Kriegt man vom Karisieren eigentlich Karies? — Neue Schweizer Lieblingswörter

Juli 15th, 2008
  • Treffen wir uns zum Karisieren?
  • Wir waren mit der Bahn unterwegs und lasen in der SBB Kundenzeitschrift „VIA“ diesen Absatz:

    Kurz vor der Schiffstation Büsingen taucht auf der Schweizer Rheinuferseite die «Verlobungsbucht» auf, an der sich junge Paare einst zum Baden und «Karisieren» getroffen haben sollen. Und es noch immer tun dürften. Verliebt, verlobt, verheiratet.
    (Quelle: VIA)

    Schnell die freundliche Mitreisende in der S-Bahn befragt, was dieses in „Gänsefüsschen“ gesetzte „karisieren“ wohl bedeutet. Keine Ahnung, vermutlich etwas wie „caresser“ (= Franz. „streicheln, liebkosen). Wie, ein Westschweizerwort, das nicht in der Originalschreibweise verwendet wird, so wie „touchieren“, „plafonieren“, „sistieren“ und „parkieren“? Schauen wir mal, was unser Duden davon hält:

    Duden Karisieren
    (Quelle: duden.de)
    So ein Pech auch! „arisieren“ oder „karikieren“ waren wirklich nicht gemeint.

  • Beim Karisieren fotografiert!
  • Dabei gibt es im Internet sogar Fotos vom „karisieren“:
    Simu am karisieren
    Ob das Wort, der Abbildung gemäss, „in geschlossene Räumen die Wollmütze nicht abnehmen und den Kopfhörer im Ohr lassen (und dabei dämlich fröhlich grinsen“ bedeutet?

    Doch diesmal lässt sich das Geheimnis dieses Wortes rasch lüften. Wir finden die Erklärung in einer „Schatzchischte“ (was das zischt beim Vorlesen!)

    karisieren
    Zugegeben: Ein nicht mehr ganz taufrischer, dafür sehr sympathischer Ausdruck. Karisieren also gesetztere Zürcherinnen und Zürcher, wären die jüngeren Zeitgenoss(inn)en neudeutsch schlicht am Herumflirten wenn nicht gar am „umemache.“
    (Quelle: schatzchischte.ch)

    Beim Züri-Slängikon hingegen beharrt man auf zwei „r“ in „karrisieren“:
    karrisieren heisst flirten
    (Quelle: Züri-Slängikon)

    21 Fundstellen von „karisieren“ vs. 2 zu „karrisieren“ belegen, dass die Schreibweise mit zwei „r“ eher die Ausnahme ist.

  • Berndeutsch oder Züridütsch?
  • Eine Kollegin aus Bern hält es für ein „ganz altes Berndeutsches Wort“. Und richtig, im Berndeutschen Lexikon findet sich auch, allerdings mit „ch“ am Anfang:

    charisiere
    (Quelle: berndeutsch.ch)

    Doch Google bringt noch merkwürdige weitere Verwendungen zum Vorschein:

    Um sein Leben karisieren mehrere Legenden und Sagen, allerdings ist über ihn bekannt das er in Griechenland lebte und vermutlich ein Sklave war. Das einfache Volk liebte einfache Geschichten die unterhielten und belehrten.
    (Quelle: duckipedia.de)

    Ob da nicht eher „kursieren“ gemeint war und ein liebestolles Rechtschreibprogramm ein bisschen über die Stränge schlug?

    Wie sagen Sie diesem Gegenstand? — Neues aus der Schweizer Germanistik

    Juli 10th, 2008
  • Wie sagen Sie den allfällige Veränderungen?
  • Am „Deutschen Seminar“ der Universität Zürich wird der Wortschatz des Schweizerdeutschen erforscht. Um möglichst gute Daten zu bekommen, wurde hierzu ein Fragebogen ins Internet gestellt. In der Einleitung heisst es:

    Der Wortschatz des Schweizerdeutschen wurde Mitte des 20. Jahrhunderts im Rahmen des Projekts ‚Sprachatlas der Deutschen Schweiz (SDS)‘ erfasst. Die Ergebnisse sind in einem mehrbändigen Werk mit demselben Titel veröffentlicht. Seither haben sich die schweizerdeutschen Dialekte weiterentwickelt, besonders der Wortschatz hat sich dabei vermutlich stark verändert. Mit der folgenden Umfrage wollen wir anhand einer begrenzten Zahl von Begriffen allfällige Veränderungen gegenüber dem SDS erfassen und dokumentieren.
    (Quelle: ds.uzh.ch)

    Viele der im Fragebogen behandelten Schweizerdeutschen Varianten hatten wir schon auf der Blogwiese besprochen (z. B. hier den Brotanschnitt). Dennoch sind wir fasziniert, auf wieviele Varianten es die abgefragten Begriffe bringen.

  • Bätzi, Buschgi oder Bixi?
  • Hier die Frage nach der „Apfelkitsche“ (Nordwestdeutsch für den Rest eines gegessenen Apfels)

    Bätzi, Buschgi oder Bixi?
    (Quelle Foto: ds.uzh.ch)

    Mehr noch als die Varianten fasziniert uns allerdings die Frage: Wie sagt man diesem Gegenstand an Ihrem Ort?
    Man sagt „diesem Gegenstand“ gar nicht, sondern man sagt entweder „zu“ diesem Gegenstand etwas, oder überhaupt nicht, jedenfalls im Standarddeutschen. Die Schweizer Germanistik pflegt aber auch hier auf wunderbarer Weise ihren helvetischen Variantenreichtum in der Grammatik.

  • Rettet dem Dativ
  • Aber wir wollten ja schon längst dem Verein „rettet dem Dativ“ betreten, also warum nicht gleich diese Frage als Mitbringsel schön einpacken und „ihm“ mitbringen. Wenn die mir dann anrufen, dann sag ich auf Verlangen diesem Gegenstand alles was die hören wollen. Sind damit alle „allfälligen“ Fragen beantwortet? Schön, sind Sie dabei gewesen, wir danken ihnen, wenn sie erst noch den Fragebogen ausgefüllt haben. Für einmal war das wunderbar. Für die Uni-Zürch war das der Jens-Rainer Wiese.

    Was ist ein Schnügel? — Neue Schweizer Kosenamen

    Juli 9th, 2008
  • Blick schärft den Blick
  • Durch die abendliche Lektüre der Schweizer S-Bahn-Heimfahrer-Zeitung „Blick am Abend“ haben wir erfolgreich ein neues Schweizerdeutsches Wort gelernt. Wissen Sie, was ein „Schnügel“ ist?

    Es könnte eine Abkürzung sein, dann allerdings SCHNÜGEL geschrieben. Jedoch für was? Persil ist die Abkürzung für „Perborat und Silikat“ , Adidas steht für den Firmengründer „Adi Dassler“. Aber Schnügel? Auch so Schweizergeheimnis wie „FIGUGEGL„?

  • Der Schniedel vor der Monophthongierung?
  • Vielleicht ist es ja die Schweizerform für einen „Schniedel“? So kurz vor der Lautverschiebung, nach der Monophthongierungvon „„ie“zu“ü„. Ein Schweizerschniedel sozusagen? Nein, wenn sie ein Schnügel zu Gesicht bekommen in der Schweiz, dürfen sie dies laut ausrufen: „Ach, wie herzig!“ oder auch „Jöö“, mehr nicht.

    Beim „blickamabend“ sah der Schnügel so aus:
    Schügel bei Blick
    (Quelle Foto: blick.ch)

    Hochdeutsch heisst dieses Tier übrigens „Meersäuli“.

    Das Züri-Slangikon bietet als Synonyme für dieses familiäre Kosewort noch ein paar weitere Bezeichnungen an:

    Allesabeschluckerli, Amediesli, Ängeli, Anke-Flöckli, Augesternli, Augöpfeli, Bibi, Böhnli, Bölleli, Böpperli, Bubeli, Büebli, Bugi, Büsi, Chäferli, Chätzli, Chnöpfli, Chnopi (Abk. für Knollenblätterpilz), Chnuschperli, Chnuschpertäschli, Chröttli, Chrüseli, Deutscher, en Knubbel (jem. zum Knuddeln), Flöckli, Goldchäfer, Hasibärli, Häsli, Herzchäferli, Honey (engl.), Honigbienli, Liechtli, Lumpetitti, Lumpetuech (scherzhaft, nach einem Kinderstreich), Mausebärchen, Möckli (mollige Frau), Mückli, Muggi, Müsli, Pflödderli, Pfüderi, Prinz, Rugeli, Schätzeli, Schätzi, Schläckerli, Schnadehüdeli, Schnäggechäfer, Schnäggli, Schnitte (Sahneschnitte), Schnügel, Schnuggebuzzeli, Schnuggi, Schnurpeli, Schnusi, Schnusimusi, Seelewärmerli, Spätzli, Sternli, Sternschnuppe, Stinkerli, Strampli, Sunneblüemli, Tickerli (Dickerchen), Tigerli, Tigi, Tummerli (tröstend), Zuckerschnägg, Zuckerschnoizli, Zwergli
    (Quelle: slangikon)

    Schweizer Kosenamen

    Das „Müsli“ ist nicht zum Essen, jedenfalls nicht, wenn sie keine Katze sind. Soviele schöne neue Wörter. Wie kann man seinen Liebsten bloss „Knollenblätterpilz“ = Chnopi nennen? Oder „Schnusimusi“, das klingt wie „schmusen muss i“. Und was „Lumpetitti“ im Detail bedeutet, wollen wir auch gar nicht so genau wissen. Bestimmt was zum Hinschauen, oder zum Saubermachen, oder beides.

    Sei nüchtern wenn es nüchtelt — Regen in Tokio

    Juli 7th, 2008
  • Wenn es regnet in Tokio
  • Der Tokio Korrespondent Christoph Neidhart verfasste eine lesenswerte Kolumne im Tages-Anzeiger über die Regenzeit in Asien, genauer gesagt in Japan.

    Es regnet. Die Zeitung morgens im Briefkasten ist weich und feucht, das ganze Haus nüchtelt: Es ist Regenzeit in Japan.
    (Quelle aller Zitate: Tages-Anzeiger 26.06.08 S.8)

    Bin ich noch ganz nüchtern oder habe war das eben ein Druckfehler. Es „nüchtelt“? Ist Christoph Neidhart ein Schweizer? Wir lesen weiter:

    Wenn es in Japan regnet, dann hat das mit dem, was man in der Schweiz Regen nennt, wenig gemein. Es schüttet, manchmal mehrere Tage. Und immer noch mehr Wasser. An solchen Tagen trage ich Ölzeug wie ein Fischer auf hoher See, wenn ich die Kleine mit dem Fahrrad in den Kindergarten bringe. Und sie natürlich auch. Dazu Gummistiefel.

    Wenn er mit dem Fahrrad fährt, und nicht mit dem Velo, dann kann er kein Schweizer sein. Aber halt:

    Zur Regenzeit gehört auch, dass die Wäsche nicht trocknet. Tokio ist meist windig, von August bis Oktober sehr heiss und im Winter trocken, deshalb genügen normalerweise ein paar Stunden, schon kann man die Wäsche abnehmen. Im Juni dagegen bleibt sie, auch wenn es nicht regnet, tagelang hängen. Und nüchtelt schon, wenn man sie abnimmt.

    Da „nüchtelt“ es ja schon wieder! Und am Ende der Kolumne heisst es:

    Dann gönnt uns die Regenzeit frische Sommertage mit schnellen Wolken, fast wie in den Bergen. Es ist für einmal nicht schwül. Aber es wird bald wieder regnen.
    (Quelle Tages-Anzeiger 26.06.08 S. 8 )

    Das muss „für einmal“ doch ein Schweizer sein, der „erst noch“ sein Velo daheim vergessen hat.
    Der Duden fragt, nach „nüchteln“ befragt, trocken zurück „Meinten Sie ‚nüchtern`?“ Nein, wir meinten „nüchteln“, auch wenn die meisten Fundstellen im Internet offensichtliche Falschschreibungen von „nüchtern“ sind. Aber wie immer lässt uns das alte Wörterbuch der Gebrüder Grimm nicht in Stich. In seltener Ausführlichkeit werden Belege aus diversen Schweizer Mundarten zitiert. Vom Bündnerland über Appenzell und Basel ist alles dabei:

    NÜCHTELN:
    schweizerisches wort: nu̔chteln, graw oder schimlig sein, mucere FRISIUS 843a. MAALER 308c. DENZLER 214b;

    bei STALDER 2, 244 nüechten, nüchten, nüechtelen mit der bemerkung, dasz in Bündten nüechtelen den ersten grad von verderbnis beim fleisch bezeichnet;

    appenz. nüechteln von schadhaftem getreide, wegen nässe oder aus mangel frischer luft anbrüchig riechen oder schmecken; eine unangenehme leere im magen empfinden. TOBLER 338b;

    basl. nüechtele, nüechte, feucht, schimmelig riechen, nach SPRENGS handschriftl. Basler idiotikon von denen gesagt, ‚deren athem des morgens nach dem nüchternen magen riecht (vergl. FISCHART Garg. 24b wann man nach nüchterheit schmeckt .., nuchtern stinkt eim der athem), desgleichen von wein-, bier- und theegefäszen, welche man eine zeit lang ungeschwenkt stehen läszt, dasz sie davon müchzend werden‘. SEILER 224a. vergl. nüchtern I, 4.
    (Quelle: Grimms Wörterbuch)

    Wird ihnen auch so „graw“ beim Lesen? Oder bekommen Sie auch so einen Durst? Dann sollten wir rasch etwas dagegen tun, dass der Atem des Morgens nicht mehr nach nüchternen Magen riecht, jawohl. Es hat sich ausgenüchtelt. Wie fragte Otto einst den notorischen Säufer Karl Soest: „Na, schon gefrühstückt? — Nee, keinen Tropfen“. Karl Soest, Prost!

    Es kreiselt, es kräuselt und es chrüselet — Neue Schweizer Lieblingswörter

    Juni 24th, 2008
  • Es chrüselet total
  • Bei unserem andauernden und nicht enden wollenden Kampf um die Erlernung der modernen Schweizer Schriftsprache der Gegenwart stiessen wir auf dieses Zitat:

    Die Blüte ist schön gelb und sieht aus wie eine kleine runde Bürste. Wenn man sie in den Mund nimmt, gibts den gleichen Effekt, wie wenn man den negativen und den positiven Pol einer Batterie an die Zunge hält: Es chrüselet total.
    (Quelle: Tages-Anzeiger 21.06.08, S. 70)

    Nun, den Geschmack von Strom, wenn man mit der Zunge an die beiden Zungen einer 4.5 Volt Flachbatterie kommt, kennen wir wohl. Das soll „chrüselen“ sein?

  • Es chrüselet äs Lüftli
  • Aus der Bülacher Lokalzeitung, dem „Neuen Bülacher Tagblatt“ lernen wir, dass auch ein Lüftchen „chrüseln“ kann, zumindestens im Lied:

    Auf dem Pausenplatz sangen die Kinder unter anderen Liedern «Es chrüselet äs Lüftli», das neu im Repertoire war. Anschliessend assen sie ihre Brötchen, wärmten die Hände am heissen Punsch, bevor sie mit ihren Eltern den Heimweg antraten.
    (Quelle: NBT.ch)

    Tatsächlich findet sich das Wort, allerdings in der Schreibweise mit „k“ an Stelle von „ch“ sogar im Grimmschen Wörterbuch:

    KRÜSELN, kitzeln, s. kräuseln sp. 2100 und krause mause 1 das.; ein anklang taucht in England auf: crousley to flatter, to court. HALLIWELL 283a.
    (Quelle: Grimm)

    Eindeutig eine Variante von „kitzeln“, verwandt mit „kräuseln“, welches wiederum zum Standarddeutschen gehört. Nur diese Variante ohne „ä“ vor dem „u“, die haben die Schweizer für sich allein, jedenfalls wenn es ums „Kitzeln“ geht. Sogar nach England als „crousley“ hat dieses krause Wort es geschafft. Und auch in Norddeutschland kennt man das als Nebenform zu „kreiseln“:

    krüseln sw. V.; hat [zu niederd. krüsel = Kreisel] (nordd.): kreiseln, sich drehen: der Wind fing an zu krüseln.
    (Quelle: duden.de)

  • Chrüselelt Sie schon jemand?
  • Also hier dann die Warnung an alle zugezogenen Nordlichter: Wenn etwas in der Schweiz zu „krüseln“ oder „chrüsele“ beginnt, dann ist das nicht kreiseln sondern kitzeln. Verstanden? Ob sich die Schweizer bei dieser Wortbedeutung selbst einigermassen einig sind?