pro Jahr und ein Jahr später auf weniger als 80 000 reduziert. In der Vergangenheit waren es mehr als 150 000 Überflüge.
    Das Nachtflugverbot wird zunächst auf 21.00 bis 07.00 Uhr und ab 2004 auf 20.00 bis 08.00 Uhr ausgeweitet. Gemäss dem gescheiterten Staatsvertrag wären an Werktagen Überflüge zwischen 22.00 bis 06.00 Uhr möglich gewesen.
    Die Inkraftsetzung der strengen Auflagen wurde am Freitag von der Parlamentarischen Staatssekretärin im Verkehrsministerium, Iris Gleicke, im Bundestag mitgeteilt. Die Ankündigung, während einer kurzen Debatte zu den einseitigen Massnahmen, wurde von allen Fraktionen unterstützt.
    (Quelle: parlament.ch )

  • Fazit: Wie konnte das passieren?
  • Ohne jetzt in die Details des Streits gehen zu wollen, ohne die zahlreichen Vorschläge, Varianten und Möglichkeiten zu diskutieren, faszinierte uns an diesem Deutsch-Schweizer Streit, der sich immerhin von 2001 – 2003 hinzog, stets dieser entscheidende Moment, an dem die Schweizer Verhandlungsstrategie des „auf Zeit Spielens“ und „ewig Weiterverhandelns“ wie eine Seifenblase platzte. Die Schweizer sind diese Art des Taktierens in ihrem Politikverständnis gewohnt. Vorschläge werden unterbreitet und abgelehnt, Gegenvorschläge kommen zur Abstimmung, nach langem Verhandeln einigt man sich auf einem Kompromiss, den alle mittragen können. So läuft es immer ab in der Schweiz, darauf basiert langfristig die Stabilität der Schweiz. Doch mit Deutschland ist diese Verhandlungstaktik kolossal gescheitert.

    Ein weiterer Beleg dafür, wie gering das Wissen über das politisches System des Nachbarn und seine Entscheidungswege sein mag.

    Selbstverständliche Beherrschung von Dialekt und Hochsprache — Im Tessin kein Problem

    August 4th, 2010

    (reload vom 1.3.07)

  • Hochdeutsch darf keine Fremdsprache mehr sein — Die Vorschläge des Forum Helveticum
  • Das „Forum Helveticum“ tagte am 14.02.07 und publizierte anschliessend eine Reihe von Vorschläge, die wir hier diskutieren möchten:

    Hochdeutsch darf keine „Fremdsprache“ mehr sein

    Die vermehrte Präsenz von Mundart auf allen Gesellschaftsebenen hat sich in den letzten Jahrzehnten auf Kosten des Hochdeutschen durchgesetzt. Die erhöhte mangelnde Kompetenz der Hochsprache erschwert den Kontakt sowohl zum deutschsprachigen Raum als auch mit den anderen Sprachregionen der Schweiz. Ziel muss sein, dass Deutschschweizer Hochdeutsch nicht mehr als „Fremdsprache” empfinden. Als Beispiel einer selbstverständlichen Beherrschung von Dialekt und Hochsprache wird die Lage in der italienischen Schweiz genannt.
    (Quelle: sprachkreis-deutsch.ch)

    Es muss „Ziel sein, dass Deutschschweizer Hochdeutsch nicht mehr als ‚Fremdsprache‘ empfinden“. Ist das jetzt der kategorische Imperativ? Die selbsterfüllende Prophezeiung? Wie oft haben wir von Schweizern gehört, dass für sie Hochdeutsche „eine Fremdsprache“ sei, und wie oft haben wir schon versucht ihnen ihre zweite Muttersprache als natürliche Verkehrssprache näher zu bringen.

    Der Ticino gab dem Tessin seinen Namen
    (Der Fluss „Il Ticino“ gab dem Kanton seinen Namen)

    Besonders interessant finden wir das zitierte Beispiel „Tessin“. Dort sind die eigenen Dialekte auch weit entfernt von dem in Italien gesprochenen Standard-Italienisch:

    Ein Grossteil der Bevölkerung spricht lokale Dialekte, die zur lombardischen Dialektengruppe gehören. Da die Dialekte aus der Lombardei (inklusive Italienische Schweiz), dem Piemont, Ligurien und Emilia-Romagna, einen gallischen Hintergrund besitzen, ist es nicht erstaunlich, dass sehr viele Tessiner Wörter dem Französischen ähneln, und auch nasale Laute sowie ‚ö‘ und ‚ü‘ vorkommen. Im Tessiner Dialekt heisst es z.B.: „un om al gheva dü fiöö“, auf Standard-Italienisch würde man sagen: „un uomo aveva due figli“ (ein Mann hatte zwei Söhne). „Herz“ heisst im Dialekt „cör“ , ähnlich wie das französische „coeur“ [kœr] und nicht wie das italienische „cuore“ [kwɔre]. (…)
    (Quelle: Wikipedia)

    Also gibt es auch in der italienischen Schweiz eine Diglossie, gesprochener Dialekt neben geschriebener Standardsprache, dem Standard-Italienischen. Italienisch wird als Verkehrssprache und niemals als „Fremdsprache“ empfunden, wie das Hochdeutsche in der Deutschschweiz. Niemand hat ein Problem damit, im Gespräch mit nicht Einheimischen auf Italienisch zu sprechen und es wird von den vielen Gastarbeitern aus Italien auch nicht verlangt, dass sie sich doch bitte im Gebrauch eines Tessiner Dialekts üben möchten.

  • Dialekt nur bei den Alten
  • Wir fragten den Tessiner Journalisten Franco Valchera, der für das „Radiotelevisione svizzera di lingua italiana“, kurz „TSI“ aus der deutschsprachigen Schweiz berichtet, wie das Verhältnis der Tessiner zum „Standard-Italienischen“ sei, ob ähnlich belastet wie das der Deutschschweizer zum Hochdeutschen.

    Er erzählte uns, dass für die meisten Tessiner, wenn sie nicht der älteren Generation angehören oder in abgelegenen Tälern und Dörfern wohnen, Dialekt kaum mehr Teil der Alltagssprache sei. Die Wortmelodie unterscheidet sich und die Aussprache, geschrieben wird aber immer auf Standard-Italienisch, niemals auf Dialekt, auch nicht in den SMS.

    Die Tessiner wurden auf diesem Blog bisher viel zu wenig thematisiert. Im Kanton Tessin leben laut Wikipedia 306’846 Einwohner, das entspricht 4,3 % der Schweizer Gesamtbevölkerung. Das Tessin wird ständig nur unter „ferner liefen“ angeführt. Während sich die Westschweiz gelegentlich Gehör verschafft, auch in den Medien der Deutschschweiz, kann das Tessin froh sein, wenn tatsächlich an diesen Teil der Schweiz gedacht wird. Uns ist bereits früher aufgefallen (vgl. Blogwiese), dass beispielsweise die Webseite von Eidgenössischen Einrichtungen wie die Münze, swissmint.ch, nur auf Deutsch, Französisch und Englisch existieren. Fehlanzeige für Italienisch:

    Swissmint nicht auf Italienisch
    (Quelle Foto: swissmint.ch)

    Nur einzelne Sachtexte sind dort auf Italienisch übersetzt als PDFs herunterladbar.

  • Studium auf Deutsch oder Französisch?
  • Da es im Tessin nur eine kleine Universität mit 1800 Studenten gibt, die zudem 2400 Franken pro Semester kostet, stehen die Tessiner Maturanden (mit „d“ wie in „Randgruppe“), so heissen die nicht ganz unreifen Abiturienten in der Schweiz, vor der Wahl, ob sie Französisch lernen und in Lausanne studieren oder nach Zürich gehen, dort Deutsch lernen und studieren. Wer z. B. Tierarzt werden möchte, dem bleibt nur die Option Bern (70 Plätze) oder Zürich (80 Plätze), denn nur dort ist ein Studium der Veterinärmedizin möglich.

  • Ein eigener Fernsehsender für nur 956 Tausend Zuschauer

  • Interessant ist ein Zahlenvergleich der Leistungen des Deutschschweizer Senders SF und des italienischen TSI, veröffentlicht unter unserer Lieblingswebadresse srgssrideesuisse.ch. Irgendwie treibt uns dieser tolle Name immer ein „Lächeln“ auf die Lippen.
    (vgl. Blogwiese)

    Demnach produziert TSI mit 1‘028 Mitarbeitern für 202 Mill. Franken 3273 Stunden Eigenproduktionen. SF brauchte nur 831 Mitarbeiter aber 509 Mill. Franken für 3038 Stunden. Wenn man bedenkt, dass TSI mit seinem ersten Programm bis zu 183‘000 Menschen erreicht, und SF1 aber 2‘8 Millionen Zuschauer, kostet folglich das Programm pro Zuschauer und Jahr im Tessin 1’103 Franken, in der deutschsprachigen Schweiz nur 180 Franken.

    Was folgern wir sonst noch daraus? Dass die Löhne in Zürich höher sein müssen als im Tessin wenn 200 Angestellte weniger 300 Mill. Franken mehr verbraten? Oder dass die Menschen im Tessin fleissiger arbeiten um 200 Stunden mehr zu produzieren? Wir werden uns hüten vor solchen nicht belegbaren Schlussfolgerungen! Was die Zuschauer angeht, da nehmen wir an, dass ganz Norditalien TSI guckt, weil ständig der Anblick von blonden langbeinigen „Silicon Valley Donne“ nicht zum Aushalten ist.

  • Mit Hochdeutsch kommt ein Tessiner nicht weit
  • Was wir von Freunden und Bekannten aus dem Tessin immer wieder erzählt bekommen, ist ihre Frustration darüber, dass sie mit ihren mühsam gelernten Hochdeutsch in der Deutschschweiz nicht weit kommen. Sie müssen mehrfach darauf bestehen, eine Antwort auf Hochdeutsch zu erhalten, bzw. beginnen nach einiger Zeit wie viele Romands mit dem Studium der Schweizerdeutschen Alltagssprache in der Migros-Clubschule.

  • Nur Italienisch? Kein Problem
  • Anderseits erzählte mir ein Italiener in Bülach, dass er im Alltag praktisch ohne Deutschkenntnisse auskommt. In der Migros geht er an die Kasse, an der eine Italienerin sitzt. Gleiches gilt beim Besuch der Kantonalbank oder bei einem Behördengang. Im Kanton Zürich ist die Gruppe der eingewanderten Italiener so gross, dass das praktisch immer einen Vertreter der ersten oder zweiten Generation in jedem Geschäft oder bei jeder Behörde zu finden ist. Irgendwo müssen sie ja untergekommen sein, die 300‘000 Italiener in der Schweiz.