Verhaftet das Hochhaus — Was heisst eigentlich „sistieren“?

August 18th, 2008

(reload vom 19.01.06)

  • Verhaftet das Hochhaus!
  • Bei unserer morgendlichen Bildungsbürger-Lektüre des Tages-Anzeigers stiessen wir auf folgende gescheite Überschrift:

    Hochhaus sistiert“.
    (Tages-Anzeiger 11.01.06 S. 17)

    Hochhaus sistiert
    Da haben wir nun 5 beschwerliche Jahre die Germanistik studiert, uns einst mit Latein und „Caesar Ora Classis Romana“ (= Cesar Küste die Flotte Römerin) rumgeschlagen, lernen seit weiteren 5 Jahren täglich den Fachjargon der Schweizer, und dann wieder so eine Pleite, einfach beim Zeitungslesen: Was bedeutet denn „sistieren„? Wir insistieren nicht zu lange, schauen konsterniert in die Runde und greifen flugs zum Fremdwörter-Duden. Ohne den geht gar nix in der Schweiz:

    sis|tie|ren [lat. sistere = stehen machen, anhalten]:
    Quelle: Der Duden

    Wie kann man ein Hochhaus zum stehen bringen? Ist es umgefallen?
    Oder es anhalten? Ist es denn am Weglaufen???

    Der Duden führt weiter aus:

    1. (bes. Rechtsspr.) zur Feststellung der Personalien zur Wache bringen; festnehmen:
    den Verdächtigen s.; „Im Zuge der Auseinandersetzungen sistierte die Polizei auch noch einen 34 Jahre alten Mann“ (MM 21. 4. 78, 20);
    Doch nicht die Spur eines Beweises gelingt, um den Sistierten mit den Doppelmorden zu belasten (Noack, Prozesse 107).

    Moment mal: Die wollen ein Hochhaus verhaften? Gibt es denn überhaupt so grosse Handschellen? Doch weiter heisst es im Duden:

    2. (bildungssprachig) [vorläufig] einstellen, unterbrechen; unterbinden, aufheben:
    die Ausführung von etw., die Geschäfte s.; (…)
    „Belgrad sistiert Schuldenzahlungen“ (NZZ 27.01.1983, S. 13).

  • Wenn der Master einen Plan hat
  • Da haben wir es also schwarz auf weiss vom Duden bestätigt bekommen. Es ist „Bildungssprache“, die in der heimlichen Hauptstadt der Rapp-Musik, dem „Rapper’s ville“ Rapperswil, gekonnt gesprochen wird, hier im Rahmen des grossen „Masterplans“.

    Master-Mind haben wir früher auch immer gespielt, und schrecklich oft verloren, so ganz ohne Plan. Aber in der Schweiz sind sie alle wahnsinnig trainiert für sowas, durch den neuen Volkssport „Sudoku“. Jeden Samstag im Tages-Anzeiger versuche ich es wieder, und scheitere nach nur 3 Kästchen. Zu wenig mathematische Begabung, und sprachlich bereits völlig überanstrengt durch die Lektüre des Tages-Anzeigers. Falls sie mal beim Tagi Lesen im morgendlichen Berufsverkehr kein Fremdwörterbuch dabei haben, fragen Sie doch einfach den Schweizer, der ihnen in der S-Bahn gegenüber sitzt. Der weiss sicherlich, was „sistiert“ heisst und freut sich darüber, Ihnen das Wort spontan und flüssig auf Hochdeutsch erklären zu dürfen. Nur Mut! Haben Sie stets Vertrauen in die Fremdwortkompetenz der Schweizer!

    Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 16) — „plafonieren“ und „zurückbinden“

    August 13th, 2008

    (reload vom 16.01.08)

  • Plafonieren ist nicht plattmachen
  • Wir lasen am 07.01.05 in Fachblatt für die Schweizerdeutsche Gegenwartssprache, dem Tages-Anzeiger:

    „Die Zahl der Lärmbelästigungen soll plafoniert werden“

    Plafonieren

    In der Schweiz wird häufig plafoniert. Google-Schweiz findet 980 Belege, deutlich mehr als Google-Deutschland.

    Da wir in Deutschland nicht so stark unter französischen Einfluss stehen wie die Schweizer mit ihrer Romandie, bzw. uns schon zur Wilhelminischen Zeit alles übersetzten liessen, was nur entfernt nach Frankreich roch, müssen wir nun nachschauen im Französisch- wörterbuch „Le Petit Robert“, das ist der kleinen Bruder vom „Grand Robert“. „Petit“=klein finden wir eigentlich masslos untertrieben, denn das Buch wiegt mindestens 2 Kg und ist 10 cm dick.

    „Le plafond“ wird dort mit „die Zimmerdecke“ übersetzt, und „plafonieren“ finden wir zusätzlich sogar im Online Fremdwörter-Duden:

    plafonieren : (schweiz.) nach oben hin begrenzen, beschränken
    (Quelle: Online-Duden)

  • Bindet den Flughafen zurück, sonst läuft er fort
  • Ganz am Ende unserer Tages-Anzeiger Lektüre werden wir noch mal stutzig, denn wieder entdecken wir eine Formulierung, die uns zunächst unverständlich vorkommt:

    „Fluglärmgegner halten an ihrem Ziel fest, den Flughafen zurückzubinden“.
    (Quelle: Tages-Anzeiger 07.01.06)

    Zurueckbinden
    Wir können uns vorstellen, wie man einen Zopf „zurückbindet“, oder ein „Pferd anbindet“. Aber wie geht das mit so einer grossen Sache wie einem Flughafen?

    Es ist nicht wörtlich gemeint, das verstehen wir schon, und auch keine ungewöhnliche Sache, wenn die Schweizer etwas „zurückbinden“. Google-Schweiz findet 411 Belege

    Da werden Risiken, Massnahmen oder auch Exportkredite zurückgebunden, als ob sie alle mit Hanfseilen am Boden befestigt sind. Im Duden gibt es über 100 Verben die mit „zurück-„ beginnen. Das Verb „zurückbinden“ ist erstaunlicher Weise nicht darunter, hingegen spielt es bei der „Religion“ eine grosse Rolle:

    Lactantius (Divinae Institutiones 4, 28) führt das Wort zurück auf religare: „an-, zurückbinden“. Mögliche ursprüngliche Bedeutungen von „Religion“ sind demnach „frommes Bedenken“ oder die „Rückbindung“ an einen von Gläubigen an- bzw. wahrgenommenen universellen göttlichen Ursprung oder an sonstiges Höheres.
    (Quelle: Wiki)

    Also halten wir uns ganz fest an dem Wörtchen „zurückbinden“ in der Schweiz! Wir nehmen es in unseren Sprachschatz auf und machen es einfach zu unserer Religio = Religion.

    Zu Boden mit dem Burschen — Wenn die Volksinitiative ins Sägemehl muss

    August 4th, 2008

    (reload vom 8.1.06)

  • Nach dem Hosenlupf werden sie gebodigt
  • Die Schweizer lieben ihren Nationalsport, das „Schwingen“. Sie lieben ihn so sehr, dass sie auch im Alltag die Fachsprache der Schwinger verwenden. Hatten wir uns neulich über den „Hosenlupf“ ausgelassen (vgl. Blogwiese), der ja ganz offensichtlich für jede Art von Auseinandersetzung und Kräftemessen, vor Gericht und anderswo, Synonym geworden ist, so lasen wir im Tages-Anzeiger vom 07.01.06

    „Der Zürcher Regierungsrat will die ’Volksinitiative für eine realistische Flughafenpolitik’ per Gegenvorschlag bodigen“

    Zu Boden mit dem Vorschlag

    Hier wird also gar nicht mehr auf den Hosenlupf gewartet, hier wird so fest zugepackt und hochgehoben, dass der Gegenvorschlag gleich zu Boden geht, hoffentlich nur hinein ins weiche Sägemehl, und nicht auf die harte Betonpiste des Flughafens in Kloten.

  • Bodigen ist eine Schweizer Tätigkeit
  • „Bodigen“ tut man in der Schweiz gern, es finden sich 1890 Google-Schweiz Belege gegenüber nur mageren 695 in Deutschland, von denen sich die meisten mit der Frage beschäftigen, was denn „bodigen“ eigentlich heisst.

    In der Deutsch-Synchronisierten Fassung der Monty Python Komödie „The Life of Brian“ (= Das Leben des Brian) sagt Pilatus: „Werft den Purschen zu Poden“. Es wird also schon bei Monty Pythons Truppe fleissig „gebodigt„. Die Schweizer kennen diese Übersetzung leider nicht, weil sie am liebsten nur die Originalfassungen im Kino ansehen.

    Wer sich auf dem Boden wieder findet beim Schwingen, zumal noch auf dem Rücken, der gilt als besiegt. Und genau diese Bedeutung hält auch unser Duden fest, wenn er zum Verb „bodigen“ schreibt:

    bodigen (sw . V.; hat) [zu Boden] (schweiz.):
    a) bezwingen, besiegen:
    die gegnerische Mannschaft bodigen;
    „Der Berner Käser machte dann aber kurzen Prozess und bodigte den Sinser schon nach vier Minuten“
    (Blick 30. 7. 84, Seite 13);
    b) bewältigen:
    sein Arbeitspensum bodigen

    Quelle: Duden

    Nicht gruselig aber guguselig — Neue Schweizer Lieblingswörter

    Juli 24th, 2008
  • Selig wie ein Kuckuck?
  • Bei der Lektüre des „Magazins“ am Samstag stiessen wir auf dieses gar nicht so seltene Schweizer Prachtadjektiv:

    Das ist mir zu guguselig
    (Quelle: Das Magazin.ch)

    Nein, keine neue Schreibweise von „gruselig“, dieses „guguselig“. Es gibt jede Menge Fundstellen, so wie hier auf Swissmomforum.ch

    Es ist mir zu theatralisch, zu „guguselig“, zu behütend…
    (Quelle: Swissmomforum.ch)

    Ohne „g“ am Ende bringt es die Variante „guguseli“ sogar auf 7´310 Belegstellen bei Google.
    Beispiel:

    Oder s Schnuderhuhn und s Guguuseli, den manche auch Suguuseli nennen.
    (Quelle: bezsins.ch)

    Im Schweizer Lexikon von Michael Kühntopf finden wir es ganz ohne „-elig“:

    gugus: hier bin ich, aber auch „Quatsch“ und „Unfug.

    Klar, einfach „guck kuck“ oder „Kuckuck“ etwas abändern, schon sind wir bei guguseli(g).

  • Gucken nein, schauen ja
  • Mit dem standarddeutschen Verb „gucken“ verbinde ich die Erinnerung an eine merkwürdige Erfahrung aus der Grundschulzeit. Ich hatte es in einem Aufsatz geschrieben, zusammen mit dem Wörtchen „kriegen“ (ohne „be“). Es wurde angestrichen als „umgangssprachlich“ und als „nicht schriftfähig“. Wieso „nicht schriftfähig“? Ich hatte es doch eben geschrieben. Geht doch.

    Dass es tatsächlich Wörter in meiner Muttersprache gab, die man zwar sagen aber nicht schreiben durfte, war eine denkwürdige Lernerfahrung für mich. „Kriegen“ sagen, aber „bekommen“ schreiben. „Guck mal!“ sagen, aber „schau mal!“ schreiben. Erst mit dem Filmtitel „Kuck mal wer da spricht

    Kuck mal wer da spricht

    wanderte das Verb „kucken“ etwas weiter rüber in die Schriftsprachenkiste. Gesprochen hat übrigens Thomas Gottschalk, nur gesehen hat man ihn nicht, auch wenn man noch so am „Kucken“ war.

    Im Kleinen erlebte ich in dieser Situation die Differenz „Gesprochene Sprache vs. Schriftsprache“, mit der Schweizer Primarschüler und auch manche Erwachsenen heute noch zu kämpfen haben.

  • Diesbezüglich nervt
  • Später hatte ich einen deutschen Kollegen, der ständig das hübsche Wort „diesbezüglich“ im normalen Gespräch verwendete. Es ist ein Wort der geschriebenen Sprache, das, so permanent verwendet, doch recht merkwürdig klingt. Jeder von uns scheint eine feine Abgrenzung im Kopf zu haben zwischen den Ausdrücken der geschriebenen und der gesprochenen Sprache.

    Können Sie Kacheln verlegen? Aber bitte nicht verkachelt

    Juli 18th, 2008
  • Verkachelt ohne Kacheln
  • Bei der Lektüre des Tages-Anzeigers machten wir diese Entdeckung:

    Eine verkachelte Situation
    (Quelle: Tages-Anzeiger 11.07.08, S. 11)

    Müssen wir gleich mal üben: Ich verkachele, du verkachelst, er/sie/es verkachelt, wir verkacheln, ihr verkachelt, sie verkacheln . Sind alle Schweizer so handwerklich begabt beim Kacheln verlegen?

    Wir würden die Situation als „verfahren“ oder „aussichtslos“ oder „vertrackt“ bezeichnen, nur die Kacheln kämen uns nicht in den Sinn. „Verkorkst“ schon eher. Wie dieser Ausdruck „verkachelt“ wohl entstanden sein mag? Eine „Kachel“ ist in den Niederlanden übrigens ein warmer Ofen, ein „Kachelofen“ um genau zu sein.
    ein verkachelter Ofen
    (Quelle Foto: ofenhaus-schleicher.de)

    115 Funde bei Google-CH im Vergleich zu mickrigen 10 Stellen bei Google-De, die zumeistverkachelte Bildschirmhintergründe oder Badezimmer beschreiben, aber keine Situation.

    In der Schweiz kann so einiges „verkachelt“ sein, z. B.:

    Nachdem Regierungsrätin Dorothée Fierz das Geschäft verkachelt hat, droht ein neues Fiasko. Sagen die Naturschützer.
    (Quelle: Tages-Anzeiger 22.12.06)

    Oder in der Weltwoche:

    Wir brauchen ja Ernährungsberater, die zurecht zu biegen versuchen, was die Nahrungsmittelindustrie verkachelt.
    (Quelle: Weltwoche.ch Forum)

    Das Wort hat wirklich Seltenheitswert. Es findet sich weder bei Grimm, noch im Duden oder Leipziger Wörterbuch. Doch halt, bei Grimm lasen wir dann noch, dass ein „Kachel“ auch ein irdener Topf ist und „kacheln“ ein anderes Wort für Töpferarbeit bezeichnet.

    KACHELN
    1) töpferarbeit machen, schweiz., s. kachel 1, kachler; das. einen hohlen ton von sich geben, und brechen.
    2) obsc. ein frauenzimmer kacheln Rädlein, s. kachel 3; noch in Sachsen.
    3) eigen ein ganz andres östr. kacheln, reden. Castelli 178. 280.
    4) tirol. laut lachen, s. kachen, gacheln.
    (Quelle: Grimm )

    Ob dann „verkacheln“ auch „verlachen“ bedeuten kann, wenigstens in Tirol? Etwas „Verkacheltes“, das muss dann das Fehlprodukt eines Töpfers sein. Vielleicht sogar ein Topf in Scherben?

  • Kann Herr Kachelmann eigentlich verkacheln?
  • Der Herr „Kachelmann“ sollte es ja wissen, aber der kümmert sich in Deutschland um das Wetter und kann nicht befragt werden. Er wurde übrigens auch in Lörrach geboren, und ist damit ein… ? Deutscher? Falsch, ein Baselbieter! So wie Ottmar Hitzfeld und Ruth Schweikert. Bald können die echt einen Verein der „Lörracher Schweizer“ aufmachen. Wahrscheinlich war das in Basel früher so üblich, dass man die hochschwangeren Mütter über den Hochrhein zum Gebären nach Lörrach schickte. Zum Glück hat der „Geburtsort“ in einem Schweizerpass nix zu bedeuten, anders als in Deutschland.