(reload vom 22.07.07)
Der Schweizer Germanist Peter von Matt wurde am 7.02.07 vom Tages-Anzeiger zur damaligen Entwicklung der Schweizerisch-Deutschen Beziehungen befragt. Auf die Frage „Haben die Schweizer ein Problem mit ihren Nachbarn?“ antwortete er:
Das angebliche Problem ist ein Medienprodukt. Einer übernimmt es vom andern, um es nicht dem Dritten zu überlassen, und schon ist es ein Hype. In Wahrheit ist das Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen gut, besser jedenfalls als nach dem Krieg, als jeder Schweizer sich als eine Kreuzung von Henri Dunant und Winkelried vorkam.
(Quelle für dieses und alle folgenden Zitat: Tages-Anzeiger 07.02.07)

(Quelle Foto: Unitedvisions.tv)
Wer waren Dunant und Winkelried?
Zur Erinnerung: Henri Dunant war der Mann, der die fatale Idee hatte, das Rote Kreuz farblich gespiegelt zum Schweizerkreuz zu entwerfen, was bis heute dazu führt, dass Schweizer bei Vorzeigen ihres Passes an vielen Grenzen mit dem Spruch „Red Cross? Okay just pass through“ durchgewunken werden und Emil Steinberger eine Sammlung von Erste-Hilfe-Sets mit weissem Kreuz auf rotem Grund besitzt. Menschen die erste Hilfe leisten sind in der Schweiz übrigens „Nothelfer“, darum heissen auch die Kurse für den „Führerausweis“ hierzulande „Nothelferkurse“ und nicht „Erste-Hilfe-Kurse“. Und Winkelried? Nein, der war kein Advokat sondern von Beruf Held:
Er soll am 9. Juli 1386 bei der Schlacht von Sempach ein Bündel Lanzen der Habsburgischen Ritter gepackt und sich selbst aufspiessend den Eidgenossen eine Bresche geöffnet haben. Der Legende nach soll er vorher noch die Worte „Sorgt für meine Frau und Kinder“ gesagt haben. Die bekannteste Variante seiner letzten Worte ist: „Der Freiheit eine Gasse!“
(Quelle: Wikipedia)
Das Elend mit der Konstruktion von Typen
Doch kehren wir zurück zum Interview mit Peter von Matt. Auf die Frage, warum der typische Deutsche in der Schweiz bis heute kein Sympathieträger sei, meinte er:
Das Elend beginnt genau bei der Konstruktion von Typen. Ich kenne viele Schweizer, sympathische und weniger sympathische, aber von keinem habe ich je gedacht, er sei ein typischer Schweizer. Und mit den Deutschen geht es mir gleich. In den Zeitungen aber tut man so, als redeten alle Schweizer über die Deutschen wie die Radikalfeministinnen vor zwanzig Jahren über die Männer. Von jedem Land existiert seit Jahrhunderten ein Negativklischee. Die Amerikaner brachten es einst selbst auf den Begriff: «The Ugly American», der hässliche Amerikaner. Nur ein Hohlkopf projiziert solche Negativklischees auf das konkrete Gegenüber. Und in der Schweiz bilden die Hohlköpfe immer noch die deutliche Minderheit. Man hat aber gelegentlich den Eindruck, sie seien das umworbene Zielpublikum der Medien.
Das Praktische an dieser Zielgruppe ist doch, dass jeder von sich sagen kann: „Nein, so einer bin ich nicht und das denke ich schon gar nicht“, während er doch begierig den Blick mit der Überschrift „Wieviele Deutsche verträgt die Schweiz“ verschlingt.
In kleinen Ländern ist es Wärmer und es gibt mehr Gefühl
Auf die Frage nach den Faktoren, die die Beziehungen zwischen Schweizern und Deutschen bestimmten, meint Peter von Matt:
Die Sozialpsychologie kennt das Phänomen, dass das kleinere Land, die kleinere Stadt eine bestimmte Animosität gegen den grösseren Nachbarn entwickelt. Die Zürcher haben kein Problem mit den Baslern und Bernern, diese aber mit den Zürchern, die Welschen mit den Deutschschweizern, die Innerrhoder mit den Ausserrhodern und beide zusammen wieder mit den St. Gallern. Das geht vom Kleinsten zum Grössten: die Europäer gegen die Amerikaner. Und immer wird dabei von Temperatur gesprochen. Der Grössere gilt stets als kalt, arrogant und materialistisch, der Kleinere spricht sich selbst Wärme und Gefühl zu. Die Berner reden von den Zürchern wie ein Kachelofen von einem Eisberg. Das kann den Blick auf die Deutschen einfärben. Aber das ist so universal wie der Schnupfen und so harmlos.
Endlich eine plausible Erklärung, warum die Deutschen als arrogant gelten und wir in der Schweiz häufig mal ins Schwitzen kommen. In kleinen Ländern ist es wärmer und es gibt einfach mehr Gefühl. Dieses Argument kennen wir ja schon vom Schweizerdeutschen, mit dem sich Gefühle einfach viel besser ausdrücken lassen als in der Schriftsprache, oder können sie „Pillow Talk“ auf Hochdeutsch führen?
Mit dem Flugzeug ins Engadin
Der Tages-Anzeiger fragte Peter von Matt dann nach dem Schweizbild in Deutschland:
Die Deutschen sprechen von der Schweiz in einer Mischung aus Bewunderung und Ironie. Sie belächeln unsere Kleinheit ein wenig, wollen aber alle Kenner sein und schildern einem rasch ihr Lieblingsrestaurant in Zürich und ihren Bergweg im Engadin. Wenn man den Deutschen das Engadin verböte, bis die Flughafenfrage gelöst ist, wäre in Kloten in 14 Tagen alles in Butter. Der hässliche Schweizer ist für die Deutschen reich, fantasielos und ohne Humor. Doch ich habe nie erlebt, dass dieses Klischee bei einer Begegnung eine Rolle gespielt hätte.
Ach, es gibt also tatsächlich Deutsche, die ins Engadin fahren? Nicht zum Skilaufen sondern wandern? Ich dachte, die Deutschen sind im Sommer allesamt auf Mallorca. Und kann man wirklich mit dem Flugzeug nach Zürich fliegen um dann einen Bergurlaub zu starten? Habe noch nie Deutsche in Kniebundhosen mit rotweiss karierten Hemden den Flieger aus Düsseldorf in Kloten verlassen sehen.
Berlin ist Mekka aller Schweizer Künstler
Schliesslich wird von Matt nach dem Einfluss der Geschichte auf das heutige Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen befragt:
Ich glaube nicht, dass die Kriegszeit sehr nachwirkt. Grundsätzlich gilt: Geschichte ist immer das, was man von ihr wissen will. Dass die moderne Schweiz im 19. Jahrhundert von Deutschen wesentlich mitgeschaffen wurde, will man nicht mehr wissen. Nur mit den vertriebenen deutschen Professoren konnte die Uni Zürich überhaupt gegründet werden. In der fortschrittlichen Politik gaben Deutsche wie der Schriftsteller Heinrich Zschokke und die Brüder Ludwig und Wilhelm Snell wesentliche Impulse. Gottfried Semper hat unsere Architektur schubhaft vorangebracht. Die akademische Schweiz ist ohne die Deutschen auch heute undenkbar. Kulturell ist die Schweiz mit Deutschland aufs Engste verwachsen. Berlin ist das Mekka aller Schweizer Künstler und Studenten. Nur schon die Funktion, die Berlin heute hat, widerlegt das Märchen vom Deutschenhass. Das sind Fakten, der Rest ist Gerede.
Wir hatten ja schon des öfteren von Schweizern gelesen, dass die Deutschen ja leider keine wesentliche Kultur mit ins Land gebracht haben, anders als die Südländer. Man muss ja auch nichts mitbringen, was schon fest im Land verwachsen ist bzw. ins Mekka der Kultur nach Berlin auswanderte.
Wie markiert ein Deutscher Präsenz?
Die nächste Frage zielt auf die Komplexe der Schweizer gegenüber den Deutschen ab:
Es gibt ein Phänomen, das man kennen muss. In Deutschland gehört zum Sozialverhalten, dass man sich rasch und deutlich positioniert und die eigene Präsenz markiert. An sich eine gute Sache. In der Schweiz gilt die Regel: Warte, bis du gefragt wirst. Das sind unterschiedliche, aber wertneutrale Haltungen. So wie die Deutschen ein Telefongespräch knapp abschliessen, die Schweizer aber dreimal nacheinander Adieu sagen. Da kommt es dann schon vor, dass man falsche Schlüsse auf den Charakter zieht.
„Sich rasch und deutlich positionieren und die eigene Präsenz markieren“, genau dass ist es, was passiert, wenn ein Deutscher in einem Schweizer Lokal nach der Saaltochter ruft und „Ich hätte gern noch ein Bier“ sagt, während der Schweizer Gast lieber wartet, bis er von der Bedienung nach seinen Wünschen gefragt wird. In Deutschland signalisiert man damit, dass man als Kunde seine Wünsche sehr wohl zu äussern vermag und nicht übersehen werden möchte. In der Regel hilft das und führt zu einer aufmerksamen Bedienung, in der Schweiz würden sich bei solch einem „Präsenz markieren“ gleich die Kellner abwenden und den Deutschen am Tisch Nummer 4 fortan meiden.
Wenn Schweizer Hochschulabsolventen keinen fehlerfreien Brief mehr schreiben können
Auf die Rolle der Sprache im Schweizer-Deutschen Verhältnis angesprochen, meint Peter von Matt:
Das ist ein schwieriges Problem. Ich halte die Vergammelung der hochdeutschen Sprachkultur in der Schweiz für einen nationalen Notstand. Das hat mit den Deutschen nichts zu tun, aber sehr viel mit der herumgebotenen Meinung, unsere Muttersprache sei der Dialekt und das Hochdeutsche sei eigentlich eine Fremdsprache. Die Muttersprache der Deutschschweizer ist aber Deutsch in zwei Gestalten, Hochdeutsch und Dialekt. Weil Hochdeutsch als unnatürlich hingestellt wird, ist es für viele nicht mehr attraktiv. Damit droht sich die Deutschschweiz eigenhändig zu beschädigen. Viele Politiker und Hochschulabsolventen können keinen fehlerfreien Brief mehr schreiben. Und schlimmer noch: Sie halten es auch nicht für nötig.
Kurzweilige Bedienung aus Mecklenburg-Vorpommern
Schliesslich können Sie ja alle perfekt Englisch, speziell im Gespräch mit den Westschweizern. Und es dauert nicht lange, bis die „Hollandisierung“ der Schweiz soweit fortgeschritten ist, dass geschriebenes Schweizerdeutsch Schriftsprache wurde.
Zum Thema „verstärkte Einwanderung von Deutschland in die Schweiz“ meint von Matt:
Ich halte es für kurzweilig, im Restaurant von Sachsen und Mecklenburgern bedient zu werden, und an der Uni habe ich mit viel mehr deutschen Kolleginnen und Kollegen gelebt, und gut gelebt, als es in der Schweizer Arbeitswelt im Durchschnitt je der Fall sein wird. Die Schweizer werden mit den Deutschen nicht mehr Probleme haben als mit andern Bevölkerungsgruppen im eigenen Land. Vorausgesetzt, man redet den Konflikt nicht herbei.
Und womit soll Herr Mörgeli nun Wählerstimmen sammeln gehen und der BLICK seine Auflage steigern, wenn wir den Konflikt nicht fleissig weiter herbeireden? Nun, es wird sich schon noch ein wirklich ernsthaftes Problem finden. Stand nicht neulich im Blick, dass die Gipfeli jetzt Deutsch werden? Ach nee, das war ja die Geschichte von einer Schweizer Grossbäckerei, die nach Deutschland expandierte. Falsches Ressort.