Im Nachbarland geht ohne Visum gar nichts — Geschichten von der Deutsch-Schweizer Grenze (Teil 2)

Januar 19th, 2007
  • Als Secondo niemals über Jestetten
  • In der Schweiz hatte ich eine Kollegin, deren Eltern aus Kroatien stammten. Sie war 22 Jahre alt, in der Schweiz geboren, hatte die Primarschule und alle weiteren Schulen hier besucht, ihre Lehre hier absolviert, war aber als „Secondo“ immer noch ohne Schweizer Pass. Mit dem „-ic“ am Namen war das auch nicht leicht. Sie galt als Kroatin und hatte eine C-Bewilligung (permanter Aufenthalt).

    Wir wollten zusammen nach Schaffhausen fahren, was von Bülach aus über den „Sackstich“ Jestetten knapp 30 Minuten dauert. Das ist ein kurzes Stück Deutschland, über das sogar die SBB fährt und in dem sie sogar zwei Schweizer Bahnhöfe auf deutschem Gebiet unterhält. So kamen wir zur Grenze und wurden prompt kontrolliert. Keine Chance, die deutschen Grenzer liessen sie nicht ein- bzw. durchreisen ohne Visum für die 8 Km lange Strecke über deutsches Hoheitsgebiet. Das Visum konnte man beim Konsulat in Zürich für eine gute Gebühr bekommen. Moderner Wegezoll. Also mussten wir einen Umweg von 50 Minuten in Kauf nehmen, um ohne Stress nach Schaffhausen zu kommen. (Ergänzung: Die Rechtslage hat sich mittlerweile geändert, es geht heute einfacher).

  • Eine Russin welche die Berge liebt
  • Von einem Leser der Blogwiese erhielten wir einen ganz ähnlichen Bericht, nur aus der anderen Perspektive:

    Meine Frau ist russische Staatsbürgerin. Eines Tages fuhren wir nach Waldshut, jenen besagten Freund zu besuchen. Nun liebt meine Frau die Berge sehr, und wollte überaus gern kurz in die Schweiz, wo sie noch nie war. „Kein Problem“, sagte ich ihr, „wir sind doch in Europa, da gibt es Grenzkontrollen nur pro forma, da fahren wir einfach durch!“ Sie wissen sicher, was kommt. An drei verschiedenen Grenzstellen haben wir es versucht, in Waldshut sogar zu Fuß über die Brücke – keine Chance! Der Schweizer hält seine Kantönli dicht. Besonders gefallen hat mir, dass der Grenzbeamte angesichts des auffälligen roten russischen Passes nicht sofort nach dem Visum fragte und und umdrehen ließ, sondern erst den Pass durchblätterte, um dann das Wachthäuschen aufzusuchen. Nach zehn Minuten kam er zurück und fragte dann amtlich, ob sie ein Visum habe – natürlich wusste er, dass sie keins hatte! Beim dritten Mal war ich doch sehr frustriert, und es ist gut, dass kein Schweizer je meine Meinung über ihn erfahren hat. Ich sagte dem Beamten dann im Ton größter Selbstverständlichkeit: „Aber sie hat doch ein deutsches Visum!“ Der Beamte war wie getroffen, und brauchte einen Moment, den ich nutzte, um unschuldig hinzuzusetzen: „Ja, braucht man denn *dann* noch ein *eigenes* für die Schweiz?“ Der Blick in das Gesicht des schweizerischen Grenzers entschädigte mich für einiges. Die deutsch-schweizerische Freundschaft hat dies leider wohl nicht besonders befördert.
    (Quelle: Private E-Mail)

  • Um 18:00 Uhr ist Feierabend am Schweizer Zoll
  • Kleiner Trost für diejenigen, die Ähnliches erlebt haben: Um Punkt 18:00 Uhr macht der Schweizer Zoll an den kleinen Grenzübergängen Feierabend. Das ist sehr unangenehm, wenn man gerade in Deutschland etwas über 300 Euro gekauft hat, sich bei den Deutschen Zöllnern die Ausfuhr für die Mehrwertsteuer-Rückerstattung bestätigen liess, und nun keinen Schweizer Zöllnern mehr findet, der einem die Einfuhr deklariert bzw. die Schweizer Mehrwertsteuer kassiert. Das erfordert anschliessend weite Weg durch Helvetien bis zum nächsten geöffnete Grenzposten, um so die in Deutschland erworbenen Waren zu amtlich eingeführter und verzollter Waren werden zu lassen. Aber wer würde da schon Zeit und Mühe scheuen, wenn es um die eigene Redlichkeit geht.

    Je me casse — Live und in Echtzeit unter den Gestrandeten der Nacht

    Januar 18th, 2007
  • Je me casse = ich mach mich mal vom Acker
  • Wer sich in Frankreich davonmacht, verabschiedet sich nicht „auf Französisch“, sondern sagt zum Beispiel. „Je me casse“ = ich zerbreche mich. Leider wurde bei mir jetzt eine self-fulfilling prophecy daraus.

  • Immer schön den Sicherheitshebel beim Scooter umlegen
  • Am Dienstagabend hatte ich es in der Zürcher Innenstadt besonders eilig auf den Zug zu kommen. So eilig, dass ich meinen Scooter für den „Turnschuh-Anschluss“ im Laufen durch die Fussgängerzone aufklappte. Es ist ein schneller „MACRO“ Scooter mit grossen Rädern. Absolut sicher, wenn man den Sicherheitshebel umlegt…

    Dies vergass ich leider und fuhr dennoch los. Nach ca. 15 Meter war ich etwa 15 Km/h schnell und befand mich in der Löwenstrasse. Dann ging alles sehr schnell. Der Scooter klappte sich zusammen und machte eine Vollbremsung. Körpermasse und Geschwindigkeit entwickelten eine gewisse Bewegungsenergie, die sich dummerweise auf meinem rechten Unterschenk direkt über dem Fuss entlud. Ich stürzte und stellte im Liegen fest, dass mein rechter Fuss merkwürdig weit um 45 Grad nach hinten verdreht war. Ich wollte gar nicht mehr so genau hinschauen. Nein, ein Knacken hatte ich nicht gehört, aber Schien- und Wadenbein waren gebrochen.

  • Der Selbstverunfallte ohne Heimatort
  • Die Ambulanz war zum Glück bald da, ein freundlicher Passant stellt sich als Anästhesist namens Philip vor. Er stützte mich bis dahin und milderte den Schock. Was muss man anrufen? 117? 118? 112? 114? Noch am Morgen hatte ich im Tagesanzeiger darüber gelesen, dass die Notdienste in jedem Kanton der Schweiz andere eigene Notrufnummer verwenden und Bemühungen im Gange sind, das auf die europäische Notrufnummer „112“ zu vereinfachen.

    Man legte mir noch auf dem kalten Bürgersteig eine Infusion mit starkem Schmerzmittel, um dann den Fuss gerade richten zu können und mich auf eine Bahre zu verfrachten. Eine junge Polizisten nahm den „Selbstunfall“ auf, in dem sie selbst das Selbst befragte nach Geburtsdatum und Heimatort. Sie war erstaunt zu hören, dass wir in Deutschland zwar unsere Heimat haben, jedoch keinen Ort dafür. Nur einen profanen Geburtsort konnte ich anbieten.

    Wir fuhren zum Universitäts-Spital Zürich, das Bein in einer aufblasbaren Schiene fixiert, einige Milligramm Droge im Blut. Nun ist es soweit. Die erste „Blogwiese und das Schweizer Gesundheitswesen“ Under-Cover-Reportage kann beginnen:

  • Bei den Gestrandeten der Nacht
  • Man hielt sich dort zum Glück nicht lange mit Röntgen auf sondern operierte das Bein rasch unter Vollnarkose. Ein paar Stunden später wachte ich fast schmerzfrei mit einem langen Nagel im rechten Schienbeinknochen auf. Glatter Durchbruch beider Knochen, keine Bänder oder Nerven beschädigt. Ich kam in die Sammelstelle für die „Gestrandeten der Nacht“, ein Durchgangszimmer, das sich im Stundentakt mit weiteren Patienten füllte. Hier ein gebrochenes Schienbein, dort ein Eishockey-Unfall, da ein gefährlicher Sturz.

  • Bei Unfall ist der Arbeitgeber gefragt
  • Man fragte mich nach meinem Arbeitgeber. Nicht, um bereits in der Nacht meine Abwesenheit zu melden, nein, es ging um die zuständige Unfallversicherung. In der Schweiz ist jeder Angestellte über seinen Arbeitgeber gegen Unfall versichert. Völlig egal, ob der Unfall bei der Arbeit oder auf dem Heimweg passierte. Ich hatte Glück. Schon bald wurde ich aus dem gemütlichen Sechsbettzimmer mit der Intimität einer Bahnhofshalle in ein Einzelzimmer verlegt. Kriegt man nicht im Krankheitsfall, sondern nur bei einem Unfall. Meine Firma hatte eine private Unfallversicherung mit diesem Service abgeschlossen. Mobiliar mit Charme der Siebziger, Fussbodenbelag aus den Fünfzigern? Wenn ich mag, kann ich mir eine volle Dröhnung Sauerstoff in der Nacht zapfen.

  • Online mit 32 kbps
  • Da ich das Notebook dabei hatte, konnte ich bald online gehen und Kommentare freischalten. Messbare 1.2 mbps in der Zürcher Innenstadt via „HS“. Das ist die Technik oberhalb von „UMTS“. Steht bestimmt für „Hammermässig Schnell“ via Funknetz (siehe: Der Sonnenaufgang an der Absturzkante)
    Keine Ahnung wie das funktioniert. Internet via „Leitung“ gibt es auch im Spital für die Patienten. Muss ne ziemlich lange Leitung sein, kommt auf nur 32 kbps, was jetzt echt kein Schreibfehler ist. Früher hiess das glaub ich „Frame Relay“, kam in der Entwicklung der Telekommunikation recht bald nach der Handvermittlung durch das Fräulein vom Amt. Immerhin schneller als mein 28.8 Modem von vor 10 Jahren. Ungefähr so alt schätze ich diese Technik. Eigentlich ein Witz, denn jede Station ist hier online. Wäre leicht möglich, PWLAN anzubieten. Doch medizinische Daten und privates Blogvergnügen dürfen nicht gemischt werden.

  • Sind Sie Deutscher?
  • Bin jetzt sehr gespannt auf die O-Töne und Erlebnisse hier im Haus und fest entschlossen, im Deutschen Hierarchiewesen sehr rasch zu genesen. Meine erste Frage an den Herrn Professor: „Sind Sie Schweizer?“ Antwort: „Sehe ich so aus?“ Mich dünkt, eine durchaus berechtigte Rückfrage. (Fortsetzung folgt)

    Den Freund des Fischers schmuggeln — Geschichten von der Deutsch-Schweizer Grenze (Teil 1)

    Januar 17th, 2007
  • Auf die Mischung kommt es an
  • Die Deutsch-Schweizer Grenze ist etwas besonderes in Europa. Sie markiert nicht nur die Grenzlinie zu einem „anderen Kulturkreis“, wie wir in unseren ersten Jahren in Bülach durch einen Primarschullehrer erfahren durften, nein, sie wird auch gut bewacht auf beiden Seiten von hochmotivierten Grenzern und Zöllnern. Wenn die Schweizer die Einfuhr der in Deutschland gekauften Waren routiniert kontrollieren, achten Sie vor allem auf ungewöhnliche Mengen. Statt 6 Liter Milch einer Sorte kauft man besser 3 x 2 Liter verschiedene Sorten (5 Kg=Liter pro Nase sind erlaubt).

  • Den Freund des Fischers schmuggeln
  • Vor Jahren war ich quasi süchtig nach Fisherman’s Friend, diesen scharfen Lutschbonbons, bei denen man ja nie fragen darf, wie die denn schmecken, weil man sonst stante pede von einer Nordseewelle überrollt wurde, ganz gleich wo man gerade steht.
    Fisherman’s Friend
    (Quelle Foto: thegreendoorsweetshop.co.k)

    Also kaufte ich mir in einem Anfall von jugendlichen Leichtsinn in Deutschland gleich die ganze Display-Schachtel beim Supermarkt an der Kasse. Ca. 20 Tütchen à 2.50 DM lagen da drin. Ich schätze mal, dass sie damals in der Schweiz 3.50 CHF kosteten, also sicher 30-40% mehr. Genaue Zahlen spielen keine Rolle, denn der Zöller fand zielsicher und geübt die Stelle auf dem Kassenzettel und fragt:
    Er: „Was ist das hier?“
    Ich: „Bonbons“.
    Er: „Und was machen Sie damit?
    Ich: „Lutschen“.

    Wenn er jetzt noch gefragt hätte, wie die denn schmecken, hätte ich für nichts garantieren können. Doch dann wurden wir überraschend durchgewunken ohne dass er dieser scharfen Importware weiter Beachtung geschenkt hätte. Wahrscheinlich zu geringer Fleisch- oder Milchanteil.

  • Der Parallelimport des kleinen Geschäftsmannes
  • Er hegte vielleicht den Verdacht, dass wir einen Kiosk in der Schweiz betreiben und hier einen illegalen Parallelimport versuchten, so wie einst die Migros mit Ferreros Milchschnitten (vgl. „Warum ist die Schweiz eine Hochpreisinsel“) versuchte. Daraus lernte ich: Niemals von einer Sache mehr als 2-3 Einzelteile kaufen, auf die „Bunte Mischung“ auf dem Fliessband an der Supermarktkasse kommt es an.

    Wir möchten nicht wissen, welche Mengen wirklich täglich schwarz in die Schweiz „parallel-importiert“ werden. Es soll da gekühlte Lieferwagen geben, die immer nur von der Schweiz aus in Richtung Deutschland leer die Grenze überqueren und danach nie zurückkehren. Jedenfalls nicht über die bewachte Grenze, und wahrscheinlich auch nicht leer.

    Langes Fädchen, faules Mädchen — Was alles langfädig ist in der Schweiz

    Januar 16th, 2007
  • Wasserkraft und Webereien im Linthtal
  • Die Industriegeschichte der Schweiz ist eine Reihung von Erfolgen und Niedergängen. Es fehlten die natürlichen Ressourcen wie Eisenerz oder Kohle. Aber es gibt Wasserkraft in jedem Tal, und die liess sich nutzen um z. B. mechanische Webstühle und Spinnereien anzutreiben. So lasen wir über das Glarnerland:

    Während der Blütezeit um 1865 arbeiten in den 22 Druckereien etwa 6000 Menschen, die jährlich grosse Mengen Tücher hauptsächlich mittels Handmodel bedrucken. In den zahlreichen Spinnereien und Webereien sind zudem annähernd 4000 Arbeitende tätig. Die Textilindustrie beschäftigt fast einen Drittel der stark gewachsenen Gesamtbevölkerung, die 1870 mit 35 200 eine Höhe erklimmt, die in den folgenden sechs Jahrzehnten nicht mehr erreicht werden soll.
    (Quelle: www.glarusnet.ch)

    Ein bequemer Radwanderweg erlaubt es, vom oberen Ende des Tals ab Linth bis hinunter zum Bahnhof Ziegelbrücke auf 50 Km an den 80 ehemalige Spinnereien und Webereien den „Glarner Industrieweg“ zu erkunden. Sportlich ambitionierte Biker fahren natürlich in Gegenrichtung bergan von Ziegelbrücke nach Braunwald. Es ist geradezu unheimlich zu erkennen, wie gespenstig unbewohnt und verlassen die Orte im oberen Teil des Linthtals heute sind und sich das Tal mit jedem zurückgelegten Kilometer bergab erst nach und nach belebt, je mehr man sich dem Hauptort Glarus nähert, und je kürzer die Pendeldistanz zum nahen Kanton Zürich wird.
    Betrieb im Linthtal
    (Quelle Foto: glarusnet.ch)

    Weben und Spinnen sind also altbekannte Techniken in der Schweiz. Ein langer Faden muss selten gewechselt werden, und bei der Handarbeit gilt „langes Fädchen — faules Mädchen“, weil selten ein neues Stück Garn eingefädelt werden muss. Vielleicht rührt daher auch die Erfahrung, eine „landfädige“ Tätigkeit ziemlich langweilig ist.

  • Pflegen Sie auch langfädige Rituale?
  • Wir lasen im Tages-Anzeiger:

    In langfädigen Ritualen macht der Gemeinderat alle paar Wochen Hunderte von im Ausland geborenen Ausländern zu Schweizern.
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 30.11.06)

    Wir fanden weitere Überbleibsel der Textilindustrie:

    Das halbherzige Engagement, mit langfädigen Entscheidungen und Verspätungen führte dazu, dass die NEIN-Kampagne in der Öffentlichkeit kaum sichtbar war.
    (Quelle: viavia.ch)

    Sogar im Sprachgebrauch Schweizer Linux-Freaks erhielt sich die textile Tradition:

    Dort fand man es in etwa hundert Unterordnern was zu einer sehr langfädigen URL führte
    (Quelle: Linuxinfozentrum.ch)

    Für „langfädig“ findet sich bei Google-CH 1‘070 Belege. Die Variante “langfädigen” ist immer noch mit 434 Exemplaren
    dabei. Kein Wunder, denn ist tatsächlich eine echte Schweizer Variante:
    Unser Duden meint:

    langfädig (Adj.) (schweiz.): weitschweifig, langatmig und langweilig: langfädige Erklärungen.
    (Quelle: duden.de)

  • Gepflegte Fadesse bei den Österreichern
  • Lässt man das „lang“ weg, kommt man schnell von „fädig“ zu „fade“, für „reizlos“ oder „langweilig“. Die Österreicher haben daraus sogar ein Tätigkeitswort für gepflegte Langeweile geformt. Sie „fadisieren“ ganz einfach (670 Funde bei Google-AT) . Und folglich ist Langeweile in Österreich auch eine „Fadesse“. (14‘000 Funde)

  • Was nicht fad ist, ist dröge
  • In meiner Heimat in Nordwestdeutschland sagen die Menschen statt „fade“ oder „langfädig“ lieber „dröge“. Das hat nun leider gar nichts mit dem „Drögeler“ zu tun und das Wort „Dröge“ ist in der Schweiz eher ein Nachnamen als ein Adjektiv. Beeindruckende 406‘000 Fundstellen bei Google-DE gegenüber nur 22‘600 bei Google-CH belegen gut, dass diese Adjektiv den Schweizern als Variante für „langweilig“ eher fremd ist. Die ersten Belege stammen übrigens von einer Seite namens „Blogwiese“: Sei nicht dröge und werde kein Drögeler.

  • Ich lisme einen Lismer
  • Falls Sie bis hierhin durchgehalten haben bei dieser langfädigen Lektüre, dann herzlichen Glückwünsch! Sie dürfen jetzt zur Abwechslung Wolle kaufen gehen und damit einen „Lismer“ „lismen“, sofern sie in der Schweiz leben oder mit langem Faden eine Strickjacke stricken, wennSie in Deutschland wohnen und dies nicht zu dröge finden.

    Der Deutsche wäre eigentlich gerne so wie wir – weil er das nicht schafft, lacht er uns aus — Roger Schawinski über Schweizer und Deutsche

    Januar 15th, 2007
  • Schweizer sind per se keine Respektpersonen
  • In der Beilage „Das Magazin“ des Tages-Anzeigers vom 05.01.07 schreibt der gewesene SAT1-Chef Roger Schawinski über die Schweizer und die Deutschen:

    Schweizer sind per se keine Respektpersonen, aber auch keine Hassvorlagen. Man nimmt sie einfach nicht ganz ernst, auch wenn man die Schweiz heimlich bewundert.
    (Quelle: Alle Zitate nach medienlese.com)

    Eine unglaubliche Erkenntnis. Welche andere Nation ist denn bitte schön „per se“ eine Respektperson bzw. eine Hassvorlage? Bruno Ganz wird wegen seiner schauspielerischen Leistung respektiert, nicht weil er Schweizer ist. Und wenn jemand persönliche Probleme mit DJ BoBo hat, dann eher weil er auf eine andere Musik abfährt und nicht weil er ihn als Schweizer Hassvorlage sieht. Zumal der Künstlername „Bobo“ seine Produkte in manchen Ländern sowieso unverkäuflich machen, weil sie unter „censored“ fallen. Ein Grund, warum die Schreibweise BoBo so wichtig ist.

    Roger Schawinski
    (Quelle Foto: about.ch)

  • In der Schweiz findet man Qualitäten
  • Denn die Schweiz ist, wenn man ein bisschen tiefer bohrt, in vielen Aspekten so, wie man sich das eigene Land wünscht. In der Schweiz findet man Qualitäten, die man früher auch besass und auf die man stolz war, und die man für immer verloren glaubt.

    Bravo! Er zitiert den bekannten Mythos von der „Schweizer Qualität“, die es sonst nirgends gibt. Wir haben das Thema bereits hier diskutiert: Swiss Quality regiert die Welt.

    Was in der Schweiz ganz ausserordentlich gut funktioniert, ist die Vermarktung dieses Mythos. Der Wert „Swiss Quality“ an sich ist nicht subjektiv messbar. Seine Verbreitung und sein Bekanntheitsgrad jedoch sehr wohl. Absolut beeindruckend läuft in diesem Land ausserdem die Marketing-Maschine für die Schweiz als „naturnahes Heidiland“,welche das „Schokoladen&Käse-Heile-Welt“ Image auf Geissenpeters Alm propagiert.

  • Warum die Deutschen in die Schweiz ziehen
  • Deshalb ist es kein Wunder, dass es immer mehr Deutsche in die Schweiz zieht. Zwar besitzen Länder wie Australien, Kanada oder die USA viel mehr Glamour, und in ihrer Fantasie stellen sich Millionen von Deutschen ein neues, spannenderes Leben in einem dieser grossen, weiten Länder vor. Aber wenn sie beginnen, kühl zu analysieren, fällt ihre Wahl immer öfter auf die kleine, nahe Schweiz.

    Auch hier irrt Schawinski gewaltig. Die so häufig als „romantisch“ und ihrem Gefühl folgenden Deutschen werden durch ganz pragmatischen Gründen bewogen, in die Schweiz zu gehen. Zürich liegt von Stuttgart oder Frankfurt einfach weniger weit entfernt als Vancouver oder Chicago. Nach Kanada oder in die USA wandern immer noch Menschen aus, aber der Umzug dorthin ist schlichtweg nicht so einfach wie die kurze Reise in die Schweiz bzw. die Stellensuche übers Internet, erleichtert durch die Freizügigkeit und den baldigen Wegfall der Kontingente.

  • Lieber am Zürichsee als am Wannsee leben
  • Deshalb ist unser Land in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswandererland der Deutschen avanciert. Vor allem Zürich ist zur neuen Traumdestination geworden. Stundenlang hat man mir die Vorzüge dieser Stadt beschrieben und immer wieder betont, dass man sich nichts sehnlicher als ein Haus an diesem einen wunderbaren Ort wünschen würde.

    Ich glaube Schawinski gern, dass ihm dies die Berliner erzählen, die sich im kalten Winter in Ostdeutschland kalte Füsse holen und auch gern einmal 50 Minuten vom nächsten Skigebiet entfernt wohnen möchten. Darum ist auch München immer noch die „heimliche Hauptstadt“ Deutschlands. Wenn in Zürich keine Jobs offeriert würden, sondern wieder in Stuttgart und dem Mittleren Neckarraum, der innerdeutsche „Brain-Drain“ würde sofort wieder in diese Richtung fliessen, wie bereits in den 90ern, als frisch diplomierte Ingenieure nur dort oder im Grossraum München einen Job finden konnten.

  • Was die Deutschen in der Schweiz suchen und finden
  • Hier suchen und finden sie die deutsche Ordnung in Form von funktionierenden Institutionen, hier und nicht mehr in ihrem Heimatland, was sie mit einer gewissen Wehmut zur Kenntnis nehmen.

    Ich zähle mal eine Reihe dieser „funktionierenden Institutionen“ auf, die Deutsche hier finden und vorher in Deutschland mit Wehmut vermisst haben. Als da sind:
    — Kindergärten an 2-3 Stunden am Tag, abwechselnd mal morgens oder nachmittags.
    — Zahnärzte zum selbst bezahlen.
    — Kinderkrippen für Gutbetuchte.
    — Ein traumhaftes Angebot an Wohnungen und Häusern, zu noch traumhafteren Preisen.
    — Behörden die für jeden administrativen Akt Gebühren verlangen, besonders für die x-te Neuauflage einer L-Bewilligung (vgl. Blogwiese).
    — Besondere Behandlung von schwerreichen Exil-Deutschen die deutlich weniger Steuern bezahlen als vergleichbar vermögende Schweizer oder normal arbeitende Deutsche.

  • Deutsche Ordnung in der Schweiz?
  • Nun, wir sind ja für unsere „Motzkultur“ bekannt und haben uns mit diesen Unterschieden gut arrangiert. Aber „deutsche Ordnung in Form von funktionierenden Institutionen“ sind mir in der Schweiz noch nicht als herausragendes Merkmal aufgefallen. Die Institutionen funktionieren gut, da gibt es nix zu meckern, aber auch nichts zu bejubeln.

    Dass ihnen die langsamen, bedächtigen Schweizer in diesen wichtigen Belangen den Rang abgelaufen haben, können sie nur mit einer kapitulierenden Absage an die Reformmöglichkeiten im eigenen Land verargumentieren, dessen sichtbarstes Symbol eine verkrustete grosse Koalition unter der Führung einer zaudernden Angela Merkel ist.

    Die wahren Meister der „grossen Koalition“ sind mit Abstand die Schweizer, die ihre Form der „Konsensdemokratie“ mit der „Zauberformel“ bereits erheblich länger an der Macht haben als es für Deutsche je vorstellbar wäre. In Deutschland folgte auf die erste „Grosse Koalition“ wieder der übliche Wechsel zwischen Regierung und Opposition.

  • Reformen stehen auch in der Schweiz an
  • Auch in der Schweiz stehen Reformen an, auch hier werden „verkrustete“ Strukturen nur mühsam aufgebrochen. Die Probleme beider Ländern sind ähnlich. Die Geschwindigkeit, mit der Lösungen gefunden werden, gleich langsam. Der Hauptunterschied in der Schweiz ist, dass alle grossen Themen vom Volk mit entschieden werden müssen und daher von Anfang an eine breite Unterstützung benötigen, während in Deutschland das Volk sich lieber von oben regieren lässt, bzw. von den Müttern und Vätern der Verfassung und der Bundesrepublik in diese Rolle gesteckt wurden.

  • Der Deutsche Bedarf an Revolution ist noch gestillt
  • Ausserdem sind in der Schweiz noch echte Revolutionen möglich, wie die Gründung des Kanton Juras oder die im Kanton Glarus im Mai 2006 beschlossene Reduktion von 25 auf 3 Gemeinden. In Deutschland haben wir seit dem Herbst 1989 noch unsere letzte Revolution aufzuarbeiten. Föderalismusreform steht nun auf dem Programm.

    „Der Deutsche wäre eigentlich gerne so wie wir – weil er das nicht schafft, lacht er uns aus“
    (Das Magazin 01-2007, S. 25)

    Zu dieser Aussage fällt mir nichts ein. Sie lässt mich sprachlos. Ich wusste überhaupt noch nicht, ob ich wie irgend jemand sein wollte auf der Welt. All die positiven typischen Eigenschaften, die uns gewöhnlich im Zusammenhang mit „typischen Schweizern“ einfallen, als da sind Fleiss, Pünktlichkeit, Disziplin, Beharrlichkeit etc. werden auch häufig im Zusammenhang mit Deutschen zitiert. Und ob nun ausgerechnet die vielzitierte Höflichkeit der Schweizer für Deutsche eine nachahmenswerte Tugend sein muss, darüber lässt sich streiten. Die Deutschen bleiben dafür wesentlich länger beim höflichen „Sie“. Die gleiche Höflichkeit, die sich beim Tür-Aufhalten und beim Betreten eines Fahrstuhls zeigt, ist bei der nicht vorhandenen Begeisterung für das typisch britische Schlangestehen wieder verschwunden.

  • Wer lacht über die Schweizer?
  • „weil er das nicht schafft, lacht er uns aus“
    (Das Magazin 01-2007, S. 25)

    Die Deutschen lachen doch nicht über die Schweizer, sondern über den in ihren Ohren ungewohnten Hoch- und Höchstalemannischen Dialekt, den sie einfach putzig finden. Zunächst, denn nach 2-3 Monaten im Land verliert sich diese komische Effekt ganz von allein. Roger Schawinski hat mit dieser Äusserung Nahrung geliefert über den klassischen Schweizer Minderwertigkeitskomplex:
    Ihr lacht uns aus“. Man muss es oft genug wiederholen, damit es auch jeder glaubt. Die meisten Deutschen nehmen die Schweizer gar nicht als Schweizer war, sind sich der vielen tausend unter ihnen lebenden Schweizern gar nicht bewusst und haben das Schimpfwort „Kuhschweizer“ noch nie gehört.