Sei nüchtern wenn es nüchtelt — Regen in Tokio
Der Tokio Korrespondent Christoph Neidhart verfasste eine lesenswerte Kolumne im Tages-Anzeiger über die Regenzeit in Asien, genauer gesagt in Japan.
Es regnet. Die Zeitung morgens im Briefkasten ist weich und feucht, das ganze Haus nüchtelt: Es ist Regenzeit in Japan.
(Quelle aller Zitate: Tages-Anzeiger 26.06.08 S.8)
Bin ich noch ganz nüchtern oder habe war das eben ein Druckfehler. Es „nüchtelt“? Ist Christoph Neidhart ein Schweizer? Wir lesen weiter:
Wenn es in Japan regnet, dann hat das mit dem, was man in der Schweiz Regen nennt, wenig gemein. Es schüttet, manchmal mehrere Tage. Und immer noch mehr Wasser. An solchen Tagen trage ich Ölzeug wie ein Fischer auf hoher See, wenn ich die Kleine mit dem Fahrrad in den Kindergarten bringe. Und sie natürlich auch. Dazu Gummistiefel.
Wenn er mit dem Fahrrad fährt, und nicht mit dem Velo, dann kann er kein Schweizer sein. Aber halt:
Zur Regenzeit gehört auch, dass die Wäsche nicht trocknet. Tokio ist meist windig, von August bis Oktober sehr heiss und im Winter trocken, deshalb genügen normalerweise ein paar Stunden, schon kann man die Wäsche abnehmen. Im Juni dagegen bleibt sie, auch wenn es nicht regnet, tagelang hängen. Und nüchtelt schon, wenn man sie abnimmt.
Da „nüchtelt“ es ja schon wieder! Und am Ende der Kolumne heisst es:
Dann gönnt uns die Regenzeit frische Sommertage mit schnellen Wolken, fast wie in den Bergen. Es ist für einmal nicht schwül. Aber es wird bald wieder regnen.
(Quelle Tages-Anzeiger 26.06.08 S. 8 )
Das muss „für einmal“ doch ein Schweizer sein, der „erst noch“ sein Velo daheim vergessen hat.
Der Duden fragt, nach „nüchteln“ befragt, trocken zurück „Meinten Sie ‚nüchtern`?“ Nein, wir meinten „nüchteln“, auch wenn die meisten Fundstellen im Internet offensichtliche Falschschreibungen von „nüchtern“ sind. Aber wie immer lässt uns das alte Wörterbuch der Gebrüder Grimm nicht in Stich. In seltener Ausführlichkeit werden Belege aus diversen Schweizer Mundarten zitiert. Vom Bündnerland über Appenzell und Basel ist alles dabei:
NÜCHTELN:
schweizerisches wort: nu̔chteln, graw oder schimlig sein, mucere FRISIUS 843a. MAALER 308c. DENZLER 214b;bei STALDER 2, 244 nüechten, nüchten, nüechtelen mit der bemerkung, dasz in Bündten nüechtelen den ersten grad von verderbnis beim fleisch bezeichnet;
appenz. nüechteln von schadhaftem getreide, wegen nässe oder aus mangel frischer luft anbrüchig riechen oder schmecken; eine unangenehme leere im magen empfinden. TOBLER 338b;
basl. nüechtele, nüechte, feucht, schimmelig riechen, nach SPRENGS handschriftl. Basler idiotikon von denen gesagt, ‚deren athem des morgens nach dem nüchternen magen riecht (vergl. FISCHART Garg. 24b wann man nach nüchterheit schmeckt .., nuchtern stinkt eim der athem), desgleichen von wein-, bier- und theegefäszen, welche man eine zeit lang ungeschwenkt stehen läszt, dasz sie davon müchzend werden‘. SEILER 224a. vergl. nüchtern I, 4.
(Quelle: Grimms Wörterbuch)
Wird ihnen auch so „graw“ beim Lesen? Oder bekommen Sie auch so einen Durst? Dann sollten wir rasch etwas dagegen tun, dass der Atem des Morgens nicht mehr nach nüchternen Magen riecht, jawohl. Es hat sich ausgenüchtelt. Wie fragte Otto einst den notorischen Säufer Karl Soest: „Na, schon gefrühstückt? — Nee, keinen Tropfen“. Karl Soest, Prost!
Juli 7th, 2008 at 10:06
Über dieses Wort habe ich vor wenigen Jahren mit einem Kollegen (DE: Freund) diskutiert. Er behauptete, das müsse doch „füechtele“ (feuchteln) heissen, nicht „nüechtele“ (nüchteln). In meinem Dialektumfeld hatte ich jedoch jeweils deutlich den ersten Buchstaben N herausgehört. Derart verunsichert konsultierte ich daraufhin Grimms Wörterbuch und konnte einmal mehr feststellen, dass nicht nur mein familiäres Umfeld „nüchteln“ kennt.
So wünsche ich den Kindergärtlern, dass sie in der Viertelstunde, in der Dialekt erlaubt ist, – oder schon vorher von den Eltern – auch noch dieses und ähnliche Wörter beigebracht bekommen, damit sie sich neben korrektem deutschlandtauglichem Hochdeutsch auch im Dialekt möglichst vielfältig ausdrücken lernen.
Hier noch ein Hinweis an Jens:
Achtung: „nüechtele“ nicht mit „Nüechtere“ verwechseln. Der Buchstabe R oder L hinten macht den Bedeutungsunterschied. Es kann nämlich auch in der feuchten Zelle der „Nüchterei“ ( http://www.berndeutsch.ch/website/de_CH/lexikon.detail.db?id=4036 ) nüchteln, wenn die dortigen Gitter das effiziente Lüften verhindern.
Juli 7th, 2008 at 10:39
Ich wüsste nicht, wie ich nüchteln („nüechtele“) umschreiben könnte – sicher nur mit vielen Worten, aber dennoch nicht präzis. Denn „nüechtele“ ist nicht nur „feuchteln“, es ist ein sehr spezieller Geruch in tatsächlich feuchten Räumen, den (darum leicht feuchte) Gegenstände im Raum mitbestimmen. Ob sie deshalb schon schimmlig sein müssen, bezweifle ich.
Ich bezweifle, dass sich solche Wörter noch lange halten können in Zeiten, wo in der Deutschschweiz sogannt „perfektes Deutsch“ nicht nur passiv oder im Bedarfsfalls (wenn das Gegenüber nur enge perfektdeutsche Sprachkenntnisse hat) beherrscht werden sollte, sondern von Deutschen für die Deutschweiz gefordert wird.
Juli 7th, 2008 at 10:47
@ Jens, @ phipu: Klar dieses Wort kenne ich und in unserer Familie wird es auch verwendet.
In Horgen am Zürichsee wird das immer noch verwendet, ich würde behaupten, alle kennen das.
Juli 7th, 2008 at 11:03
@solanna: „in Zeiten, wo in der Deutschschweiz sogannt “perfektes Deutsch” … von Deutschen für die Deutschweiz gefordert wird. “
Wie kommst denn auf das schmale Brett? Ich darf wohl mal für meine Landsleute annehmen, dass sie nirgends fordern, jeder habe so zu reden, dass sie es immer und überall verstehen. Wie heisst es so schön: Getretner Quark wird breit, nicht stark. Mist wird nicht wahrer, wenn man ihn ständig wiederholt.
Man braucht gar keine Ausländer zu bemühen: In einem vielsprachigen Land ist die Minimalforderung an alle „Eingeborenen“, dass sie sich gegenseitig verstehen und sich nicht gegeneinander abgrenzen. Wieviel Mundart wird im Tessin oder in der Westschweiz als „Deutsch“ gelehrt?
Zurück zum Thema: Dialektausdrücke wie „nüechtele“ haben den unschätzbaren Vorteil, dass sie, im Kontext gehört, auch ohne Wörterbuch sofort einen bestimmten Sinneseindruck vermitteln – man hört nicht nur das Wort, sondern sieht & riecht gleichsam die Empfindungen des Schreibers/Sprechers.
Juli 7th, 2008 at 11:13
Ich kenne das Wort nicht, aber eben jetzt…Generell sollte man keine Wäsche raus hängen, wenn’s regnet…Das ist nicht nur in Japan so.
Juli 7th, 2008 at 11:32
nüechtele ist gerade der Zustand bevor etwas graut. Wobei grauen wohl das mundartwort für schimmeln ist. Wenn man nasse Badtücher in einen schlecht gelüfteten Wäschekorb legt, so wird das nach 2 Tagen nüechtele, nach 4 Tagen grauen.
Juli 7th, 2008 at 12:05
Ein alter alemannischer Ausdruck ist „miichtele“ was oben Beschriebenes ausdrückt, eben schimmlig feucht wie in alten Kellern.
Wird auch für ungelüftete Zimmer deren Bewohner seit längerer Zeit kein Deo mehr gesehen hat, benutzt.
Meine Oma hat dieses Wort noch öfters verwendet, aber es verschwindet
langsam, der Geschmack dagegen bleibt…
Gruss vom Zürichsee
Frau vom Marroni
Juli 7th, 2008 at 13:51
Das „nüchteln“ als Ableitung aus lat. „nocturnum“ und ahd. „uohta“ bezieht sich m. E. in diesem Falle nicht auf das „Nüchternsein“ (d.h.: ohne Essen und Trinken) entspr. des klösterlichen Morgengebetes, sondern auf das physikalische Ergebnis der kühleren Nacht mit dem dann oft vorhandenen Morgentau.
Dieses Tau kommt aus dem idg. „dheu“ für „stieben, strömen und (verdunsten)“, siehe auch Deo-Spray!. D.h.: Am Morgen nach der Nacht verteilt sich die Feuchte auf der kühleren Oberfläche.
Das „nüchteln“ ist sicherlich deshalb als ein „ aus der nächtlichen Feuchte erzeugter Vorgang“ anzusehen.
Beim „nüchteln“ ist eigentlich die Wirkung aus der Reaktion einer überschüssigen Oberflächenfeuchte meist aus der umgebenden Luft gemeint, welche dadurch auch entsteht, wenn zunächst trockene, aber sehr warme Gegenstände, wie zum Beispiel Körner in ein kühles Silobauwerk eingelagert werden. Diese zwar trockenen und warmen Körner werden in dem kühlerem Silo sicherlich etwas „nüchteln“, da im Silo die Luft kühler und demzufolge auch eine wesentlich geringere relative Luftfeuchtigkeit besitzt.
Da die Körner sicht trocken anfühlen und jedoch zugleich eine größere absolute Fuchtigkeit besitzen können, werden sie im kühlen Silo die überschüssige Feuchtigkeit als Differenz zwischen der größeren Eigenfeuchte und der geringeren relativen Luftfeuchte (also mit geringerer Feuchteaufnahmefähigkeit) der Siloluft als „Feuchteansammlung“ an ihrer Oberfläche abgeben, d. h. kondensieren.
Demzufolge entsteht ein Feuchteüberschuss an der Kornoberfläche, welche z. B. den stetig vorhandenen Schimmel in dem Umweltbereich eine ideale Grundlage für dessen Weiterentwicklung bietet.
Es fehlt oft eine ausreichende Luftumwälzung, um die Überschussfeuchte abzuführen. Alle organischen Stoffe, wie Papier, Leim, Holz, Naturstoffe, Futter- und Lebensmittel sowie auch Flüssigkeiten mit organ. Inhaltsstoffen sind hierfür prädestiniert.
Dadurch hat der Begriff „nüchteln“ schon fast Zwangsläufig die Attribute von Schimmel, an der Oberfläche sich feucht und demzufolge klamm anfühlend, grau seiend und vom üblem Geruch sowie des Verderbens / Verdorbenen als das Ergebnis dieser Reaktionen.
Juli 7th, 2008 at 13:51
Ah jetzt wirds interessant!!!
Danke marroni!
„Miichtele“ im Alemannischen also.
Konnte ich heut nacht noch nicht mit „nüchteln“ anfangen, meine ich jetzt das schwäbische Aquivalent gefunden zu haben.
Nördlich des Rheins scheint das bei uns das Wort „meicheln“ zu sein
(Ich hätte es jetzt aber instinktiv mit einem „eu“ in die Standardsprache übertragen. Und mich gewundert was das mit heimtückischen Meucheleien
Bei uns in der Familie wird das noch recht häufig benutzt. Ich wüsste jetzt auch nicht was ich sonst dazu sagen sollte.
Juli 7th, 2008 at 14:29
@ Chimaera
Guter Hinweis mit .
Jetzt hat sich auch der Begriff “Muchtel” erschlossen!
Lt. Grimm: „MUCHTEL, m. der schimmel: muchtel, …. vgl. unter müchen. in Würtemberg ist die muchtel eine person mit unangenehmem geruche, bezogen auf ein altes, runzlichtes weib…“
Juli 7th, 2008 at 14:31
Hihi! Kurzzeitig kam mir der Verdacht, dass der Tokyo-Korrespondent sich bereits so an die asiatische Lebensart angepasst hat, dass er l und r „velwechsert“.
Jedoch seine Art zu schreiben beweist, dass er sich einfach cosmopolitisch ausdrückt. 🙂
Juli 7th, 2008 at 15:06
@ Anfra
Gut – ich werd mal an Oma riechen gehn 😉
Juli 7th, 2008 at 15:32
Thomas beschreibt „nüechtele“ relativ genau. Es „nüechteled“ (Mehrzahl) aber nicht nur Gegenstände, sondern auch die Luft in Räumen. „Es nüechtelet im Chäller“, nicht aber „de Chäller nüechtelet“.
@Opossum
Auf http://www.blogwiese.ch/archives/893 – das war die Blog-Tummelwiese vom Wochenende – kamen bei mir etliche Beiträge einmal mehr so an, dass es tadelnswert ist, in Schweiz ein perfektes Schweizer Standarddeutsch zu lehren oder zu lernen, das bis auf einige Spezialwörter überall verstanden wird. Nein, es sollte das alleinecht deutsche Deutsch sein.
Verstehe mich recht, natürlich passe ich im Kontakt mit Deutschen Aussprache und Ausdrücke an die in Deutschland gesprochene Standardsprache an. Auch komme ich Deutschen in der Schreibsprache mit ihnen geläufigen, mir zumindest bekannten „unschweizerischen“ Ausdrücken entgegen. Diese habe ich als Bildungsbürgerin im Laufe der Zeit gelernt, sie müssen aber nicht zum Basisstoff der Schweizer Volksschulen gehören.
„Das muss „für einmal“ doch ein Schweizer sein, der „erst noch“ sein Velo daheim vergessen hat.“
Dieser kleine Seitenhieb von Jens-Rainer Wiese hindert mich jedenfalls nicht daran, in der Schweiz für Schweizer (und vielleicht nicht einmal für Deutsche) andere Wendungen zu gebrauchen. Sollte jemand für einmal etwas nicht verstehen, finden wir bestimmt eine Lösung und vielleicht entspinnt sich erst noch eine spannende Diskussion über sprachliche Eigenheiten.
[Anmerkung Admin: Wieso Seitenhieb? Je länger ich hier lebe und je mehr ich diese Redewendungen verwende, desto klarer wird mir, wir sehr sie uns im Standarddeutschen fehlen! Also bleibt uns nichts übrig, als sie möglichst häufig zu verwenden, bis sie dann irgendwann „Standard“ sind. Wart’s ab, es kommt der Tag, da wird „der Entscheid“ und nicht mehr „die Entscheidung“ in Deutschland gefällt. 😉 ]
Juli 7th, 2008 at 16:31
“ es nüechtelet“ gehört selbstverständlich zu meinem vokabular, ein sehr änlicher ausdruck wäre noch “ es muffet“ aber „nüechtele“ ist ganz eindeutig immer mit feuchtikeit verbunden.
ein Moor hat doch auch so einen eigenen geruch, eben „nüechtelig“
Juli 7th, 2008 at 16:46
Ist „Tokyo“ eigentlich der gleiche Ort wie die Hauptstadt von Japan, die im Deutschen „Tokio“ heißt? Oder ist „Tokyo“ der Schweizer Dialektausdruck? 😉
Im Japanischen schreibt man „東京“, im Englischen verwendet man jedoch tatsächlich die Bezeichnung Tokyo.
Wenn man „Tokyo“ in einem deutschen Satz benutzt, dann sollte man konsequent das englische „Rome“ verwenden, wenn man in einem deutschen Artikel etwas über Rom oder „Roma“ schreibt.
Nur so als Anmerkung…
[Anmerkung Admin: Ich hatte erst „Tokio“ geschrieben. Sah hässlich aus. Ist so ähnlich wie mit „beijing“ und „peking“, oder mit „Camel“ und „Gamel“ (arabisch für Kamel). Vielleicht habe ich auch einfach zu viel Tokyo Hotel gehört in letzter Zeit.]
Juli 7th, 2008 at 16:55
Es ist schon so: Wie Engländer und Amerikaner trennt auch Deutsche und Schweizer die gemeinsame Sprache …
Juli 7th, 2008 at 17:16
Liebe Schweizer, aber auch lieber Jens: Was in der ganzen hitzigen Schwyzerdütsch-versus-Hochdeutsch-Diskussion viel zu oft übersehen wird ist die Tatsache, dass auch „wir Deutsche“ absolut nicht eine Sprache sprechen. Vom sächselnden Sachsen zum rheinischen Rheinländer, vom plattdeutschen Deichkind bis zum gelbfüßelnden Sauschwob: Da gibt es himmelweite Unterschiede. Und trotzdem haben wir kein Problem damit, eine gemeinsame Sprache zu schreiben – meistens eben auch zu sprechen. Warum also fühlen sich die Bärner, Züridütsche, und Baselbieter immer gleich so angegriffen, wenn ihnen eine Annäherung nahegelegt wird?
Juli 7th, 2008 at 20:56
Thomas, du hast den nagel auf den kopf getroffen. wenn man in basel nasse badtücher in einen schlecht gelüfteten wäschekorb legt, niëchtelen sie (mit diphtong) und später gräutschelen sie. zum teil irreparabel.
Juli 7th, 2008 at 21:44
@Bambu
Könnte es vielleicht sein, weil Sachsen und Rheinländer, Bayern und Holsteiner im selben Staat leben (auch wenn darüber historische Machtpersonen ohne Befragung der betroffenen Regionen befunden haben), die Schweizer aber in einem anderen, eigenen?
Könnte es vielleicht sein, dass die Schweizer aus diesem anderen Staat sich gewohnt sind, zu vielem direkt Stellung nehmen und bestimmen zu können?
Könnte es vielleicht sein, dass eine Mehrzahl in diesem Staat, die in untereinander grammatikalisch und oft betreffend Wortschatz und Aussprache ähnlichen Varianten von Deutsch spricht, den Entscheid ihrer Vorväter, als gemeinsame Schriftsprache Deutsch zu verwenden, sinnvoll findet? Etwa, weil Ihre Dialekte mit den unterschiedlichen Vokalfärbungen schlecht in eine gemeinsame eigene Schriftregelung eingebunden werden können? Und weil es für weniger als inzwischen wohl knapp 5 Millionen aufwändig und einengend wäre, sich auch schriftsprachlich allzu sehr vom offiziellen Standarddeutsch abzuwenden?
Könnte es vielleicht sein, dass die Deutschschweizer dafür die mündliche Sprache (der Begriff kommt ja von sprechen) weiterhin praktisch ungeregelt nutzen, pflegen und übrigens auch weiterentwickeln?
Und könnte es auch sein, dass sich die Deutschschweizer in diesem eigenen Staat, der sich ja auch politisch ziemlich vom deutschen (oder auch österreichischen) unterscheidet, auch schriftsprachlich gewisse Eigenheiten bewahren möchten, solange ihre Bücher und Zeitschriften auch ennet dem Rhein genügend verstanden werden und umgekehrt?
Juli 7th, 2008 at 23:47
«Nüechtele» hat vor allem dank dem heldenhaften Einsatz unseres Militärs bis ins 3. Jahrtausend überlebt:
Als Mitglied der Schweizer Armee «durfte» ich ab und zu mit bis zu hundert anderen Grünen in Zivilschutzbunkern wohnen. Bekanntlich nüechtelet es dort immer und aus Prinzip. Nach ein paar Tagen war jeweils alles vorhanden, was das Leben an Geruchsvarianten zu bieten hat: nüechtele, chääsele, müffele, böckele, mäggele, bräntele, gräuele, brääsele, füülele, seichele, schmötzele usw. – Alles, nur keine Wohlgerüche. Und uns stank es auch sonst, versteht sich.
Erst wenn der letzte hochalemannische Soldat die Waffen streckt, droht auch dem Nüechtele das Aus.
Juli 8th, 2008 at 4:59
@ bambu
Ich will nicht auf deinen Begriff „angegriffen“ eingehen. Des Schweizers Sprache ist jedoch diejenige „seines Tales“; diejenigen über em Hogger sprechen schon andere Wendungen in anderen Nuancen. Seine Sprache ist eine sehr kleinräumige Angelegenheit, die Identitätsstiftung sehr unmittelbar an die direkt sichtbare Umgebung derselben Sprache eben gebunden. Die Unterschiede sind nicht Himmelweit, hier müsste man von Katzensprüngen sprechen. Dem Schweizer sein Dialekt ist schon sehr seine eigene Stube, umso mehr als wirklich alle (nun halt Einheimischen) immer im selben Idiom miteinander Sprechen.
Nebst dem wirklich unterhaltsamen blog, teils der Kommentare sind echt lässig zu wissen 🙂
Juli 8th, 2008 at 7:54
Entschuldigung, Sorry, Äxgüsi. So kommt es, wenn die Ehefrau vom Marroni aus dem tiefen Schwarwald und der Marroni etwas in den Blog schreiben. Wir beide kannten den Ausdruck, unabhängig voneinander, ich sass ja im Büro in Wangen Schwyz und Schatzi zuhause in Horgen am Zürisee. ABER als ich am Abend den Test mit Herrn Lieblingssohn, 22 Jährig, machte, kannte er den Ausdruck zu meinem Erstaunen NICHT.
Juli 8th, 2008 at 11:05
@Jens:
Geht doch, das mit Tokio statt Tokyo! 😉
Mich würde nur interessieren, wie die Musik von Tokyo Hotel klingt, die Du in letzter Zeit so reichlich gehört hast. Ich kenne nur eine sehr bekannte Formation, die sich „Tokio Hotel“ nennt.
Mich nervt es übrigens auch, wenn in der Süddeutschen Zeitung von „Cuba“ die Rede ist statt von Kuba… und Du bekommst es dann leider ab, mit meiner deutschen Besserwisserei statt die SZ. Liegt wohl in der Familie – komme aus einer alten (Ober-)Lehrerfamilie.
Tokio sieht nach einer Weile auch ganz okay aus, oder? So wie die Züricher Straße hier in München – an deren U-Bahn-Station an bestimmt keine deutschsprachigen Schweizer aussteigen, höchstens ein paar aus der Westschweiz. Aber, liebe Züricher, auch an diese Schreibweise kann man sich gewöhnen. Wenngleich – der zwischenzeitlich hier „Münchener Freiheit“ geschriebene Platz heißt jetzt auch wieder offiziell „Münchner Freiheit“, zum Schrecken der Nordlichter.
In dem Zusammenhang – gibt es eigentlich eine deutschsprachige Schweiz, oder ist es anmaßend-vereinnahmend, gewisse Teile der Schweiz als deutschsprachig (oder gar als Deutschschweiz) zu bezeichnen, obwohl doch die Bewohner dort darauf bestehen, dass deren dortige Sprache kein deutscher Dialekt ist, sondern eben eine eigene Sprache… auf jeden Fall kein Deutsch, denn Deutsch ist gefühllos, kalt und bietet zu wenige Ausdrucksmöglichkeiten… Wie bezeichnet man eigentlich die Schweizer Sprache? Vielleicht könnte man sie einfach „Tüütsch“ nennen. Oder „Schwiitzerisch“. Oder „Schwitz“.
Juli 8th, 2008 at 11:14
Noch eine Ergänzung zur Schweizer Sprachbenennung: Ich hatte den naheliegendsten Namen für die Schweizer Sprache ganz unterschlagen: Swiss! Man könnte dann auch gleich das Französische in der Westschweiz sowie das Italienische und Rätoromanische ebenfalls als „Swiss“ bezeichnen. Swiss ist dann eben genau so facettenreich wie die ganze Schweiz und kann eine alemannische Sprache genau so wie Französisch oder Italienisch sein. Do you speak Swiss? – Oui, ganz guet!
Damit entfällt dann eben auch der Sprachenstreit, wenn alle Schweizer sowieso Swiss sprechen – egal ob sie sich dann in der Realität verstehen oder nicht. Und das Französische ist dann eben auch nur ein lokaler Dialekt von Swiss…
Juli 8th, 2008 at 17:36
@ Thomas
der langen Rede kurzer Sinn. Es heisst Schweizerdeutsch, also das Deutsch das Schweizer sprechen, zumindest in der Deutschschweiz.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jemand seinen Dialekt als eigenständige schweizerische Sprache versteht, so wenig ein Bayer oder Hamburger seinen Dialekt als Hochdeutsch interpretiert.
Deine Swiss-Idee find ich genial, leider hat sie den Beigeschmack von Grounding (auch so ein typisches Dialektwort), also könnte die Idee bei der hiesigen Bevölkerung auf Widerstand stossen, zu viele Erinnerungen an eine verlorenen Nationalepos 😉 .
Juli 9th, 2008 at 8:52
Thomas:
Deine Idee von der Sprachenbezeichnung „Swiss“ hilft einem Übel nicht ab. Wenn mich ein Amerikaner wieder mal fragt: „how does the swiss language sound?“, bliebe die Antwort gleich ausführlich und nuanciert wie beim ersten Mal, als ich diese Frage beantworten musste.
Juli 9th, 2008 at 15:05
@Phipu: die Antwort ist: „It depends on the person. Swiss is an Indogermanic Language with different local dialects.“
@cydet:
Ich kenne aber genügend Äußerungen von aus meiner Sicht deutschsprachigen Schweizern, die gerade betonen kein Deutsch zu sprechen, sondern eine eigene Sprache. Und die bei Deinem Vergleich mit den bayerischen oder norddeutschen Dialekten schier innerlich explodieren angesichts dieser arroganten Vereinnahmung in den deutschen Sprachraum. Denn allenfalls wäre Ihre Sprache ein alemanischer Dialekt, aber wirklich kein deutscher Dialekt.
Juli 11th, 2008 at 8:18
Bei mir im Umfeld ein sehr oft gebrauchtes Wort, z.B. feuchte Wäsche die in einem schlecht durchlüftetem Raum zum trocknen aufgehängt wurde. Die dadurch schlecht trocknet und nach 2 Tagen „niechtelt“ (ni_echtelt in Basel ausgesprochen). Oder z.B. wenn die Wäsch noch 1 Tag in der Waschmaschine bleibt weil noch keine Zeit gefunden wurde, die Wäsche herauszunehmen. Wüsste aber für „niechtelt“, kein Schriftdeutsches Wort. Jedenfalls ist die Wäsche nicht schimmlig und richt auch nicht so. Gibt es eigentlich ein Schriftdeutsches Wort dafür? Keine Umschreibung mit endlosen Sätzen nur ein Wort.
Juli 13th, 2008 at 14:34
Bitte keine Deppenleerzeichen beim Tokio-Korrespondenten! Tut mir Leid, diese deutsche Besserwisserei, aber isch halt’s net aus middie Leerzeische, wo koi hing’hör’n! 🙂
Ebenso stören mich die Auto’s vor dem Händie’s Shop. *schüttel*