To be or not to be at the «Chilbi»

Juni 10th, 2006
  • Sommerzeit ist Chilbi-Zeit
  • Die Schweizer „Chilbi“ kommt nicht von „Hillbilly“ = dem Hinterwäldler Fest der Amerikaner, und hat auch nichts mit ab-„chillen“ in der Chille zu tun, vielmehr findet es sich, mit streng knackig-konservativem „k“ im Anlaut geschrieben, im Duden:

    Kilbi, die; -, Kilbenen [zu alemann. Kilche = Kirche] (schweiz. mundartl.):
    1. Kirchweih.
    2. Fest, [private] Feier:
    Als endlich das Haus erbauet war, zogen sie hinüber … und gaben als … Hausräuki eine Kilbi, die drei Tage lang dauerte (Gotthelf, Spinne 103).

    Es gibt diese „Kirchweih“ auch als

    Kirtag (Österreich)
    Kirchtag (D-südost)
    Kirbe (D-südwest)
    Kirmse (D-nordost)
    Kirta (D-südost) oder
    Rummel (D-ost/nord)
    (Quelle: Variantenwörterbuch DeDruyter S. 163)

    Die Schweizer fügen mitunter noch die Alpen hinzu zum „Älperchilbi“ oder einen Sennen zur „Sennenchilbi“.

  • Jedem Ort seine Kirmes
  • Jedem sein eigenes Wort für dieses Fest also, welches zudem noch in jeder Stadt einen eigenen Namen haben kann. In Hamburg heisst die Kirmes der „Hamburger Dom“ , in Stuttgart der „Cannstatter Wasen“ und in Zürich das Knabenschiessen, und in Bern „Frühjahrsession„, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

  • Haifisch mal ganz leicht essen
  • Die anstehenden sechs Wochen Fifa-WM-Zeit sind in der Schweiz genau wie in Deutschland bei gutem Wetter absolute „Biergarten“ und „Draussen-Fussball-Gucken“ Zeit. Vielerorts werden Feste veranstaltet. Ohne Grossleinwand geht da gar nichts mehr. Neulich am Zürisee entdeckt wird diese hübsche Ankündigung in Thalwil:
    highlights in Thalwil
    (Quelle: Hafenfest Thalwil)
    Uns wundert bei diesen „highlight’s“ nur, dass sie nicht konsequent mit „ai“ geschrieben wurden, wie „Hai-Lite’s“, als „Haifischflosse auf die leichte Art“ zubereitet. Die falschen angelsächsischen Genitive werden überhaupt nirgends mehr wahrgenommen. Neulich lasen wir auf einer Speisekarte auch das Versprechen: „Stet’s frische Speisen“ serviert zu bekommen. Nein Danke. So frisch können die nicht sein, wenn hinten schon das „s“ abfällt.

  • Dröschschürtor und Halbrännärs
  • In Stadel im Zürcher Unterland öffnet vom 9. – 11. Juni das „Dröschschürtor“. Zweimal „sch“ in einem Wort plus zwei Umlaute, da wird es dann heikel für uns Deutsche, wenn wir nicht beherzt das Wort einfach laut vorlesen. „Dreschen“ ist eine alte landwirtschaftliche Tätigkeit, dazu braucht es einen „Dreschflegel“. Oder geht es hier um „Dressur“ in der Toreinfahrt?
    Dröschschürtor und Austrinkete
    (Quelle Zürcher Unterländer 08.06.06 Seite 9)

    Wir wissen es nicht. Jedenfalls spielt dort eine Musikgruppe namens „Halbrännärs“. Oder ist das gar keine Musikgruppe, und nur eine Verkaufsstand für halbe Vorbrenner der Mantafahrer im Unterland, bzw. halb gebrannte Schnäpse? Aus der Website der Halbränners werden wir jedenfalls nicht schlau, was diese Halb-Brenner mit nur einem „b“ eigentlich machen. Sie stecken vielleicht mit den „highlight’s“ in Thalwil unter einer Decke, denn auch hier gibt es Plural-S als Genitiv:
    flyers mit Plural S
    flyer’s
    (Quelle Foto)

  • Was tut man auf einer „Austrinkete“?
  • Auf der Chilbi in Stadel findet dann am Sonntag um 11:00 Uhr die „Austrinkete“ statt. Sie kommen bestimmt nicht drauf, was man da so tun muss. Na, austrinken, was denn sonst! Ob die restlichen zwei Festtage die Gläser grundsätzlich nur halb leer getrunken werden dürfen, entzieht sich unserer Kenntnis.

    Warum es nervt, wenn alle nur für Costa Rica sind

    Juni 9th, 2006
  • Wie war noch mal das Torverhältnis nach den Testspielen?
  • Heute beginnt die Fussballweltmeisterschaft in Deutschland. Wochenlang wurde ein gigantischer Medienrummel veranstaltet, nie war die „Hype-Blase“ so gross wie bei dieser WM. Gab es eigentlich früher schon Liveübertragungen von Freundschaftsspielen oder Testspielen sämtlicher beteiligter Mannschaften zur besten Sendezeit? Berichterstattung, Kommentare, sogar Ergebnisstabellen von Testspielen bereits eine Woche vor einer WM?

    Wir können uns nicht erinnern. Diesmal findet die WM in Deutschland statt, was nicht dem Kaiser zu verdanken ist, wie alle meinen, sondern der Satirezeitschrift Titanic, wie es mittlerweile auch auf der offiziellen Fifa-Website nachzulesen ist: Wie TITANIC einmal die Fussball-WM 2006 nach Deutschland holte.

  • Die Schweiz ist dabei
  • Dank eines Stausees bzw. eines Sperrfeuers (vgl. Blogwiese) ist die Schweiz in Deutschland dabei. Sie wird in Bad Bertrich auf, dem 27. Kanton der Schweizer Eidgenossenschaft, umjubelt und verwöhnt.
    Bad Bertrich im Schweiz-Fieber
    (Quelle Foto Bad Bertrich)

    Sogar einen Schwiizerdütsch-Kurs haben die Einwohner dort gemacht, um ihre Gastfreundschaft zu demonstrieren!

  • Ob das die Schweizer in der Schweiz wirklich interessiert?
  • Durch die Schweizer Teilnahme an der WM ist die Begeisterung im Lande gross. Schweizer Fahnen hängen an vielen Fenstern, bereits Tage vor dem WM-Start sah man Autos mit wehender Schweizerflagge im Strassenverkehr. Das erste Spiel findet heute um 18.00 Uhr statt. Ausgerechnet Deutschland, der Gastgeber, bekommt diese besondere Ehre zugeteilt, gegen Costa Rica gewinnen verlieren spielen zu dürfen. In Bülach wie in vielen anderen Städten werden die Spiele im Kino und sogar auf einer Grossleinwand in der Stadthalle übertragen.

  • Als Deutsche unter lauter Costa Rica Fans
  • Sollen wir da wirklich auch hingehen und uns anschauen, wie Deutschland spielt? Macht es Spass, einige hundert Schweizer dabei zu beobachten, wie sie sich über jeden Freistoss für Costa Rica freuen, und wie sie jedes Foul eines Deutschen Spielers auspfeifen? Am Freitag werden die Schweizer Fussballfans ein einig Volk von Costa Rica Fans sein, das ist sicher. Ganz egal, wer gegen Deutschland spielt, Hauptsache Deutschland verliert.

  • Costa Rica ist die Schweiz Südamerikas
  • Der kleine Staat Costa Rica hat viel Ähnlichkeiten mit der Schweiz. Seit 1948 hier das Militär abgeschafft wurde, ist der Staat neutral. Na gut, seine Milizarmee hat die Schweiz immer behalten, aber Neutralität wird auch hier gepflegt. Während in den umliegenden Staaten eine Militärregierung die nächste ablöste, bemühte sich das Land um die friedliche Beilegung der Konflikte in Mittelamerika, wofür sein Präsident, Óscar Arias Sánchez, 1987 den Friedensnobelpreis erhielt:

    Costa Rica wird auch die „Schweiz Mittelamerikas“ genannt, nicht nur wegen der bergigen Landschaft, sondern auch wegen des relativen Wohlstands.
    (Quelle: Wikipedia)

  • Ob die Schweizer Fussballfans das wussten?
  • Wir glauben es eigentlich weniger. Höchstens Schweizer, denen es früher zu eng wurde in Helvetia, so dass sie nach Südamerika gingen, für ein Jahr oder in die Ferien, und dort ihre künftige Frau kennen lernten, werden sich ein wenig in der Geographie und Geschichte Lateinamerikas auskennen. Den anderen wird es egal sein. Hauptsache, die Deutschen kriegen tüchtig eins auf die Mütze.

  • Warum es nervt, wenn alle für Costa Rica sind
  • Es macht uns traurig und wütend, diese unverblümt zur Schau getragenen Anti-Deutschen Ressentiments zu beobachten. Anstatt die Spieler nach ihren Leistungen zu beurteilen, die saumässig gut oder loosermässig schlecht sein mögen, wird hier pauschal draufgeklopft und Frust abgebaut, der sich offensichtlich angesammelt hat. Natürlich drücken wir für Deutschland die Daumen, natürlich freuen wir uns, wenn die Gastgeber dieser WM von der Begeisterung ihres Landes mitgetragen werden, und es weit schaffen. Es täte Deutschland gut, wieder so einen Kick und ein bisschen Selbstvertrauen zu kriegen, um sich in der derzeitigen Wirtschaftsmisere selbst am Schopf aus dem Sumpf der Hoffnungslosigkeit und Arbeitslosigkeit zu ziehen.

    Falls die Jungs aber scheisse spielen, dann heult ihnen niemand eine Träne nach, und sie werden garantiert schnell und kalt abserviert. Die Deutsche Boulevardpresse ist da ziemlich gnadenlos, wenn es Schuldige zu bestimmen gilt.

  • Wer guckt das Spiel?
  • Freitag um 18.00 Uhr sind die meisten Deutschen in der Schweiz wohl gerade auf dem Heimweg um sich brav das Spiel vor dem Fernseher anzuschauen. Einen Autokorso werden sie garantiert nicht nach dem Spiel veranstalten, aber ich wette, es finden sich 30 Costa Ricaner in Zürich, die es tun werden… falls sie gewinnen.

  • 1974 war die WM in Deutschland
  • Als die Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland stattfand, war es für mich als Kind völlig ausser Frage, dass Deutschland den Titel holt. Ich hatte ja vom ersten Tag an jedes Spiel im neu gekauften Schwarzweiss-Fernseher mitangesehen und konnte die Mannschaftsaufstellung rauf- und runterbeten. Also konnte Deutschland überhaupt nicht verlieren. Für deutsche Kinder wird es heute nicht anders sein. Deutschland wird Weltmeister. Fragen wir hingegen Schweizer, wie weit die Schweiz kommen wird, dann sprechen die allenfalls von einer Teilnahme am Viertelfinale. Warum ist Optimismus eigentlich so grauenhaft unschweizerisch?

    Blick auf den Schreibtisch eines Deutschen in der Schweiz:

    Deutschland Wimpel

    Muss der Chauffeur eigentlich noch heizen? Oder heisst er nur so?

    Juni 8th, 2006

    Gestern diskutierten wir hier die Redewendung „sauber übers Nierenstück„, welches wir im Tages-Anzeiger vom 24.05.06 gefunden hatten:

    Sauber übers Nierstück im Tagi

    In dem zitierten Tagi-Artikel von Peter W. Frey geht es um den SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner, in dessen Transportfirma die „Chauffeure gegen die Chauffeurverordnung“ verstossen haben.

  • Dem Chauffeur ist niemals kalt
  • Nun wissen wir alle, dass „chauffer“ Französisch ist und „heizen“ bedeutet, und ein Chauffeur ursprünglich der Heizer auf der Dampflokomotive war, später dann die feinen Lederhandschuhe anzog und lieber Luxuskarosserien mit feinen Herrschaften im Verschlag durch die Gegend kutschierte.

    Will der wirklich Camions fahren?
    (Foto: moviestarlimo.com)

    Solche merkwürdigen Assoziationen haben allerdings nur wir Deutsche beim Wort „Chauffeur“. Nicht die Schweizer, für die ist ein „Camion Chauffeur“ einfach nur ein unterbezahlter und überarbeitete LKW-Fahrer, die seine vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht einhalten kann, darf oder will und immer weiter über die Autobahn „heizt„. Zitat aus dem Artikel von Peter W. Frey:

    Nach einer Busse wegen Verletzung der Chauffeurverordnung habe er 2004 seine 87 Fahrer durch die Kantonspolizei nochmals eingehen instruieren lassen.
    (Tages-Anzeiger vom 24.05.06)

  • Busse, Car und Postauto
  • Warum die Schweizer ihre „Busse“ eigentlich nie mit den gleichnahmigen Fahrzeugen für viele Fahrgäste verwechseln, verstanden wir erst, als wir entdeckten, dass hier die Reisebusse „Car“ heissen, und der Überlandbus „Das Postauto“ ist. Das Postauto in der Schweiz sieht so aus:
    Das Postauto in der Schweiz
    (Quelle: schwaegalp-schwinget.ch)

    In Leipzig (Kanton Sachsen) hingegen sieht das Postauto so aus:
    Das Postauto in Deutschland
    (Quelle: Uni-leipzig.de)

    Verwechslungen sind daher völlig unmöglich. Aber wie sagt man dann in der Schweiz zum Auto des Briefträgers?

    Sind Sie auch sauber übers Nierenstück?

    Juni 7th, 2006
  • Gegenteil vom „Tolgen im Reinheft haben“
  • Lange mussten wir warten, um das passende Gegenstück zum „Tolgen im Reinheft“ (vlg. Blogwiese) der Schweizer zu finden. Doch dann stiessen wir im Fachblatt für das T-äglich A-ngewandte G-ebrauchs I-diom auf diesen Passus:

    Giezendanner steht auf und legt Gerichtspräsident Christian Sigg Unterlagen auf dem Tisch. Sie sollen dokumentieren, dass seine Firma sauber übers Nierstück ist.
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 24.05.06, S. 3)

    Sauber übers Nierstück im Tagi

  • Nierstücke sind etwas sehr feines, auch ohne „e“
  • Eigentlich haben Nierenstücke immer sauber zu sein. Schliesslich wollen wir sie ja essen. Es gibt sie vom Schwein genauso wie vom Rind:
    Nierenstücke von delicarna.ch
    (Quelle Foto: delicarna.ch)

  • Nierenstücke sind kein Fleisch der Niere
  • Für uns Deutsche ist das Tollste an diesem leckeren Stück Fleisch die Tatsache, dass es überhaupt nichts mit der Niere von einem Schwein oder Rind zu tun hat, sondern das Wort „Niere“ (ohne Endungs-E) lediglich auf die Position verweist:
    Hier sind die Nierstücke
    Grafik Wikipedia
    (Zeichnung aus Wikipedia)

    In Deutschland nennen wir dies sehr teutonisch-preussisch „Kotelett“:

    Koteletts (von französisch côtelette für Rippchen aus französisch côte, bzw. lateinisch costa für „Seite, Rippe“) oder Karrees sind Scheiben aus dem Rippenstück (auch Karree, Rücken oder Kotelettstrang genannt) mit Knochen (…). Beim Schwein reicht der Kotelettstrang bis zur Hinterkeule. Die vorderen Koteletts werden wegen der anliegenden Rippenknochen Stiel- oder Rippenkotelett genannt, die hinteren, die auch Teile des Filets enthalten, Lummer- oder Lendenkotelett, schweizerisch Nierenstück. Dieses Teilstück ist besonders knochenarm und mager.
    (Quelle: Wikipedia)

    So müssen wir also keine Angst haben, Niere vorgesetzt zu bekommen, sondern können weiter von Koteletts träumen. Mag hier jemand Niere? Aber was hat ein leckeres Fleischgericht nun mit dem „Tolgen im Reinheft“ zu tun? Wir finden zwar eine Erklärung für die Redewendung „Sauber sein übers Nierenstück“:

    eine weiße (o. reine o. saubere) Weste haben – sauber sein übers Nierenstück
    (Quelle: proverbium.eu)

    haben deswegen aber noch nicht verstanden, warum die Schweizer ausgerechnet an Koteletts denken, wenn sie eine „weisse Weste“ meinen. Mal sehen, wo sich diese Redewendung sonst noch finden lässt. Google kennt zwei Varianten: Mit und ohne Binnen-E: „Sauber übers Nierenstück“ und „Sauber übers Nierstück“. Besonders überrascht hat uns eine Fundstelle bei unserem Schweizer Lieblingsdichter, Gottfried Keller. Sie wissen schon, der Mann mit der Lizenz zum „i“ schreiben im Adjektiv „Züricher“ (vgl. Blogwiese) .

  • Ein Hevetismus bei Gottfried Keller!
  • In seiner berühmten Novelle „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, die mehrfach verfilmt wurde (zuletzt etwas unglücklich 2001, siehe IMDB ) heisst es:

    nie drängte sich einer von ihnen vor oder strebte nach einem Vorteil oder nach einem Amte, und ihre größte Ehre setzten sie darein, gelegentlich einem oder dem andern »berühmten Eidgenossen« schnell die Hand zu drücken; aber es mußte schon ein rechter sein und »sauber übers Nierenstück«, wie sie zu sagen pflegten.
    (Quelle: Das Fähnlein der Sieben Aufrechten)

    Auffallend ist hier, das Keller den Buchstaben „e“ zwar Hochdeutsch mässig mitschreibt, die Redewendung aber mit Gänsefüsschen als eine solche deutlich kennzeichnet. Helvetismen sind verdammt schwer zu finden bei ihm!

    Auf einer christlichen Website finden wir den Ausdruck ebenfalls:

    Jesus hatte keine Berührungsängste. Er konnte mit allen Menschen reden. Auch mit solchen, die nach dem Urteil der Gesetzeslehrer nicht sauber übers Nierstück waren.
    (Quelle: Christkath.ch)

    Laut unserem Sprichwörter-Duden galt die Niere früher als Sitz der Gemütsbewegungen, auch allgemein als Sitz der Lebenskraft. Daher rühren noch die Wendung „Es geht mir an die Nieren“ oder „etwas auf Herz und Nieren prüfen“. Die Schweizer scheinen hier pragmatischer veranlagt zu sein: Wer über dem Nierenstück sauber ist, hat eine reine Weste und nichts zu verbergen. Warum das wohl so ist? Hier müssen wir passen und bitte um Ratschläge von belesenen Metzgern, Fleischern und Kotelettspezialisten.

    Die Nachschlagung — Per Antragformular Ruhe auf dem Rütli schaffen

    Juni 6th, 2006
  • Es „sich“ gewohnt sein
  • Studenten in Deutschland sind einiges gewohnt, was ihre Mahlzeiten in der „Mensa“, dem studentischen Mittagstisch angeht. Anders als die Schweizer können sie beim „gewohnt sein“ nicht noch ein „sich“ einfügen. Ihre Schweizer Mitstudenten hingegen sind „sich“ einiges gewohnt. Beim Überqueren des Rheines in Richtung Norden säuft dieses „sich“ dann ab. Es existiert in Deutschland beim „gewohnt sein“ nicht. Oder hat es „sich“ einfach dünne gemacht und ist zum Wetter geflüchtet, das „sich“ in Deutschland, anders als in der Schweiz, ständig reflexiv ändert?

  • Stammessen und Nachschlag
  • Studenten sind „sich“ einiges gewohnt, sie müssen in einer Mensa nämlich „Stammessen“ essen. Das sind jetzt keine Baumstämme, oder nach Volksstämmen sortierte Angebote, sondern schlicht eine Auswahl zwischen „Eins“ und „Zwei“. So heissen die Warteschlangen zu den Fliesbändern der Massenabspeisungen in der Universität. Wem die normale Portion beim Essen nicht reicht, der muss noch mal zurück und sich einen „Nachschlag“ holen.

  • Nachschlag auch bei den Staumeldungen
  • Das tut nicht weh und macht extra satt, eine ordentliche Portion „Sättigungsbeilage“, wie man im Osten das offiziell nannte. Da viele Menschen in Deutschland studieren und anschliessend als Soziologen oder Deutschlehrer auf der Strasse stehen ohne Job, gehen diese Menschen zum Beispiel zum Radio, um Moderator zu werden. Und so kommt es, dass beim Sender SWR3 aus Baden-Baden, der bis weit in die Schweiz gut zu empfangen ist, permanent vom „Nachschlag“ geredet wird, wenn nach der Verlesung der morgendlichen Staumeldungen noch eine Information nachgeliefert wird: „Ich habe da noch einen Nachschlag….

    Wir fragen uns dann als Hörer immer, in welcher Mensa diese Moderatoren früher nicht satt wurden, wenn sie heute noch vom Nachschlag träumen.

  • Aus „Nachschlagen“ wird die „Nachschlagung“
  • Für die Schweizer ist das Verb „nachschlagen“ und sein Substantiv, das „Nachschlagen einer Information“ offensichtlich zu kurz. Es klingt tönt nicht schön in ihren Ohren, da muss doch noch was dran. Jawohl, ein „-ung“ wäre fein.

    Das hübsche Wort findet sich in vielen Gesetzestexten und Anleitung. So lasen wir hier beim Justiz-Departement des Kanton Solothurn unter der Überschrift: „Eintragung von Dienstbarkeiten und Grundlasten im Grundbuch“ die Anleitung:

    4. Attribute, wie „unbedingt“, „ungehindert“, „beschränkt“, „unbeschränkt“, usw., sind für den Hauptbucheintrag nicht zu verwenden, denn sie sind in der Regel für die nähere Bestimmung des Inhaltes der Dienstbarkeit oder Grundlast, weil sie zu dessen Feststellung die Nachschlagung des Grundbuchbeleges nicht entbehrlich machen, belanglos.
    (Quelle)

    Voller Anerkennung verleihen wir auch bei diesem Text für die Verwendung des doppelten Genitivs („des Inhalts der Dieinstbarkeit“ und „dessen Festlegung die Nachschlagung des Grundbuchbeleges“) unser Ehrenabzeichen am Goldenen Bande.

    In Deutschland wird das Wort „Nachschlagung“ nur im staubtrockenen Deutschen Rechtswörterbuch DRW erwähnt, aber nicht in echten Texten, zusammen mit
    dem Nachschlagungsprotokoll,
    dem Nachschlagungsrecht,
    dem Nachschlagungszug und
    dem Nachschlagsverfahren.
    (Quelle: DRW)
    Wir anerkennen auch hier neidlos die juristische Kreativität.

  • Sie wollen zum Rütli? Dann bitte hier den Antrag ausfüllen und unterschreiben!
  • Entdeckt haben wir das hübsche Wort in einem Artikel des Tages-Anzeigers vom 04.06.06 über die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG, welche in diesem Jahr für das Anmeldeprozedere zum Nationalheiligtum Rütli zuständig ist. Wer dort am 1. August hinfahren möchte, braucht ein Ticket, dass mit diesem Formular beantragt werden muss.

    Darin heisst es:

    Das Antragsformular muss leserlich, vollständig und wahrheitsgetreu ausgefüllt werden.
    Unleserliche Antragsformulare und Antragsformulare, die nicht vollständig und/oder nicht wahrheitsgetreu ausgefüllt sind, werden ohne Benachrichtigung nicht zugelassen.
    Die Veranstalter behalten sich vor im Zweifelsfall die auf dem Antragsformular aufgeführten Personen durch Nachschlagung in den polizeilichen Datenbanken zu überprüfen.
    Die Karten sind persönlich und nur mit einem Personalausweis gültig.

    Wenn das die Radaubrüder vom letzten Jahr noch nicht genug abschrecken sollte von ihren bösen Plänen, dann sicherlich der letzte Absatz dieses Antragformulars:

    Ich/wir verpflichte mich/uns, die Bundesfeier am 1. August in keiner Weise zu stören und mich/uns an die Hausordnung der Rütlikommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft zu halten, bzw. dass ich/wir mich/uns an die Weisungen der Polizei und des Ordnungsdienstes halten werden.
    Ort und Datum: Unterschrift:

    (Quelle: sgg-ssup.ch)
    Ein Mann, ein Wort. Ein Rütlifest, ein Formular. So nimmt der friedliche Geist des Treffens auf der Rütliwiese endlich Gestalt an. Wir fragen uns, warum man nicht früher auf diese Idee gekommen ist. Einfach alle Besucher auf dem Weg zur Rütli diesen Zettel unterschreiben lassen, und schon ist Ruhe auf der Wiese. Dass die Schweizer Behörden auf solche genialen Ideen aber immer erst so spät kommen. Was hätte alles damit im letzten Jahr verhindert werden können!