Je me casse — Live und in Echtzeit unter den Gestrandeten der Nacht
Wer sich in Frankreich davonmacht, verabschiedet sich nicht „auf Französisch“, sondern sagt zum Beispiel. „Je me casse“ = ich zerbreche mich. Leider wurde bei mir jetzt eine self-fulfilling prophecy daraus.
Am Dienstagabend hatte ich es in der Zürcher Innenstadt besonders eilig auf den Zug zu kommen. So eilig, dass ich meinen Scooter für den „Turnschuh-Anschluss“ im Laufen durch die Fussgängerzone aufklappte. Es ist ein schneller „MACRO“ Scooter mit grossen Rädern. Absolut sicher, wenn man den Sicherheitshebel umlegt…
Dies vergass ich leider und fuhr dennoch los. Nach ca. 15 Meter war ich etwa 15 Km/h schnell und befand mich in der Löwenstrasse. Dann ging alles sehr schnell. Der Scooter klappte sich zusammen und machte eine Vollbremsung. Körpermasse und Geschwindigkeit entwickelten eine gewisse Bewegungsenergie, die sich dummerweise auf meinem rechten Unterschenk direkt über dem Fuss entlud. Ich stürzte und stellte im Liegen fest, dass mein rechter Fuss merkwürdig weit um 45 Grad nach hinten verdreht war. Ich wollte gar nicht mehr so genau hinschauen. Nein, ein Knacken hatte ich nicht gehört, aber Schien- und Wadenbein waren gebrochen.
Die Ambulanz war zum Glück bald da, ein freundlicher Passant stellt sich als Anästhesist namens Philip vor. Er stützte mich bis dahin und milderte den Schock. Was muss man anrufen? 117? 118? 112? 114? Noch am Morgen hatte ich im Tagesanzeiger darüber gelesen, dass die Notdienste in jedem Kanton der Schweiz andere eigene Notrufnummer verwenden und Bemühungen im Gange sind, das auf die europäische Notrufnummer „112“ zu vereinfachen.
Man legte mir noch auf dem kalten Bürgersteig eine Infusion mit starkem Schmerzmittel, um dann den Fuss gerade richten zu können und mich auf eine Bahre zu verfrachten. Eine junge Polizisten nahm den „Selbstunfall“ auf, in dem sie selbst das Selbst befragte nach Geburtsdatum und Heimatort. Sie war erstaunt zu hören, dass wir in Deutschland zwar unsere Heimat haben, jedoch keinen Ort dafür. Nur einen profanen Geburtsort konnte ich anbieten.
Wir fuhren zum Universitäts-Spital Zürich, das Bein in einer aufblasbaren Schiene fixiert, einige Milligramm Droge im Blut. Nun ist es soweit. Die erste „Blogwiese und das Schweizer Gesundheitswesen“ Under-Cover-Reportage kann beginnen:
Man hielt sich dort zum Glück nicht lange mit Röntgen auf sondern operierte das Bein rasch unter Vollnarkose. Ein paar Stunden später wachte ich fast schmerzfrei mit einem langen Nagel im rechten Schienbeinknochen auf. Glatter Durchbruch beider Knochen, keine Bänder oder Nerven beschädigt. Ich kam in die Sammelstelle für die „Gestrandeten der Nacht“, ein Durchgangszimmer, das sich im Stundentakt mit weiteren Patienten füllte. Hier ein gebrochenes Schienbein, dort ein Eishockey-Unfall, da ein gefährlicher Sturz.
Man fragte mich nach meinem Arbeitgeber. Nicht, um bereits in der Nacht meine Abwesenheit zu melden, nein, es ging um die zuständige Unfallversicherung. In der Schweiz ist jeder Angestellte über seinen Arbeitgeber gegen Unfall versichert. Völlig egal, ob der Unfall bei der Arbeit oder auf dem Heimweg passierte. Ich hatte Glück. Schon bald wurde ich aus dem gemütlichen Sechsbettzimmer mit der Intimität einer Bahnhofshalle in ein Einzelzimmer verlegt. Kriegt man nicht im Krankheitsfall, sondern nur bei einem Unfall. Meine Firma hatte eine private Unfallversicherung mit diesem Service abgeschlossen. Mobiliar mit Charme der Siebziger, Fussbodenbelag aus den Fünfzigern? Wenn ich mag, kann ich mir eine volle Dröhnung Sauerstoff in der Nacht zapfen.
Da ich das Notebook dabei hatte, konnte ich bald online gehen und Kommentare freischalten. Messbare 1.2 mbps in der Zürcher Innenstadt via „HS“. Das ist die Technik oberhalb von „UMTS“. Steht bestimmt für „Hammermässig Schnell“ via Funknetz (siehe: Der Sonnenaufgang an der Absturzkante)
Keine Ahnung wie das funktioniert. Internet via „Leitung“ gibt es auch im Spital für die Patienten. Muss ne ziemlich lange Leitung sein, kommt auf nur 32 kbps, was jetzt echt kein Schreibfehler ist. Früher hiess das glaub ich „Frame Relay“, kam in der Entwicklung der Telekommunikation recht bald nach der Handvermittlung durch das Fräulein vom Amt. Immerhin schneller als mein 28.8 Modem von vor 10 Jahren. Ungefähr so alt schätze ich diese Technik. Eigentlich ein Witz, denn jede Station ist hier online. Wäre leicht möglich, PWLAN anzubieten. Doch medizinische Daten und privates Blogvergnügen dürfen nicht gemischt werden.
Bin jetzt sehr gespannt auf die O-Töne und Erlebnisse hier im Haus und fest entschlossen, im Deutschen Hierarchiewesen sehr rasch zu genesen. Meine erste Frage an den Herrn Professor: „Sind Sie Schweizer?“ Antwort: „Sehe ich so aus?“ Mich dünkt, eine durchaus berechtigte Rückfrage. (Fortsetzung folgt)
Januar 19th, 2007 at 21:56
Auch von mir: Alles Gute! Und doch, was bedeutet es wohl, wenn du dir auf solch dramatische Weise eine Ruhepause einräumst? Zuerst einmal eine Menge Postings auf der Blogwiese! Wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen, du hattest doch auch sonst recht viel Zuspruch, oder? Raus aus der Hektik, mal mehr Zeit zum Verweilen? Schade, da gibt es ja noch das Laptop, das dich wieder online gehen lässt und dich wieder konnektiert mit der Matrix…
Januar 20th, 2007 at 15:21
Oje, das tönt nicht nicht gut. Hab eben mein Badezimmer unter Wasser gesetzt und gedacht, ich hätte ein Problem. Nichts im Vergleich zu Deinem Selbstunfall. Gute Genesung!
Psalmist
Januar 21st, 2007 at 12:20
Je me casse – der Unfall von Jens Wiese. Beiläufig steht in Wieses Erlebnisbericht, dass ihn eine Polizistin nach Geburtsdatum und Heimatort gefragt habe und am Stichwort Heimatort entbrannte dann in den Kommentaren eine Diskussion über Geburtsort, Heimatort und Bürgerort. Weil ich nun weiss, dass Jens Wiese seinen Unfall gut überstanden hat, wende ich mich auch dem Nebenthema zu: Nach dem Bürgerort zu fragen ist nicht korrekt. Der Plural ist gefragt, nach den Bürgerorten soll gefragt werden! Ein Beispiel: Von meinem Vater erbte ich 2 Bürgerorte, Mandach und Zürich. Weil ich lange in Meilen wohnte, erhielt ich dazu noch das Bürgerrecht von Meilen. Und meine Tochter wünschte sich bei der Heirat noch die beiden Bürgerrechte ihres Gatten (Zwischentotal: 5 Bürgerrechte). Nach einigen Jahren regte sich in meiner Tochter der Wunsch, auch Bürgerin ihres gegenwärtigen Wohnortes zu werden. Der Gemeinderat des Wohnortes machte seine Zustimmung jedoch vom Einverständnis der Behörden der 5 bisherigen Bürgerorte abhängig. Meine Tochter schrieb nun 5 Briefe und schilderte darin ihre Verbundenheit mit den bisherigen Bürgerorten so treffend, dass sie umgehend die 5 erforderlichen Zustimmungen erhielt und damit auch das Bürgerrecht ihres heutigen Wohnortes bekam. Diese überbordende Entwicklung stösst aber an ihre natürlichen Grenzen, denn auf den amtlichen Formularen steht für die Nennung der Bürgerorte meistens nur eine einzige Zeile zur Verfügung!
[Anmerkung Admin: Die korrekte Antwort auf die Frage nach dem Bürgerort lautet in dem Fall: „Haben Sie ein bisschen Zeit und genug Tinte im Füller? 🙂 ]