Wer führt eigentlich hier den Mist? — Neue Schweizer Redewendungen

März 31st, 2006
  • Der Mist ist nun geführt
  • Wir stolperten über einen Satz im Tages-Anzeiger vom 23.03.06 S. 15

    Der Mist ist nun geführt, und das Urteil des Obergerichts ist rechtskräftig.

    Der Mist ist nun geführt

    Es ging in dem Artikel um eine Bauernfamilie auf dem Döltschihof in Wiedikon, die nach einem Urteil des Obergerichts ihren Hof räumen muss. Der Satz passt also vollkommen in den Kontext, in dem es auch um biologischen Landbau und Milchkühe geht. Dennoch verstehen wir absolut nicht, warum man hier „Mist führen“ muss. Vielleicht ist es nur ein Schreibfehler, und es sollte heissen: „Der letzte Mist wurde aufs Feld gefahren“, die letzte Scheune leer geräumt, die Arbeit erledigt. Aber da steht eindeutig „geführt“, und nicht „gefahren“. Ob sie dort mit einem Ochsenfuhrwerk arbeiten, und die Zugtiere mit einem Karren voll Mist im Schlepptau auf das Feld „geführt“ werden müssen? Diesmal beschliessen wir, nicht viel Zeit mit Duden, Wahrig, Leo und Konsorten zu verlieren, sondern gleich das Variantenwörterbuch des Deutschen aus dem DeGruyter Verlag zu befragen. Und tatsächlich, wir lesen dort schwarz auf weiss auf Seite 505:

    Der Mist ist geführt“ CH ‚etw. ist gelaufen, erledigt’
    Die Kräfte reichten nur bis zum ersten Gegentor. Dann war der Tank leer – und der Mist geführt (Blick 16.5.1998,15)

    Suchen wir genau diesen Ausdruck „Der Mist ist geführt“ bei Google-Schweiz, so finden wir weitere schöne Beispiele:

    Der Mist ist geführt Weltwoche, 17. August 2000
    In Zürich und Chicago einst ein eigenartiger Hit, in New York jetzt ein peinlicher Flop: die kuriose Kuhparade.
    (Quelle: hossli.com)

    Oder auf der offiziellen Seite parlament.ch

    Der Mist ist geführt
    Weil die Finanzdelegation das dringliche Airline-Engagement gebilligt habe, stehe das Parlament vor einem „Fait accompli“, sagte Simon Epiney (CVP/VS).
    (Quelle: parlament.ch)

    Oder hier:

    Die National- und Ständeratswahlen sind vorbei; die Resultate sind bekannt. „Der Mist ist geführt“, ist eine gängige Redensart dafür.
    (Quelle: ref-ag.ch)

    Verstehen Sie diese Redewendung?
    Ganz ehrlich: Ohne den Hinweis des Variantenwörterbuchs wären wir nie auf die Bedeutung „etw. ist gelaufen, erledigt“ gekommen. Verstehen das die Schweizer einfach so auf Anhieb? Wo mag diese Redensart nur herkommen? Tatsächlich aus der Zeit, als in der Schweiz Zugtiere mit einem Karren voll Mist auf das Feld geführt wurden, und nach Ausbringen dieser Fuhre einfach „alles erledigt, alles gelaufen“ war.

    Weil man nun auf dem Feld so lange nichts mehr arbeiten konnte, bis sich der Gestank verzogen hatte? Alles nur unsere Vermutungen. Ist diese Redewendung vielleicht im kollektiven Bewusstsein der Schweizer so fest verankert, weil hier alle irgendwie von Vorfahren abstimmen, die im Agrarsektor tätig waren? Nun, bekanntlich ist auch die „Grande Nation“ Frankreich früher ein Agrarland gewesen, dass erst sehr spät den Umbau zur Industrienation erlebte. Die meisten Franzosen haben Vorfahren aus irgendeinem kleinem Dorf der Province, die in Frankreich gleich hinter der Stadtautobahn von Paris, dem „Boulevard périphérique“ beginnt. Und im Ruhrgebiet weideten vor 150 Jahren noch Kühe, bis ein Kuhhirte in Bochum im Lagerfeuer plötzlich glühende Steine fand, womit die Kohle auch dort entdeckt und die Bauernidylle zu Ende war. Vielleicht ist es darum auch in der Schweiz an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass in solchen Redewendung „bäuerliche Grunderfahrungen“ konserviert werden. Frei nach der alten Schweizer Bauernregel:
    „Wenn der Bauer führt den Mist, dann ändert nicht die Sprache, sondern sie bleibt, wie sie ist“
    Mist ist geführt

    Grüezi, ich hätte gern eine Deutschlandflagge — Fussballfieber bei der Migros

    März 30th, 2006
  • Fussballfieber bei der Migros
  • Wir lasen im MIGROS-Magazin Nr. 12 vom 21. März

    Fussballfieber
    Wahre Fans zeigen während der Weltmeisterschaft Flagge.
    Die Untensilien dazu findet man in der Migros.

    Fussballfieber in der Migros

    Dann werden sie noch auf der gleichen Seite vorgestellt, die Utensilien und Fanartikel für Gross und Klein.

    T-Shirt Spanien und Kappe für Brasilien

    Es gibt ein T-Shirt „Spanien“, eine Kappe mit Schlüsselanhänger „Brasilien“, Shorts und Trägershirt zu „Italien“ und sogar „Croatia“ (spielt am 22.06. in Stuttgart gegen Australien) ist vertreten.

    Italien, Kroatien und Brasilien

  • Was wir nicht finden können?
  • Nun, dreimal dürfen Sie raten: Keine Schwarz-Rot-Goldene Flagge, kein Bundesadler weit und breit zu sehen. Wir gehen selbst in die Migros zum Nachschauen: Dort hängen tatsächlich neben den Italienischen „Trainern“ ein paar in Schwarz-Rot-Gold!
    Schwarz-Rot-Goldene Trainer rechts

    Sagen wir lieber: In drei hübschen Farben. Rot und Gelb ist auch darunter. Vielleicht merkt es ja so niemand, dass hier die Nationalfarben des geliebten Nachbarn aushängen. Stark nachgefragt scheinen die Dinger jedenfalls nicht zu sein.

  • Was uns tröstet?
  • Fan-Artikel für die Schweiz sind ebenfalls nicht in der Migros-Zeitung abgebildet. Vielleicht weil sich die Herstellung von Schweiz-Fanartikel für nur drei Spiele am 13. Juni, 19. Juni und 23. Juni nicht wirklich lohnen würde? Wer würde die schon kaufen? Dabei könnten man bei guter Qualität die Sachen doch noch bis zum 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, weitertragen! Wie gut die Qualität wohl ist? Schauen wir uns das Preisschild an. Die Migros ist ja berühmt für ihre hervorragende „Swiss Made“ Qualität bei (fast) allen Artikeln.

  • Woher kommen die Fan-Artikel?
  • Kleine Ironie des Schicksals: Raten Sie mal, in welchem Land diese hübschen Anzüge hergestellt wurden. Sie sehen es ja selbst auf dem Preisschild: Made in Turkey.

    Fanartikel made in Turkey

    Und wir waren so blauäugig zu glauben, es sei von der Schweiz ein Handelsboykott über die Türkei verhängt worden, nach dem letzten Skandalspiel in Istanbul. Obwohl, das kann nicht ganz angehen, denn Döner essende Schweizer haben wir seither auch schon ein paar gesehen, wahrscheinlich war das alles „Hammelfleisch aus der Innerschweiz“, und keine Importware.

    Wenn Kinder gross und satt werden wollen wie Grossätti — Neue alte Verwandtschaftsnamen in der Schweiz

    März 29th, 2006
  • Grosi und Grosätti mit einem „s“
  • Wir lasen im Fachblatt für das angewandte Leben in der Schweiz, der „Schweizer Illustrierten“ Nr. 9 vom 27.02.06 auf S. 62:

    Die Familie lebt! Und zwar altbewährt und topmodern. Für die Kinder immer noch wichtig: das Grosi und der Grosätti. Gemanagt wird die Familie nach wie vor von der Frau: Mutter ist die Beste, sie ist der Boss. Die Kinder haben alles, Handy, Compi und Klamotten – und sind damit doch ganz zufrieden.

    Grossi und Grossätti in der Schweizer Familie

    Offensichtlich wieder eine Verwandtschaftsbezeichnung, die uns in den letzten fünf Jahren in der Schweiz einfach unterschlagen wurde. Hatten wir im Süddeutschen Raum schon häufig von „Göttis“ (vgl. Blogwiese ) sprechen hören, so mussten wir uns bei den Grosseltern immer mit„Oma und Opa“ begnügen.

  • Grosi, Oma oder Nana
  • In der Schweiz sagt man zur Oma „Grosi“ oder „Grossmami“, natürlich sächlich, wie „das Mami“. Unser Variantenwörterbuch des Deutschen kennt sie alle, diese Bezeichnungen für die Verwandtschaft, und es weiss sogar, dass man die Oma in Liechtenstein „Nana“ nennt. Das kommt uns allerdings merkwürdig vor, denn im Französischen Sprachraum ist „Nana“ seit dem berühmten gleichnamigen Roman von Emile ZOLA ein Synonym für „Mädchen, Mädel, Tussi“, wie konnte das bei den Liechtensteinern nur zu einer Grossmutter mutiere? Vielleicht analog zum Begriff für Grossvater der dort „Neni“ genannt wird? Das „riecht“ nach italienischem Einfluss, denn dort heissen die Grosseltern „nonno“ und „nonna“.

  • Neni, Ähne, Ehni oder Ehnel
  • Auf was haben wir uns da eingelassen. Wie kamen wir bisher in der Standardsprache nur mit dem simplen „Opa“ oder „Opi“ aus, der sich so wunderbar für Reime eignete?

    Schade auch, dass heute kaum noch jemand Ingo Insterburg & Co. kennt, die hatten nämlich schon in den siebziger Jahren mit einem Reim vor den Folgen des Drogenmissbrauchs gewarnt:
    Gibst Du dem Opi Opium, bringt Opium den Opi um.
    (Quelle rheine.de)

    „Ähne“ dürften selbst viele Schweizer nicht kennen, denn das kommt aus Vorarlberg und wird dort neben „Ahnl“ oder „Ehnel“ in Todesanzeigen verwendet. Ganz nebenbei lernen wird, dass die Bezeichnung „Vorarlberg“ immer ohne Artikel auskommt, also niemals aus „dem“ Vorarlberg schrieben wird.

  • Immer gross und satt
  • Doch am besten gefällt uns der „Grossätti“, denn der klingt für Kinderohren nach „ziemlich gross“ und „satt“. Google-Schweiz findet für Grossätti 545 Einträge:
    169 Belege immerhin noch für die Version mit einem S wie Grosätti. In Google Deutschland finden wir gerade mal 27 Belege, zumeist sind das Liedtitel von Dialekt-CDs:

    Thun: Dr Grossätti uf em Tanzbode;
    (Quelle: musik-outletters.de)

    Das ist hier ein Lied aus der Stadt „Thun“, gelegen am Thunersee, die bekannt ist für den von dort kommenden delikaten Fisch, und es geht hier nicht um einen promovierten Mediziner namens „Grossätti“ sondern um einen tanzenden Opa. Alles klar? Weil die Thuner es nicht leiden können, mit dem Fisch verwechselt zu werden, haben sie in der Eidgenossenschaft durchgesetzt, dass man diese leckere Speise „Thon“ nennt, mit einem „o“ wie in „Ton-Figur“ oder „Ton-Leiter“.

    Hier noch ein paar Beispiele für die Verwendung von „Grossätti“ in der Schweiz:

    «Grossätti besass ein Handörgeli. Abends spielte er oft zum Tanz auf». Seine Eltern emigrierten in jungen Jahren ins Welschland und seine Wiege stand auch in Le Bouveret am Genfersee. Weil dort das Leben recht karg war, kehrte die Familie zurück nach Wengen und Grossätti erlernte den Zimmermanns-Beruf.
    (Quelle: jungfrau-zeitung.ch)

    Oder hier auf einer Homepage über die freiwirtschaftliche Bewegung im Baselbiet der Dreissigerjahre:

    „I wäiss scho, hüttigtags wäi die Junge au afe läbe, wie die in de Stett, im Aesse wie in de Chläidere, niem isch meh z’friede, und das isch euser Eländ; […] Vo Sigaretli und halbfränkige Sigare het me au no nütt gwüsst, der Grossätti hätt se äim usim Muul gschlage; aber jetz set afe der Grossätti dene Grossgrinde folge und se förchte. So witt si mer cho mit de neue Schuele und ohni Religion.“
    (Quelle: baselland.ch)

    Was „Grossgrinde“ hier bedeutet, konnten wir nicht herausfinden. Vermutlich „Grosskinde“ = Enkelkind.

    Unser Duden hingegen schweigt zu Grossätti. Auch das sonst so ergiebige Online-Wörterbuch von Leo kennt diese Bezeichnung nicht.
    Die Konkurrenz von Duden, der grosse „Wahrig“ kennt es ebenfalls nicht, aber schlägt dafür einfach „Grossaktionär“ vor. Na klar, hat ja mindestens sieben gemeinsame Buchstaben wie „Grossätti“.

    Und dabei liesse sich mit all diesen Bezeichnungen so wunderbare Kalauer schreiben, die mir Neni einfallen würden, weil ich Ähni auf diese Wörter gekommen wäre. Aber wahrscheinlich sehen Kinder das irgendwie anders, weil sie klein sind.

    Haben Sie auch schon Sukkurs erhalten? — Wenn Fruchtbonbons nicht aus dem Lateinischen sind

    März 28th, 2006
  • Sugus ist nicht Sukkurs
  • Vor ca. 30 Jahren machte die Schweizer Firma Suchard im Deutschen Fernsehen Werbung für ihre Bonbons mit einem flotten Song, dessen Bekanntheit heutzutage bei „BiVies“ (= bis vierzig Jahre alten Menschen) nicht mehr vorausgesetzt werden kann, da muss man schon die „UHus“ (= unter Hundert Jährigen) fragen:

    Es gibt ein neues Fruchtbonbon
    Sugus von Suchard
    Brave Kinder kennen’s schon
    es schmeckt wunderbar
    Sugus Sugus, Sugus von Suchard

    Der Song wurde auch auf Spanisch als „Caramelos Sugus de Suchard“ in Spanien bekannt.
    Es gibt eine neues Fruchtbonbon
    An diese Werbung mussten wir denken, als wir zum ersten Mal in der Zeitung vom „Sukkurs“ lasen:
    Sukkurs erhalten
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 11.03.06 S. 15)

    Wir glaubten, hier werden Bonbons verteilt durch Luzi Stamm, denn wie man „Sugus“ schreibt, das war uns nicht mehr gewärtig.
    Dieser Ausschnitt aus dem Tages-Anzeiger bringt zum einen schöne Beispiele für Schweizer Schriftdeutsch wie „Sukkurs“ und „orten“, zum anderen wird tatsächlich in wörtlicher Rede eine Schweizerdeutsche Aussage wiedergegeben.:

    „Das Züüg isch materiell falsch“

    Wir wissen nicht, welche geheime Strategie dahinter steht. Vielleicht gehört es sich so, dass ein Nationalrat nur auf Höchstalemannisch zitiert werden darf, weil er sonst nicht deutlich genug seine Volksverbundenheit zum Ausdruck bringen kann?

    Doch nehmen wir jetzt „für einmal“ Rekurs zum Sukkurs. Er findet sich bei Google-Schweiz 645 Belege dafür, gern auch in der Kombination mit „hoffen auf Sukkurs“ oder „Sukkurs erhalten“.

    Auf Webseiten aus Deutschland finden wir hingegen nur 526 Belege, die entweder aus Schweizer Quellen (z. B. NZZ.de) stammen, in Mundart geschrieben sind (schwäbisches Dialektstück beim Projekt Gutenberg) , oder sich betont wissenschaftlich auch sonst mit zahlreichen Fremdwörter schmücken. Beispiel:

    Einerseits rief das Plenum die Parteimitglieder dazu auf, «veraltete Denkformen und marxistische Dogmen» fallenzulassen und sich von den Fesseln des «Subjektivismus und der Metaphysik» zu befreien, was mit etwas gutem Willen als impliziter Sukkurs für Jiangs Bestreben verstanden werden kann, (…)
    (Quelle: akidojournal.de)

  • Was bedeutet eigentlich Sukkurs
  • Laut Duden heisst Sukkurs:

    Suk|ku.rs, der; -es, -e
    [a: mlat. succursus, zu lat. succursum,
    2. Part. von: succurrere = helfen] (bes. Milit. veraltet):
    a) Hilfe, Unterstützung, Verstärkung;
    b) Gruppe von Personen, Einheit, die als Verstärkung, zur Unterstützung eingesetzt ist:
    „Bin hinauf bis nach Temeswar gekommen mit den Bagagewagen, … zog mit dem Sukkurs vor Mantua“ (Schiller, Wallensteins Lager 5).

    Ein lateinisches Fremdwort, noch dazu aus der Militärsprache, in der Schweiz absolut normal und gebräuchlich im Alltag. Das sollten Sie kennen und verstehen, wenn Sie hier leben und Zeitung lesen wollen. Es ist die Mischung dieser Sprachebenen, die uns beim Tages-Anzeiger am meisten fasziniert: Fremdwörter lateinischen Ursprungs neben Fachwörter der Soziologie (orten, verorten) neben geschriebenem Höchstalemannisch: Das gibt ordentlich was her und hält die kleinen grauen Zellen fit!

    Wer immer nur 120 km/h fahren darf wird aggressiv? — Autofahren in Deutschland und in der Schweiz

    März 27th, 2006
  • Stressfrei Autofahren in der Schweiz
  • Eine der angenehmsten Errungenschaften der Schweizer ist die Höchstgeschwindigkeit 120 km/h auf der Autobahn. Wir berichteten bereits darüber, dass diese Festlegung das Ergebnis eines Kompromisses war. Gefordert wurde damals Tempo 100 (siehe Blogwiese), realisiert wurde schliesslich Tempo 120.

    Die Schweiz ist von Nord nach Süd in 2 Stunden und 50 Minuten durchquert, so lange dauert es laut Routenplaner bei Tempo 120, die 286 Km von Basel nach Chiasso zurückzulegen. Auch mit Tempo 130 oder 150 würde sich diese Zeit nicht wesentlich verkürzen, aber sicher stressiger werden. Fragen wir uns also, ob dieses ewige „gedrosselte Fahren“ die Schweizer irgendwann aggressiv werden lässt. Wir glauben eher nein. Sie fügen sich in ihr Schicksal und empfinden es als angenehm, keine „Catch me if you can“ Rennen mit 180 km/h durchführen zu müssen, wie wir sie in Deutschland oft erlebt haben.

  • Überlebenskampf auf der Autobahn in Deutschland
  • Wir erleben auf Deutschen Autobahnen wesentlich stressigere Situationen. Dort gibt es zwar auch vielerorts Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber sobald man zwischen Freiburg im Breisgau und Basel am Autobahndreieck Mulhouse vorbei ist, wird die letzte Begrenzung aufgehoben und alle beginnen, bis zur Grenze noch mal tüchtig auf die Tube zu drücken und das Letzte an Pferdestärken aus ihren Boliden herauszuholen. Dabei ist die Autobahn von Basel nach Karlsruhe lange Jahre nach der Wiedervereinigung in einem bemerkenswert schlechten Zustand geblieben:

    Betonplatten, die ständig unter der Last des Schwerverkehrs (als er noch ohne Maut kostenlos möglich war) zerbrachen und provisorisch geflickt werden mussten, erlaubten es nicht, dass schneller als 120 km/h gefahren werden konnte. Warum? Weil sonst viele Fahrzeuge durch die starken Erschütterungen ihre Ladung zu verlieren drohten, und sei es nur den Auspuff, was auf einer Autobahn schnell zu gefährlichen Situationen und Unfällen führt. Einmal verlor sogar ein Sattelschlepper seinen Hänger, nur wegen der Löcher in der Fahrbahn. Das Geld für den Ausbau wanderte in den „Aufbau Ost“, denn dort sah es noch schlimmer aus. Heute sind die Autobahnen nach Berlin perfekt und so nach und nach konnte auch im Südwesten Deutschland etwas getan werden.

  • Freie Fahrt für freie Bürger
  • „Freie Fahrt für freie Bürger“ nennt man dieses Prinzip in Deutschland, nichts ist so mächtig wie die Autolobby, allen voran der mitgliederstarke Allgemeine Deutsche Automobil-Club ADAC. Man muss sich das mal klarmachen: Dieser Verein hat über 15 Millionen Mitglieder, also doppelt so viel wie die Schweiz Einwohner! Der Spruch „Freie Fahrt für freie Bürger“ wurde übrigens vom ADAC am 28.02.74 als Autoaufkleberaktion ins Leben gerufen:

    Diese Aktion zog eine Protestwelle und viele Austritte nach sich, da sich viele Mitglieder mit der aggressiven Pro-Autopolitik des Vereins nicht einverstanden erklärten. Dabei ist aber zu bedenken, dass der ADAC keineswegs nur die Interessen der in ihm organisierten Autofahrer vertritt, sondern auch die Interessen ihm nahe stehender Organisationen und Unternehmen wie der Automobilindustrie, Sachverständigen und Fahrschulen.
    (Quelle: Wiki)

    Der Erfolg des ADACs in Deutschland liegt zum grossen Teil darin begründet, das viele Menschen glauben: Nur wenn ich dort Mitglied bin, bekomme ich Pannenhilfe. Das ist natürlich Quatsch, und jede Versicherung bietet heute einen wesentlich billigeren Pannenschutz an, als ihn der ADAC zusätzlich zur Mitgliedsgebühr in Rechnung stellt.

  • Deutschland, die kostenlose Teststrecke für die Welt
  • Jede Nacht tummeln sich auf den schnurgeraden Autobahnstrecken rund um Frankfurt, die zum Teil vierspurig ausgebaut wurden, Testfahrzeuge von Herstellern aus der ganzen Welt, die hier ganz legal und kostenlos ihre Fahrzeuge mit 250 Km/h ausfahren können, ohne dafür ein Testgelände unterhalten zu müssen.

  • Sind Deutsche die schlechteren Autofahrer?
  • Der Blogwiese-Leser Chrugail schrieb als Kommentar zu der Frage: „Warum die Schweizer die Deutschen nicht mögen?“:

    Aus Erfahrung…
    – wenn dich Jemand bei 140 auf der Autobahn anschiebt, ist es ein Deutscher (…)

    Wir nehmen an, dass ihm das „angeschoben werden“ in Deutschland widerfahren ist. Wir haben sowas in der Schweiz nicht erlebt, stellen aber generell fest, dass Mindestabstände in der Schweiz genauso wenig wie in Deutschland eingehalten werden. Leider reichen bei 120 km/h keine 15 Meter für eine Bremsung, sollte der Vordermann plötzlich einen geplatzten Reifen haben oder aus einem anderen nichtverschuldeten Grund die Kontrolle über sein Fahrzeug verlieren.

    Nochmals Chrugail:

    Die grössten Unterschiede fallen mir beim Autofahren auf – wenn Ich in Deutschland in einer 70 km/h-Zone(ausserorts) mit 82 km/h unterwegs bin, werde ich dauernd überholt – in der Schweiz bin ich einer der schnellsten. Und in Deutschland entspricht ein Stopp-Schild offenbar einem schweizerischen “Kein Vortritt”-Schild. Und für einem Deutschen zu, der in der Schweiz geblitzt wurde –
    wie letzthin mein Schwager … 😉

    Ich halte das für persönliche Wahrnehmungen, die sich genauso auch in der Schweiz machen lassen. Auf der neuen Autobahn von Bern nach Lausanne fährt niemand 120 km/h, denn dort lässt sich weit voraus jede Radarfalle leicht erkennen. Und zwischen Lausanne und Genf empfinden wir den Berufsverkehr als besonders dicht, stressig und schneller als 120, auch wenn nicht unbedingt mehr Deutsche dort unterwegs sind, sondern eher viele Franzosen und Romands.

    Und was das Überholen in einer 70 km/h Zone angeht: Das passiert mir jeden Morgen in einer Industriezone bei Zürich, in dem Tempo 60 vorgeschrieben ist und alle mit 80 an mir vorbeirauschen, nur weil die Strecke kurz zweispurig ist.

    Die Beobachtung mit dem Stopp-Schild können wir ebenfalls nicht teilen, denn das kriegt man in einer Fahrschule in Deutschland besonders eingetrichtert:
    Rote Ampel, Zebrastreifen und Stoppschild, wer da nicht hält kassiert viele Punkte in Flensburg und ist rasch seinen Lappen los. (vgl. Blogwiese) und dann ist es vorbei mit „Freie Fahrt für freie Bürger“.