Wenn drei Kindern nicht genug Arbeit sind für eine Kinderzulage

Oktober 10th, 2006
  • Drei Kinder in Deutschland
  • Unsere Freundin Sophia lebt in Deutschland. Sie hat drei Kinder. Beim ersten Kind hat sie es sogar noch geschafft, ihr Pädagogikstudium weiterzuführen. Sophia möchte Grundschullehrerin werden. Sie ist intelligent und studierte zielstrebig, um rasch mit der Ausbildung fertig zu sein und das Referendariat beginnen zu können. Ein Kind als Alleinerziehende grosszuziehen und nebenbei ein Studium zu bewältigen, dass erforderte viel Nachtarbeit bei wenig Schlaf und ein ausgesprochenes Organisationstalent.

    Dann bekam Sophia zwei weitere Kinder mit ihrem neuen Partner, und an Studium ist nicht mehr zu denken. Sophia zieht ihre Kinder gross, der 5-Personen-Haushalt mit zwei Kleinkindern beansprucht sie voll, sie kommt kaum über die Runden. In Deutschland erhält Sophia für die drei Kinder Kindergeld:

    Deutsches Kindergeld ist heute zu bedeutenden Teilen keine Sozialleistung, sondern ein Ausgleich für die (ohne einen solchen Ausgleich verfassungswidrige) Besteuerung des Existenzminimums von Kindern und dementsprechend im Einkommensteuergesetz geregelt. Nur der über den Ausgleich für die Besteuerung des Existenzminimums hinausgehende Teil ist für die Eltern eine Familienförderung.
    (Quelle: Wikipedia)

    Seit 2002 beträgt das Kindergeld für das erste bis dritte Kind 154 EUR, der steuerliche Freibetrag ist 3‘648 EUR pro Jahr. Damit erhält Sophia 462 EUR (= ca. 732 CHF) für ihre drei Kinder als Familienförderung. Sophia hat Glück dass sie in Deutschland lebt. In der Schweiz würde sie kein Kindergeld erhalten, denn sie arbeitet ja nicht.

  • Erziehungsgeld für die ersten 2-3 Jahre
  • Ausserdem bekommt Sophia in Deutschland Erziehungsgeld vom Staat:

    Das für Geburten ab 1. Januar 1986 eingeführte Erziehungsgeld ist eine Zuwendung des deutschen Staates an den Elternteil, der das Kind vorwiegend erzieht. Es ist als Ausgleich dafür gedacht, dass dieser Elternteil nur noch einer Teilzeitarbeit von maximal 30 Stunden pro Woche nachgeht. Schüler und Studenten als Eltern dürfen jedoch ihrer Berufsausbildung in vollem Umfang nachgehen. Auch dürfen bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschritten werden. Man kann sich entscheiden, ob man maximal zwölf Monate lang 450 Euro erhält oder ob man für maximal 24 Monate 300 Euro pro Monat bekommt.
    Das Erziehungsgeld muss man nicht zurückzahlen. Einzelheiten sind im Bundeserziehungsgeldgesetz geregelt.
    (Quelle: Wikipedia)

    Sophia lebt in Baden-Württemberg und kann darum noch im dritten Jahr Erziehungsgeld bekommen:

    Einige Bundesländer (Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen & Thüringen) zahlen anschließend im 3. Kindsjahr freiwillig noch zusätzlich ein reduziertes Landes-Erziehungsgeld.
    (Quelle: Wikipedia)

  • Drei Kinder in der Schweiz sind nicht genug Arbeit
  • Monika lebt in der Schweiz. Monika hat ebenfalls drei Kinder. Monika kümmert sich um den Haushalt und um die Betreuung der Kleinkinder, denn ein bezahlbares Betreungsangebot in einem Kindergarten oder einer Kinderkrippen für mehr als 2-3 Stunden am Tag gibt es nicht für sie. Monika hat wenig Geld, sie würde gern arbeiten, denn sie hat immer gearbeitet und war nach ihrer Ausbildung nie ohne Job, bis die Kinder kamen. Jetzt ist sie Vollzeit-Mutter und Hausfrau, arbeitet von früh bist spät, erhält jedoch von der Eidgenossenschaft kein Kindergeld für ihre drei Kinder, weil sie offiziell „nicht arbeitet“.

    Eine Weile bekam sie knapp bemessene Sozialhilfe. Da das kaum reichte, hat sie nebenher schwarz gejobbt. Irgendwann flog das auf, weil sie jemand anschwärzte. Sie wurde gebüsst und musste die erhaltene Sozialhilfe zurückzahlen, soweit überhaupt möglich.

    Sie wollte nicht reich werden mit dem dazuverdienten Geld, es reichte einfach vorn und hinten nicht im Hochpreisland Schweiz. Der Vater der ersten beiden Kinder zahlt keine Alimente. Eine Klage ist aussichtslos, der Mann ist permanent in Konkurs und es gibt noch zwei weitere Familien, die Geld von ihm wollen.

    Würde Monika in Deutschland leben, könnte Sie Erziehungsgeld beantragen und hätte die Garantie, während 2-3 Jahre ihren Job nicht zu verlieren. In der Schweiz muss eine Frau vor der Schwangerschaft mindestens 3 Monate beschäftigt gewesen sein, um einen Anspruch auf Lohnfortzahlung zu haben:

    Gemäss Obligationenrecht hat der Arbeitgeber einer Arbeitnehmerin, die wegen Schwangerschaft oder Niederkunft an der Arbeitsleistung verhindert ist, für eine beschränkte Zeit den Lohn zu entrichten, sofern das Arbeitsverhältnis mindestens drei Monate gedauert hat. Die Schwangerschaft als solche gibt keinen Anspruch auf Lohn ohne Arbeitsleistung; nur wenn die schwangere Arbeitnehmerin aus gesundheitlichen Gründen an der Arbeit verhindert ist, kann sie Lohnfortzahlung verlangen. Der Arbeitgeber kann die Lohnfortzahlung deshalb von einem Arztzeugnis abhängig machen. Die Lohnfortzahlungspflicht besteht nur solange wie das Arbeitsverhältnis besteht.
    Gemäss OR ist der Lohn für eine „angemessene längere Zeit“ zu bezahlen (OR 324a). Wieviel das ist, sagt das Gesetz nicht. Verschiedene Arbeitsgerichte der Schweiz interpretieren das Gesetz unterschiedlich. Nach Berner Interpretation beträgt die Leistungspflicht beispielsweise

    im 2. Dienstjahr 1 Monat
    im 3. und 4. Dienstjahr 2 Monate
    im 5. bis 9. Dienstjahr 3 Monate
    erst vom 10. Dienstjahr an 4 Monate.
    Dabei handelt es sich um einen Höchstanspruch pro Jahr. Ist die Frau im gleichen Jahr bereits einmal krank geworden, so kann der Anspruch unter Umständen bereits ganz oder teilweise aufgebraucht sein. Mit dem neuen Dienstjahr entsteht wieder ein neuer Anspruch.
    (Quelle: selezione.ch)

    Noch schlimmer ist es für junge Frauen, die gerade ihre Arbeit neu angetreten sind:

    Junge Frauen, die ihre Stelle erst vor kurzem angetreten oder gewechselt haben, haben im Minimum einen Anspruch auf gerade
    drei Wochen Lohnfortzahlung. Nur gerade 40 % der privatwirtschaftlich angestellten Frauen unterstehen Gesamtarbeitsverträgen, die Situation ist aber auch dort weitgehend unbefriedigend gelöst.
    (Quelle: selezione.ch)

    Bis vor kurzem mussten Frauen, bei denen in der Schwangerschaft Komplikationen auftraten, für die daraus entstehenden Kosten selbst bezahlen:

    20.09.2006 | 08.32 h Krankenkassen sollen Komplikationen bei Schwangerschaft voll bezahlen
    Flims (AP) Werdende Mütter sollen für medizinische Komplikationen während der Schwangerschaft nicht mehr selber in die Tasche greifen müssen. Der Ständerat hat dem Bundesrat am Mittwoch als zweite Kammer aufgetragen, solche Kosten ganz den Krankenkassen zu belasten. Die Kleine Kammer überwies diskussionslos und ohne Gegenstimmen eine Motion von FDP-Fraktionschef Felix Gutzwiller (ZH), welche die Mütter von der Kostenbeteiligung ausschliessen will. Gutzwiller störte sich daran, dass nach heutiger Rechtsgrundlage die Krankenkassen bei komplikationslosen Geburten voll zahlen, während zum Beispiel die Kosten bei einer drohenden Frühgeburt teilweise auf die Frauen überwälzt werden
    (Quelle: Walliserbote.ch)

    Auf der offiziellen Webseite des Schweizer Ständerats heisst es dazu:

    Die Motion fordert eine Änderung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG), sodass der Versicherer auf Leistungen bei Mutterschaft auch dann keine Kostenbeteiligung erheben darf, wenn es während der Schwangerschaft zu Komplikationen kommt.
    Antrag der Kommission
    Die Kommission beantragt einstimmig, die Motion anzunehmen.
    (Quelle: Parlament.ch)

    [Anmerkung Admin: Da die Passage über die Mutterschutzversicherung mit Erwerbsersatz nicht mehr aktuell war, habe ich sie hier entfernt]

    Dennoch werden Kinder geboren in der Schweiz
    Geburten in der Schweiz
    (Quelle: Bundesamt für Statistik Schweiz )

    Im Durchschnitt 9.8 pro 1‘000 Einwohner. Damit befindet sich die Schweiz neben Österreich und Deutschland am unteren Ende der Europäischen Statistik. Hier die Zahlen von 2000 zum Vergleich:

    Geburten in Europa

    (Quelle)

    26 % aller Kinder wurden in der Schweiz 2005 von Ausländern geboren, obwohl die nur 20 % der Bevölkerung stellen:

    Die Schweiz hat mit 20% der Gesamtbevölkerung mit Abstand den höchsten Ausländeranteil (…), gefolgt von Deutschland (10%), Österreich (9%), den USA (7%), Frankreich (6%) und Kanada (5%). Finnland (2%), Japan (1%) und Korea (0,3%) haben dagegen sehr wenige Ausländer.
    (Quelle: chronik.geschichte-schweiz.ch)

    Wir fragen uns wie die Geburtenstatistik der Schweiz aussehen würde ohne die Ausländer. Statt 9.8 Kinder auf 1‘000 Einwohner wären es nur 26% weniger, also 7.2 Kinder auf 1‘000.

  • Die Schweiz ist arm
  • Wir vergassen noch zu erwähnen, warum die Schweiz lange Zeit keine Mutterschutzversicherung mit Erwerbsersatz hatte. Es war zu teuer. Die Schweiz ist ein armes Land und kann sich das einfach nicht leisten. Kinder in die Welt setzen ist hierzulande absolute Privatsache und da darf sich der Staat nicht einmischen. Wenn es dann ums Besteuern der „privat finanziert und grossgezogenen“ Kinder geht später, wenn sie erwachsen sind und erwerbstätig, dann wird sich der Staat wieder einmischen.

  • Und wer zahlt ihre AHV-Beiträge?
  • Wenn Monikas Kinder gross sind, im Beruf stehen, verdienen und in die AHV einzahlen, dann hoffen wir für Monika, dass sie von den diesen Einzahlungen auch etwas abbekommt im Alter. Ihrer „privaten Vorfinanzierung“ ist es zu verdanken, dass die Schweiz die AHV drei Beitragszahler erhält. Wird es ihr gedankt?

  • Neunfache Mutter und kümmerlicher Alterslohn
  • Diese Situation ist in Deutschland nicht viel anders, auch wenn dort Kindergeld und Erziehungsgeld gezahlt wird:

    Wie es um die Gerechtigkeit bestellt ist, sobald die Familie ins Spiel kommt, hat das bekannte Trümmerfrauenurteil, der Fall der neunfachen Mutter Rosa Rees, der vor Jahren das Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat, hinreichend erweisen. Diese Frau hatte geklagt, weil sie sich nicht damit abfinden wollte, für die 14 Berufsjahre, die ihr nach Abschluß der so genannten Familienphase geblieben waren, mit einem kümmerlichen Alterslohn abgespeist zu werden, während ihre Kinder, beruflich allesamt erfolgreich, dazu gezwungen waren, die Rentenkonten anderer Leute mit insgesamt 8 000 Mark monatlich zu bedienen.

    Die Urheberin dieses Reichtums mußte leer ausgehen, weil andere fixer waren als sie und dabei vom System auch noch begünstigt wurden. Der damalige Gerichtspräsident, der später Bundespräsident Roman Herzog, kommentierte den Fall seinerzeit mit den Worten: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Es ist aber wahr, und was noch schöner ist: es ist bis heute wahr geblieben. Berufsarbeit rentiert sich weitaus besser als jede Form von Familienarbeit; und das, obwohl es doch diese zweite Form von Arbeit ist, die dem System das Überleben sichert.

    Der Gesetzgeber weigert sich hartnäckig, den Auflagen der Richter nachzukommen und die sattsam bekannten Mißstände mit jedem einzelnen Reformschritt, wie es im Urteil wörtlich heißt, abzubauen. In Dingen des Familienlastenausgleichs leben wir, unabhängig davon, welche Partei an der Regierung ist, im Zustand des permanenten Verfassungsbruchs.
    (Quelle: Deutscher-Familienverband.de)

    Gehen Sie auch auf der Kante? — Kantengang und Kanterverlust in der Schweiz

    Oktober 9th, 2006
  • Einen Kanten kann man essen
  • Wenn man gute Zähne hat, denn es handelt sich hier um die Norddeutsche Variante des variantenreichen „Brotanschnitts“. Ein Kanten Brot, auch Knust genannt, das ist sowohl ein Stück Brot als auch der Anschnitt des Brotes.

  • Kanter ist Englisch für Galopp
  • Dann gibt es da noch den „Kanter“, nur unter Pferdefreunden bekannt. Es handelt sich hier um einen langsamen Galopp, und das Wort kommt aus dem Englischen. Viele Fachbegriffe aus dem Pferdesport sind im Deutschen und im Englischen fast gleich. So finden wir z. B. „das Fohlen“ = „the foal“, oder „den Jährling“ (ein einjähriges Pferd) = „the yearling“. Den Pferdgang „the canter“ hat man gar nicht erst übersetzt sondern einfach als „Kanter“ übernommen:

    Der Kanter, auch Canter, ist ein leichter, lockerer Galopp, der zum Auflockern und Entspannen dienen kann, aber auch zum Konditionsaufbau junger Pferde. Diese Gangart kann von Pferd und Reiter über lange Strecken durchgehalten werden. Das Wort kommt von englisch „Canter„, Kurzform für „Canterbury Galopp“ hergeleitet von den Pilgern, die nach Canterbury ritten. Im amerikanischen Sprachraum bedeutet „canter“ ein langsamer Galopp im Gegensatz zu „galopp“.
    (Quelle: Wikipedia)

  • In Deutschland ist war Kanther ein Politiker
  • Wir Deutschen kennen „Kanther“ als knallharten ehemaligen Innenminister von Helmut Kohl. Für uns war er der die absolute Verkörperung eines echten „Law & Order“ Mannes, umso erstaunlicher, als er später im Zug der CDU- Schwarzgeld-Affäre „Der Untreue für schuldig“ befunden wurde:
    Kanther veurteilt
    (Quelle: Spiegel-Online)

    Dann war da noch Christoph Blochers Besuch in der Türkei, über den die NZZ am Sonntag vom 8.10.06 schrieb:

    „Christoph Blochers Kantengang in der Türkei“

    Kantengang Christoph Blochers

    Diesen „Kantengang“ kanten kannten wir bisher noch nicht. Er scheint eine Schweizer Spezialität zu sein, denn unser Google-CH findet 57 Belege, während es bei Google-DE nur 18 Stellen sind.

    Das wird in der Schweiz „Eingeladen zu einem Kantengang“ (Quelle zhwin.ch, oder es heisst in der NZZ:

    Was nun aber folgt, ist ein heikler und schwieriger Kantengang zwischen Utopie und Zynismus
    (Quelle: nzz.ch)

    An anderer Stelle, auch in der NZZ finden wir:

    Gleichwohl überwiegt die Auffassung, dass der eingeschlagene Kantengang richtig sei.
    (Quelle: nzz.ch)

  • Ist ein Kantengang eine Gratwanderung?
  • In der Schweiz, dem Alpenstaat mit seinen steilen Wegen, Graten und Schluchten, läuft man also nicht auf dem Grat, sondern auf der Kante? Wir sind uns nicht sicher, ob der „Kantengang“ wirklich von der „Kante“ kommt, oder nicht doch eine langsame Gangart bezeichnet, wie beim langsamen Galopp der Pilger auf dem Weg nach Canterbury. Oder geht es immer „hart an der Kante“ entlang, kurz vor dem Absturz? Und wir Naivlinge glaubten, die „Kante“ sei mit der „Waterkant“ ein Begriff, den nur Küstenbewohner verwenden.

  • Kantersieg und Kanterniederlage
  • Wer im langsamen Galopp einen Sieg erlangt, der hat einen „Kantersieg“ errungen, einen einfachen Sieg. Den sollten Sie als gemeindeutschen Begriff kennen, auch wenn Sie keine Ahnung vom Reiten haben. Die „Kanterniederlage“ hingegen bezeichnet nur in der Schweiz als Variante eine „hohe Niederlage“, ein Debakel. Zitat aus unserem Variantenwörterbuch:

    „Vor zwölf Jahren wollten die Grünen mit [dem Begehren] „100’000 Franken sind genug“ die Löhne aller bernischen Staatsangestellten einfrieren – und erlitten gegen das vereinte Polit-Establishment eine Kanterniederlage (Facts 11.5.2000, Internet)
    (Quelle: Variantenwörterbuch DeGruyter, S. 384)

    Sollen wir nun zukünftig weiter auf „Graten wandern“ oder auf „Kanten gehen“? Fragen wir doch einfach den Duden:

    Grat, der; -[e]s, -e [mhd. grāt = Bergrücken, Rückgrat; Gräte, Spitze, Stachel, ahd. grāt = Rückgrat, eigtl. = Spitze(s), Hervorstechendes]:
    1. oberste Kante eines Bergrückens; [scharfe] Kammlinie: ein schmaler Grat; den Grat eines Berges entlangwandern; Ü auf einem schmalen Grat der Demokratie wandern.
    (Quelle: duden.de)

    Jetzt ist alles klar. Kante und Grat sind synonym, was wir Flachländer natürlich nicht ahnen konnten.

    Diesen Film werden Sie in der Schweiz nie im Kino sehen: Deutschland. Ein Sommermärchen

    Oktober 6th, 2006
  • Wer mag guckt nur den Anfang
  • Es ist eine „Fussballdoku“, die der Filmemacher Sönke Wortmann über das Team von Jürgen Klinsmann im Sommer 2006 während der WM gedreht hat. Sie werden diesen Film in der Schweiz nirgends zu sehen bekommen. In Deutschland ist er jetzt angelaufen. Dabei wäre doch zumindest der Anfang des Films für Schweizer/Italiener sehenswert:

    Am Anfang seines neuen Films ist Stille. Totenstille. Leere Gesichter. Nichts als Schweigen und Niedergeschlagenheit in der Mannschaftskabine nach dem 0:2 gegen Italien im Halbfinale. In letzter Sekunde hatten Totti & Co. den Traum vom WM-Finale zerstört. Das ganze Land war plötzlich in eine merkwürdige Stille und Gedämpftheit verfallen, in Traurigkeit und Enttäuschung, die jedoch keineswegs in Aggressivität umschlugen. Nur zum „Italiener“, mit Verlaub, mochte man erstmal nicht mehr gehen. Die Nahrungsaufnahme zwischen Pizza und Pasta wurde massenhaft verweigert.
    (Quelle: Spiegel.de vom 3.10.06 )

    Nur zur Beruhigung: Wir haben den Abend mit Italienern gefeiert und lecker Pizza gegessen. Aber vielleicht sind wir ja schon zu lange fort aus Deutschland.

  • Wo läuft der Film in Zürich?
  • Wir haben nachgeschaut, ob dieser Film in der nächsten Zeit in einem Schweizer Kino zu sehen sein wird. Fehlanzeige. Zwar wurde von Wortmann „Das Wunder von Bern“ aufgeführt, den der Film spielt ja in der Schweiz und zeigt ein digitales Remake des Wankdorfstadions. Schweizer Kinder, mit denen wir diesen Film in unserem Bülacher Lieblingskino sahen, glaubten beim Vorspann doch tatsächlich, es handele sich um einen Film auf Bärndütsch, aber egal. So kann man sich täuschen.

    Auch „Der bewegte Mann“ war vor Jahren ein grosser Erfolg. Wir vergessen niemals Rufus Beck als „Waltraud“, die plötzlich nur noch „Walther“ genannt werden will. Heute ist Rufus Beck als Hörbuch-Sprecher bekannter, nachdem er erfolgreich Harry Potter und einige Bücher von Irving auf CD eingespielt hat. Am Samstag, den 7.10.06 kann man ihn in Zürich im Schauspielhaus live erleben, wenn in einem Ein-Personen-Stück Jules Vernes „Von der Erde zum Mond“ spielt:
    Rufus Beck in Zürich
    (Quelle Foto: schauspielhaus.ch)

  • Deutschland. Ein Sommermärchen …. keine Nachfrage in Helvetia
  • Diese Filme wurden gezeigt, Sönke Wortmann ist bekannt in der Schweiz. Aber einen Film über die Deutsche Nationalmannschaft, die sich sogar noch über den dritten Platz gefreut hat? Kein Interesse beim Schweizer Publikum, kein Interesse beim Verleih. Vielleicht wird ja eine Sondervorstellung auf dem Bellevue-Platz für die 20.000 Deutschen in Zürich organisiert, könnte dann voll werden dort. Doch zum Glück treten die Deutschen in Zürich ja nie so gehäuft auf, ausser… ausser auf der Bahnhofstrasse, am Hauptbahnhof, im Schauspielhaus, im Konsulat, im Tram, im Spital. Aber sonst praktisch nirgends.

    Spiegel-Online schreibt:

    Zugleich aber ist Wortmanns Film eine Innenaufnahme deutscher Seelenzustände im Sommer 2006, das Protokoll einer Veränderung, die Skizze einer neuen Generation, das bewegte und bewegende Album eines anderen Lebensgefühls in Deutschland. Und damit auch eine Antwort auf die Frage, warum die Deutschen plötzlich so sympathisch wirkten und was es mit dem seltsamen „Partyotismus“ auf sich hatte.

    Na, ob diese Wirkung in der Schweiz wirklich vorhanden war? Wir werden nach Konstanz fahren müssen, oder nach Waldshut, um den Film zu sehen. Oder wir warten auf die TV-Premiere im Dezember. Dann müssen die Schweizer aufpassen, dass sie das nicht aus Versehen auch mit ansehen. Also rechtzeitig umschalten zur Kultsendung „Genial Daneben Schweiz“ nicht vergessen.

    Klinsmann in der Kabine
    (Quelle Foto: Kinowelt Klinsmann in der Kabine vor dem Spiel gegen Argentinien)

    Wer mal sehen möchte, wie Klinsmann in für Deutsche typischem, „gestochenen artikulierten Hochdeutsch“ sein Team kurz vor dem Spiel gegen die argentinische Mannschaft angefeuert hat, dem sei dieses Videoclip empfohlen:
    Video: Klinsmann und das Team in der Kabine

    Noch hübscher fanden wir die Bundeswehrsoldaten am Strassenrand bei der LaOla-Welle,
    LaOlaWelle der Deutschen Polizei
    (Filmausschnitt Deutschland. Ein Sommermärchen)

    während der Heimfahrt des deutschen Teams nach dem Spiel gegen Argentinien:
    Clip Heimfahrt im Bus

    Wann ist endlich Schluss mit endlich? —- Schlussendlich in der Schweiz

    Oktober 5th, 2006
  • Wann ist endlich Schluss mit endlich
  • Seit wir in der Schweiz leben, lernen wir wunderbare Wörter der Deutschen Sprache kennen, von deren Existenz wir bislang nicht einmal etwas ahnten. Manche Wörter hörten wir allerdings so oft, dass sie dann doch irgendwann anfingen uns zu nerven. Es sind Modewörter, allerdings ausgesprochen Schweizerische Modewörter. Eins davon ist „schlussendlich“.

    Google-CH findet „schlussendlich“ 420´000 Mal. Nichts Besonderes, bei Google-DE wird es sogar 1‘200’000 Mal gefunden, es ist ein normales Wort der Deutschen Sprache. Aber ist es wirklich Standarddeutsch?

    Wir befragen den Duden und finden bestätigt, dass es sich hier um einen typisch Schweizerischen Begriff handelt:

    schlussendlich (Adv.) (bes. schweiz.):
    schließlich, endlich, am Ende, zum Schluss:
    Schwer zu sagen, welches Motiv die Dora Flinner schlussendlich dazu bestimmte, diesen Kampf für sich zu wagen (natur 4, 1987, 32).
    (Quelle: duden.de)

  • Schliesslich ist doch auch sehr schön
  • Also liebe Schweizer, um mal zum Schluss ein bisschen Varianz und Abwechslung in Euer perfektes Schweizer Hochdeutsch zu bringen, tut uns endlich den Gefallen, und verwendet am Ende etwas anderes als immer nur schlussendlich. Obwohl, am Ende wird das nie verwendet, und am Schluss eines Satzes haben wir es auch nie gesehen. Nein, es steht ausschliesslich auf dem beliebten ersten Platz, dem „Vorfeld“ des Satzes, und führt eine „Vorfeldbesetzung“ durch.
    Tages-Anzeiger 19.09.06:

    Schlussendlich werden sich die Diplomanden noch der mündlichen Prüfung stellen müssen.
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Tages-Anzeiger 03.10.06:

    «Schlussendlich geht es aber um die Inhalte, nicht um die Anzahl Hörer», denkt hingegen Gustavo Salami.
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Tages-Anzeiger 7.1.2005:

    Schlussendlich muss die Ausbildung sowohl als Instrument der Strategieumsetzung wirken, als auch dazu beitragen, dass Mitarbeiter sich entwickeln und ihr volles Potential zur Geltung bringen können.
    (Quelle: Tages-Anzeiger

    Dies zwingenden Schlussfolgerungen mit „schlussendlich“ am Satzanfang beginnen uns tatsächlich auf die Nerven zu gehen. Wann ist endlich Schluss mit endlich? Oder kann man sich auch daran gewöhnen? Schlussendlich redet doch jeder wie er/sie es für richtig hält. Wir denken dann einfach nicht hin, wenn wir es beim nächsten Mal hören müssen.

    Was alles so passiert beim Tempelbau — Neues aus der Schweizer Politiksprache

    Oktober 4th, 2006
  • Was passiert? Was geht?
  • “Qu’est-ce qui se passe?“ fragen die Westschweizer, wenn Sie wissen wollen, was abgeht. Wörtlich: „Was ist das was sich passiert?„. Kommen Sie dann nach Zürich oder Deutschland, wird schnell die Frage „Was passiert?“ daraus. Ein korrekter Satz des Deutschen, der doch so nie gesagt werden würde: „Was IST passiert?“ oder „Ist was passiert?“ sind okay, Letzteres dann meinetwegen auch in Kurzform „ (ist) was passiert?

  • Was in der Schweiz passiert

  • Anders in der Schweiz. Da passiert eine ganze Menge. Für uns war das nur möglich in der Kombination mit „ist passiert“. Bisher kannten wir „passieren“ an sich nur noch aus der Küche, wenn wir in Frankreich erleben durften, wie das leckerste Gemüse gnadenlos gleich gemacht wurde, in dem es der „chef de cuisine“ durch ein Sieb „passierte“, so dass nur noch Babybrei und grüner Gemüseschleim unten dabei heraus kam.

    Die Franzosen kaufen sich solch „passiertes Gemüse“ auch in Dosen, fertig gekocht, muss man nur noch aufwärmen. An sich lecker, wenn da nicht diese grüne Farbe und die sämige Konsistenz zu bemängeln wären.

  • Bau mir noch ne Säule
  • Wir hörten in der Nachrichtensendung „10 vor 10“ im Schweizer Fernsehen am 19.09.06 einen Bericht über die „dritte Säule“. Die Schweizer sind nämlich passionierte Tempelbauern, und so ein richtiger Tempel wäre nicht vollständig ohne ein paar anständige Säulen. Zwei Säulen hat jeder, für die „dritte Säule“ muss man selbst Vorsorge tragen, in der Schweiz gern als „Sorge heben“ bezeichnet. Nicht „Säule(n) heben“, das können nur Gewichtsheber oder Schweinezüchter. Die drei Säulen meinen die Altersvorsorge:

    Drei Säulen braucht der Mensch
    (Quelle Grafik: bankcoop.ch)

    Wikipedia meint dazu:

    Die Vorsorge in der Schweiz basiert auf drei Säulen, dem sogenannten „Drei-Säulen-System“. Die Darstellung des 3-Säulenprinzips erfolgt in der Praxis unterschiedlich, insbesondere können die Meinungen betreffend der unter der 2. Säule zu erwähnenden Versicherungen divergieren. In der Bundesverfassung Art. 111 wird bei der Verwendung des Ausdruckes „…drei Säulen…“ für eine der Säulen nur die „Berufliche Vorsorge“ (Pensionskasse) erwähnt. Vielfach werden jedoch bei der Darstellung eines umfassenden Drei-Säulensystems alle Versicherungen im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit (obligatorische und freiwillige) als 2. Säule bezeichnet, resp. dargestellt
    (Quelle: Wikipedia)

    Und jetzt wurde die dritte Säule Thema im Ständerat. Erika Forster aus St. Gallen hat den Vorstoss beigebracht, eine Säule „3C“ einzuführen. Im dem Beitrag auf „10 vor 10“ heisst es dann:


    „Forsters Idee
    passierte im Ständerat mit grossem Mehr“
    (Real-Stream Video bei 2:03)

    Es geht uns hier nicht um das „Mehr“, die Schweizer Variante von „Mehrheit“ (vgl. Blogwiese). Es geht ums „passieren“.

    Da ist „es passiert“, genauer gesagt „passierte die Idee“. Kennen wir vom Schachspielen, dort gibt es den besonderen Zug „en passant“ = „im Vorbeigehen“.

    Mal schauen, ob das öfters passiert in der Schweiz:

    Der Gestaltungsplan passierte in der Schlussabstimmung mit 201:3 Stimmen.
    (Quelle: zuonline.ch)

    Es sind also Pläne, Vorschläge oder Motionen die durch eine Abstimmung müssen, wenn sie „passieren“.

    Kennt der Duden das eigentlich?

    passieren (aus gleichbed. fr. passer, dies über das Roman. zu lat. passus „Schritt, Tritt“, Bed. 2 aus fr. se passer):
    1.
    a) durchreisen, durch-, überqueren; vorüber-, durchgehen;
    b) durchlaufen (z. B. von einem Schriftstück).

  • Ja wo laufen sie denn durch, die Schriftstücke?
  • Aber es durchläuft doch nicht, sondern es wird in einer Abstimmung besprochen. Egal, wir sind grundsätzlich gern dabei, wenn irgendwo was los ist. Und hier passiert ganz offensichtlich häufig mal was. Wieder ein kleines Stückchen Schweizer Politiksprache gelernt.