Gehen Sie auch auf der Kante? — Kantengang und Kanterverlust in der Schweiz
Wenn man gute Zähne hat, denn es handelt sich hier um die Norddeutsche Variante des variantenreichen „Brotanschnitts“. Ein Kanten Brot, auch Knust genannt, das ist sowohl ein Stück Brot als auch der Anschnitt des Brotes.
Dann gibt es da noch den „Kanter“, nur unter Pferdefreunden bekannt. Es handelt sich hier um einen langsamen Galopp, und das Wort kommt aus dem Englischen. Viele Fachbegriffe aus dem Pferdesport sind im Deutschen und im Englischen fast gleich. So finden wir z. B. „das Fohlen“ = „the foal“, oder „den Jährling“ (ein einjähriges Pferd) = „the yearling“. Den Pferdgang „the canter“ hat man gar nicht erst übersetzt sondern einfach als „Kanter“ übernommen:
Der Kanter, auch Canter, ist ein leichter, lockerer Galopp, der zum Auflockern und Entspannen dienen kann, aber auch zum Konditionsaufbau junger Pferde. Diese Gangart kann von Pferd und Reiter über lange Strecken durchgehalten werden. Das Wort kommt von englisch „Canter„, Kurzform für „Canterbury Galopp“ hergeleitet von den Pilgern, die nach Canterbury ritten. Im amerikanischen Sprachraum bedeutet „canter“ ein langsamer Galopp im Gegensatz zu „galopp“.
(Quelle: Wikipedia)
Wir Deutschen kennen „Kanther“ als knallharten ehemaligen Innenminister von Helmut Kohl. Für uns war er der die absolute Verkörperung eines echten „Law & Order“ Mannes, umso erstaunlicher, als er später im Zug der CDU- Schwarzgeld-Affäre „Der Untreue für schuldig“ befunden wurde:
(Quelle: Spiegel-Online)
Dann war da noch Christoph Blochers Besuch in der Türkei, über den die NZZ am Sonntag vom 8.10.06 schrieb:
„Christoph Blochers Kantengang in der Türkei“
Diesen „Kantengang“ kanten kannten wir bisher noch nicht. Er scheint eine Schweizer Spezialität zu sein, denn unser Google-CH findet 57 Belege, während es bei Google-DE nur 18 Stellen sind.
Das wird in der Schweiz „Eingeladen zu einem Kantengang“ (Quelle zhwin.ch, oder es heisst in der NZZ:
Was nun aber folgt, ist ein heikler und schwieriger Kantengang zwischen Utopie und Zynismus
(Quelle: nzz.ch)
An anderer Stelle, auch in der NZZ finden wir:
Gleichwohl überwiegt die Auffassung, dass der eingeschlagene Kantengang richtig sei.
(Quelle: nzz.ch)
In der Schweiz, dem Alpenstaat mit seinen steilen Wegen, Graten und Schluchten, läuft man also nicht auf dem Grat, sondern auf der Kante? Wir sind uns nicht sicher, ob der „Kantengang“ wirklich von der „Kante“ kommt, oder nicht doch eine langsame Gangart bezeichnet, wie beim langsamen Galopp der Pilger auf dem Weg nach Canterbury. Oder geht es immer „hart an der Kante“ entlang, kurz vor dem Absturz? Und wir Naivlinge glaubten, die „Kante“ sei mit der „Waterkant“ ein Begriff, den nur Küstenbewohner verwenden.
Wer im langsamen Galopp einen Sieg erlangt, der hat einen „Kantersieg“ errungen, einen einfachen Sieg. Den sollten Sie als gemeindeutschen Begriff kennen, auch wenn Sie keine Ahnung vom Reiten haben. Die „Kanterniederlage“ hingegen bezeichnet nur in der Schweiz als Variante eine „hohe Niederlage“, ein Debakel. Zitat aus unserem Variantenwörterbuch:
„Vor zwölf Jahren wollten die Grünen mit [dem Begehren] „100’000 Franken sind genug“ die Löhne aller bernischen Staatsangestellten einfrieren – und erlitten gegen das vereinte Polit-Establishment eine Kanterniederlage (Facts 11.5.2000, Internet)
(Quelle: Variantenwörterbuch DeGruyter, S. 384)
Sollen wir nun zukünftig weiter auf „Graten wandern“ oder auf „Kanten gehen“? Fragen wir doch einfach den Duden:
Grat, der; -[e]s, -e [mhd. grāt = Bergrücken, Rückgrat; Gräte, Spitze, Stachel, ahd. grāt = Rückgrat, eigtl. = Spitze(s), Hervorstechendes]:
1. oberste Kante eines Bergrückens; [scharfe] Kammlinie: ein schmaler Grat; den Grat eines Berges entlangwandern; Ü auf einem schmalen Grat der Demokratie wandern.
(Quelle: duden.de)
Jetzt ist alles klar. Kante und Grat sind synonym, was wir Flachländer natürlich nicht ahnen konnten.
Oktober 9th, 2006 at 3:40
Interesant…
Ob der Film „Der Schmale Grat“ dann in der Schweiz auch „D‘ schmali Kant“ ist?… Ja, ich weiss, ich kanns nicht.
Andere Frage: Und da ich mal mit unter den ersten bin, weiss ich dass es gelesen wird:
Welcher Dialekt wird eigentlich Waldshut-Tingen/ Bad Säckingen und Umgebung gesprochen? Das ist ja auch ein Alemannisch. Geht das ins Baslerische oder mehr gen Schaffhausen? Oder hat das eine komplett eigene Färbung
Oktober 9th, 2006 at 9:48
Kanterniederlage/-sieg ist im Fussball, wenn eine Mannschaft massiv viel mehr Tore schiesst als die andere, uns so diese deklassiert. Ich glaube es sind vier oder mehr Tore mehr.
Oktober 9th, 2006 at 9:55
Wenn wir schon dabei sind: Auch andere Bereiche, sogar in anderen Sprachen werden in unerwarteten Bereichen „Kante“ genannt. Z.B. auf dem schmalen Grat zwischen zwei Sprachgebieten heisst die Beschriftung in den Zügen nicht „nächster Halt: (Stadtname)“ sondern „Nächster Grat: (Stadtname)“. Siehe Bild: http://ithink.ch/blog/files/arrete.jpg .
Mit dem obigen Abschnitt habe ich euch natürlich für den Narren gehalten. Es handelt sich hier einfach um einen peinlichen Programmierfehler. Gemeint war natürlich nicht „une arête“ [=(Haus-, Berg-)Grat, (Fisch-)Gräte, (Nasen-)Rücken], mit einem Schreibfehler [rr] sondern „un arrêt“ [= der Halt] mit vielen Schreibfehlern.
Ich frage mich, ob wohl der eher deutsche Ausdruck „über einen Kamm scheren“ aus dem Schafvokabular oder eher vom Bergkamm (Wasserscheide) herstammt. In der Schweiz hört man viel häufiger „in den gleichen Topf werfen“ für „verallgemeinern“. Hier bin ich allerdings beim „Bergkamm“ und nicht mehr bei der „Kante“ als Synonym für „Grat“ gelandet.
Das mit „Kanterniederlage“ erinnert mich an den Ausdruck „hochkant“. Z.B. „Er wurde hochkant aus dem Verein geworfen“. In diesem nicht geometrischen Zusammenhang denkt man nicht an „Gegenteil von länskant, flachkant“, sondern an „so hoch wie eine Berg-, Hauskante“.
Oktober 9th, 2006 at 10:07
nicht zu vergessen ist natürlich der schöne ausdruck „sich d’kante geh“ (=sich die kante geben), was soviel heisst, wie „sich volllaufen lassen“. 🙂
jaja, wir sind vielfältig in der verwendung unserer wörter…
Oktober 9th, 2006 at 11:10
@Es Maitli
Ja, und die Kante gibt man sich gewöhnlich „bis Oberkante Unterlippe“
Oktober 9th, 2006 at 11:13
Mir ist die Gratwanderung geläufiger als der Kantengang. Und beim Kamm kommt mir eher“durchkämmen“ in den Sinn – was bei uns natürlich „duresträhle“ heisst.
@Cimaera: Den Waldshuter Dialekt kann man nicht mit dem Schaffhauser- oder Baslerdialekt vergleichen. Es sind drei verschiedene Dialekte.
Zu Schweizerdeutsch: Auf Blick online schreibt eine Deutsche über ihre Erfahrungen beim Schweizerdeutsch lernen. Manchmal etwas abstrus, aber meistens amüsant geschrieben.
Oktober 9th, 2006 at 13:25
kantengang? habe ich noch nie gehört. ist es zufall, dass nur beispiele aus der NZZ zitiert werden? ich lese zwar viel zeitung, aber nicht nzz: kantengang habe ich noch nie gelesen.
Oktober 9th, 2006 at 14:52
@ Phipu…..:
….. das „über den kamm scheren“ leitet sich von einer handhabung bei der flachsverarbeitung ab…..
….. der flachs (oder hanf) wurde mehrfach über eine kante gebrochen, um den holzigen stengelanteil zu brechen und wurde dann durch einen rechen, einen kamm gezogen um die holzigen anteile von den fasern zu trennen, welche dann wiederum zur erzeugung von seilen und textilien verwandt wurden…..
….. im ursprünglichen dialekt meines vaters nannte man diese tätigkeit „chudere“…..
Oktober 9th, 2006 at 15:31
An Kopfchaos
Vielen Dank für die Erklärung zum Flachsscheren. Jetzt weiss ich auch endlich, was im „Chuderhüsi“ gemacht wurde. Wird u.a. hier erwähnt:
http://www.regionalverkehr.ch/pv/php/produkte/rmbus_1-de.php?01030201&xmlid=27
Hätte Jens sein Wahldomizil ins Emmental gelegt, wäre dieser Blog noch viel ausführlicher, mit all den besonderen Wörtern.
Oktober 9th, 2006 at 16:11
Dann gibt es noch das „Kanterbräu“ (la bière de maître Kanter) und das Rilkegedicht „Der Kanter“.
Oktober 9th, 2006 at 17:16
den ausdruck „kante“ ist im grossen kanton auch durchaus üblich.der hessische ministerpräsident sagt est kürzlich:“ der haushalt ist auf kante genäht“d.h. er hat keinen spielraum, ist knapp .
der schweizerische begriff wäre also auch sinngemäß für brüder und schwestern ennet de rhiin verständlich;-)
Oktober 9th, 2006 at 17:16
@Phipu
Vielleicht können wir ihn in etwa einem Jahr dazu bewegen – einfach, wenn Zürich in etwa 1 Jahr „erschlagen“ ist 🙂
Oktober 9th, 2006 at 17:33
A Canter. Schneller als ein Trot, langsamer als ein Galopp.
Fiona
Oktober 9th, 2006 at 18:02
Kantengang. Ein sehr interessantes Wort. Auf English ist ein „cant“ (Old English) „an inclination from the level“, d.h. ein Gefälle. Ich nehme an, im Fall des Kantengangs des Bundesrates Blocher ist folgendes passiert – er ist unerhofft in einem Gefälle geraten. Das Gefälle war spezifisch: a departure from the official Swiss policy on a specific area of CH/TR foreign relations. Blocher went off-piste!!!
P.S. Old English (bis 1150 AD, nachher überholt/obsolet) a moderately inflected language, with endings added to the stem of a word to indicate gender and number, hat vieles gemeinsam mit Modern German.
Fiona