Wer führt eigentlich hier den Mist? — Neue Schweizer Redewendungen
Wir stolperten über einen Satz im Tages-Anzeiger vom 23.03.06 S. 15
Der Mist ist nun geführt, und das Urteil des Obergerichts ist rechtskräftig.
Es ging in dem Artikel um eine Bauernfamilie auf dem Döltschihof in Wiedikon, die nach einem Urteil des Obergerichts ihren Hof räumen muss. Der Satz passt also vollkommen in den Kontext, in dem es auch um biologischen Landbau und Milchkühe geht. Dennoch verstehen wir absolut nicht, warum man hier „Mist führen“ muss. Vielleicht ist es nur ein Schreibfehler, und es sollte heissen: „Der letzte Mist wurde aufs Feld gefahren“, die letzte Scheune leer geräumt, die Arbeit erledigt. Aber da steht eindeutig „geführt“, und nicht „gefahren“. Ob sie dort mit einem Ochsenfuhrwerk arbeiten, und die Zugtiere mit einem Karren voll Mist im Schlepptau auf das Feld „geführt“ werden müssen? Diesmal beschliessen wir, nicht viel Zeit mit Duden, Wahrig, Leo und Konsorten zu verlieren, sondern gleich das Variantenwörterbuch des Deutschen aus dem DeGruyter Verlag zu befragen. Und tatsächlich, wir lesen dort schwarz auf weiss auf Seite 505:
„Der Mist ist geführt“ CH ‚etw. ist gelaufen, erledigt’
Die Kräfte reichten nur bis zum ersten Gegentor. Dann war der Tank leer – und der Mist geführt (Blick 16.5.1998,15)
Suchen wir genau diesen Ausdruck „Der Mist ist geführt“ bei Google-Schweiz, so finden wir weitere schöne Beispiele:
Der Mist ist geführt Weltwoche, 17. August 2000
In Zürich und Chicago einst ein eigenartiger Hit, in New York jetzt ein peinlicher Flop: die kuriose Kuhparade.
(Quelle: hossli.com)
Oder auf der offiziellen Seite parlament.ch
Der Mist ist geführt
Weil die Finanzdelegation das dringliche Airline-Engagement gebilligt habe, stehe das Parlament vor einem „Fait accompli“, sagte Simon Epiney (CVP/VS).
(Quelle: parlament.ch)
Oder hier:
Die National- und Ständeratswahlen sind vorbei; die Resultate sind bekannt. „Der Mist ist geführt“, ist eine gängige Redensart dafür.
(Quelle: ref-ag.ch)
Verstehen Sie diese Redewendung?
Ganz ehrlich: Ohne den Hinweis des Variantenwörterbuchs wären wir nie auf die Bedeutung „etw. ist gelaufen, erledigt“ gekommen. Verstehen das die Schweizer einfach so auf Anhieb? Wo mag diese Redensart nur herkommen? Tatsächlich aus der Zeit, als in der Schweiz Zugtiere mit einem Karren voll Mist auf das Feld geführt wurden, und nach Ausbringen dieser Fuhre einfach „alles erledigt, alles gelaufen“ war.
Weil man nun auf dem Feld so lange nichts mehr arbeiten konnte, bis sich der Gestank verzogen hatte? Alles nur unsere Vermutungen. Ist diese Redewendung vielleicht im kollektiven Bewusstsein der Schweizer so fest verankert, weil hier alle irgendwie von Vorfahren abstimmen, die im Agrarsektor tätig waren? Nun, bekanntlich ist auch die „Grande Nation“ Frankreich früher ein Agrarland gewesen, dass erst sehr spät den Umbau zur Industrienation erlebte. Die meisten Franzosen haben Vorfahren aus irgendeinem kleinem Dorf der Province, die in Frankreich gleich hinter der Stadtautobahn von Paris, dem „Boulevard périphérique“ beginnt. Und im Ruhrgebiet weideten vor 150 Jahren noch Kühe, bis ein Kuhhirte in Bochum im Lagerfeuer plötzlich glühende Steine fand, womit die Kohle auch dort entdeckt und die Bauernidylle zu Ende war. Vielleicht ist es darum auch in der Schweiz an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass in solchen Redewendung „bäuerliche Grunderfahrungen“ konserviert werden. Frei nach der alten Schweizer Bauernregel:
„Wenn der Bauer führt den Mist, dann ändert nicht die Sprache, sondern sie bleibt, wie sie ist“
März 31st, 2006 at 8:46
Ist doch schön, dass wir etwas von unseren Urgrossättis konserviert haben und noch nicht alles in Neudeutsch ausdrücken. Dann wäre nämlich wirklich „das Heu unten“ (s’Heu d’unge – andere Redensart agrartechnischer Herkunft = jetzt reicht’s). Während die Schweizer den Mist führen, bzw. karren (so kenne ich die Redewendung eher), hüllen die Deutschen Sachen in trockene Tücher (gibt’s denn in D noch Textilindustrie?), essen Sachen (noch eher verständlich), oder lutschen Dropse. Aber die Diskussion über die Herkunft dieser letzten Wendungen ist einem anderen Blog überlassen. Trotz erfolgreichem Banken- und Versicherungswesen stehen wir Schweizer zu unserer Bauern-Herkunft, das „schläckt kei Chue ewäg“. Aber damit ist der Mist wohl noch nicht vom Tisch…?
März 31st, 2006 at 10:08
Das „schläckt“ übrigens keine „Chue ewäg“, sondern eine – „Geiss“ 😉
Angesichts der Tatsache (sichtbar unter anderem an den in schwindelerregender Höhe ausgeschütteten Subventionen), dass der Bauernstand in der Schweiz durchaus sowas wie eine heilige Kuh ist, verwundert die durchgängige Anwesenheit von Ausdrücken aus der „Agrarsprache“ im Schweizerdeutschen eigentlich nicht. Auch wenn es dafür (noch?) keine Direktzahlungen gibt… 😉
März 31st, 2006 at 11:09
der Mist ist garettlet
März 31st, 2006 at 14:24
Meine Grossmutter hat mir erklärt, wie das mit dem Mist lief: Wenn der Miststock (das ist der Haufen, wo all der Mist gesammelt wird) voll war, spannte man den Eidgenossen (das Pferd, das den Dragonern von der Armee zur Verfügung gestellt wurde und in den WK mitmusste) vor den Pritschenwagen, schaufelte den Mist vom Miststock auf den Wagen, fuhr aufs Feld, verteilte, fahrend mit einer Mistgabel, den Mist auf dem Feld und düngte so das Feld. War der Miststock abgetragen und der Mist verteilt, war dann eben „de Mist gführt“.
Heutzutage wird das übrigens immer noch so gemacht, nur ist der Eidgenosse ein Traktor, gezogen wird ein „Mistzetter“ (ein Mist-verzettler???, auf alle Fälle ein Anhänger, der den Mist hinten raus schleudert).
Ein Lieblingswort meines Grossvaters war übrigens „Bazger“, das ist ein Hilfs-Melker.
März 31st, 2006 at 22:13
An Rogerrabbit
Mit dem Verb „garettle“ hast du bei Deutschen sicher noch mehr Verwirrung statt Klarheit geschaffen.
Hier eine kleine Erklärung für Auswärtige: „Ein Schubkarren“ wird in der Schweiz nie so deutsch benannt (analog Velo, Tram, etc.). Dieses Arbeitsgerät ist „eine Garette“.
Meine Sprachkenntnisse führen diesen Ausdruck auf das italienische „la carretta“ (zweirädriger Karren) zurück. (allenfalls französich „la charrette“, sapnisch „la carreta“). Zumindest nach heutigem Sprachverständnis ist „die Garette“ also nicht ganz treffend. Einen einrädrigen Schubkarren nennt man nämlich
it. „la carriola“,
frz. „la brouette“
span. „la carretilla“.
Vielleicht kann mir ja jemand mit lateinisch oder romanisch beweisen, dass die Übersetzung doch richtig ist/bzw. die Herkunft anders erklärt werden muss.
April 1st, 2006 at 11:02
Wer keine schmutzigen Stiefel kriegen will, kann auch behaupten, eine Geschichte sei „hingere u gmäit“.
April 4th, 2006 at 1:19
Wichtig beim „dä Mischt isch gfüehrt“ ist die Unabänderlichkeit. Wird üblicherweise dann verwendet, wenn die geschaffene Tatsache nicht eben erfreulich ist.
April 11th, 2006 at 23:19
Und hier ist noch eine schöne agrikole Redewendung, obligatorisch für alle, die dereinst eidg. dipl. Geissenpeter werden wollen: „Das schleckt keine Geiss weg.“ Was heißt *das* wohl…?
Juni 1st, 2007 at 20:47
Über ein Jahr nach der Verblogwiesung oben erwähnten Redewendung begegnete mir das Französische Pendant zu „der Mist ist geführt“. Das heisst dann „la messe est dite“ (die Messe ist gelesen). Bei unseren Westschweizer Calvin-Reformierten und den Voralpen- und Alpen-Katholiken werden die Finger und die Sonntagsschuhe in keiner Weise schmutzig.
September 22nd, 2009 at 10:04
Deutsches Pendant zu „der Mist ist geführt:“ Der Drops ist gelutscht.