(reload vom 1.3.07)
Hochdeutsch darf keine Fremdsprache mehr sein — Die Vorschläge des Forum Helveticum
Das „Forum Helveticum“ tagte am 14.02.07 und publizierte anschliessend eine Reihe von Vorschläge, die wir hier diskutieren möchten:
Hochdeutsch darf keine „Fremdsprache“ mehr sein
Die vermehrte Präsenz von Mundart auf allen Gesellschaftsebenen hat sich in den letzten Jahrzehnten auf Kosten des Hochdeutschen durchgesetzt. Die erhöhte mangelnde Kompetenz der Hochsprache erschwert den Kontakt sowohl zum deutschsprachigen Raum als auch mit den anderen Sprachregionen der Schweiz. Ziel muss sein, dass Deutschschweizer Hochdeutsch nicht mehr als „Fremdsprache” empfinden. Als Beispiel einer selbstverständlichen Beherrschung von Dialekt und Hochsprache wird die Lage in der italienischen Schweiz genannt.
(Quelle: sprachkreis-deutsch.ch)
Es muss „Ziel sein, dass Deutschschweizer Hochdeutsch nicht mehr als ‚Fremdsprache‘ empfinden“. Ist das jetzt der kategorische Imperativ? Die selbsterfüllende Prophezeiung? Wie oft haben wir von Schweizern gehört, dass für sie Hochdeutsche „eine Fremdsprache“ sei, und wie oft haben wir schon versucht ihnen ihre zweite Muttersprache als natürliche Verkehrssprache näher zu bringen.

(Der Fluss „Il Ticino“ gab dem Kanton seinen Namen)
Besonders interessant finden wir das zitierte Beispiel „Tessin“. Dort sind die eigenen Dialekte auch weit entfernt von dem in Italien gesprochenen Standard-Italienisch:
Ein Grossteil der Bevölkerung spricht lokale Dialekte, die zur lombardischen Dialektengruppe gehören. Da die Dialekte aus der Lombardei (inklusive Italienische Schweiz), dem Piemont, Ligurien und Emilia-Romagna, einen gallischen Hintergrund besitzen, ist es nicht erstaunlich, dass sehr viele Tessiner Wörter dem Französischen ähneln, und auch nasale Laute sowie ‚ö‘ und ‚ü‘ vorkommen. Im Tessiner Dialekt heisst es z.B.: „un om al gheva dü fiöö“, auf Standard-Italienisch würde man sagen: „un uomo aveva due figli“ (ein Mann hatte zwei Söhne). „Herz“ heisst im Dialekt „cör“ , ähnlich wie das französische „coeur“ [kœr] und nicht wie das italienische „cuore“ [kwɔre]. (…)
(Quelle: Wikipedia)
Also gibt es auch in der italienischen Schweiz eine Diglossie, gesprochener Dialekt neben geschriebener Standardsprache, dem Standard-Italienischen. Italienisch wird als Verkehrssprache und niemals als „Fremdsprache“ empfunden, wie das Hochdeutsche in der Deutschschweiz. Niemand hat ein Problem damit, im Gespräch mit nicht Einheimischen auf Italienisch zu sprechen und es wird von den vielen Gastarbeitern aus Italien auch nicht verlangt, dass sie sich doch bitte im Gebrauch eines Tessiner Dialekts üben möchten.
Dialekt nur bei den Alten
Wir fragten den Tessiner Journalisten Franco Valchera, der für das „Radiotelevisione svizzera di lingua italiana“, kurz „TSI“ aus der deutschsprachigen Schweiz berichtet, wie das Verhältnis der Tessiner zum „Standard-Italienischen“ sei, ob ähnlich belastet wie das der Deutschschweizer zum Hochdeutschen.
Er erzählte uns, dass für die meisten Tessiner, wenn sie nicht der älteren Generation angehören oder in abgelegenen Tälern und Dörfern wohnen, Dialekt kaum mehr Teil der Alltagssprache sei. Die Wortmelodie unterscheidet sich und die Aussprache, geschrieben wird aber immer auf Standard-Italienisch, niemals auf Dialekt, auch nicht in den SMS.
Die Tessiner wurden auf diesem Blog bisher viel zu wenig thematisiert. Im Kanton Tessin leben laut Wikipedia 306’846 Einwohner, das entspricht 4,3 % der Schweizer Gesamtbevölkerung. Das Tessin wird ständig nur unter „ferner liefen“ angeführt. Während sich die Westschweiz gelegentlich Gehör verschafft, auch in den Medien der Deutschschweiz, kann das Tessin froh sein, wenn tatsächlich an diesen Teil der Schweiz gedacht wird. Uns ist bereits früher aufgefallen (vgl. Blogwiese), dass beispielsweise die Webseite von Eidgenössischen Einrichtungen wie die Münze, swissmint.ch, nur auf Deutsch, Französisch und Englisch existieren. Fehlanzeige für Italienisch:

(Quelle Foto: swissmint.ch)
Nur einzelne Sachtexte sind dort auf Italienisch übersetzt als PDFs herunterladbar.
Studium auf Deutsch oder Französisch?
Da es im Tessin nur eine kleine Universität mit 1800 Studenten gibt, die zudem 2400 Franken pro Semester kostet, stehen die Tessiner Maturanden (mit „d“ wie in „Randgruppe“), so heissen die nicht ganz unreifen Abiturienten in der Schweiz, vor der Wahl, ob sie Französisch lernen und in Lausanne studieren oder nach Zürich gehen, dort Deutsch lernen und studieren. Wer z. B. Tierarzt werden möchte, dem bleibt nur die Option Bern (70 Plätze) oder Zürich (80 Plätze), denn nur dort ist ein Studium der Veterinärmedizin möglich.
Ein eigener Fernsehsender für nur 956 Tausend Zuschauer
Interessant ist ein Zahlenvergleich der Leistungen des Deutschschweizer Senders SF und des italienischen TSI, veröffentlicht unter unserer Lieblingswebadresse srgssrideesuisse.ch. Irgendwie treibt uns dieser tolle Name immer ein „Lächeln“ auf die Lippen.
(vgl. Blogwiese)
Demnach produziert TSI mit 1‘028 Mitarbeitern für 202 Mill. Franken 3273 Stunden Eigenproduktionen. SF brauchte nur 831 Mitarbeiter aber 509 Mill. Franken für 3038 Stunden. Wenn man bedenkt, dass TSI mit seinem ersten Programm bis zu 183‘000 Menschen erreicht, und SF1 aber 2‘8 Millionen Zuschauer, kostet folglich das Programm pro Zuschauer und Jahr im Tessin 1’103 Franken, in der deutschsprachigen Schweiz nur 180 Franken.
Was folgern wir sonst noch daraus? Dass die Löhne in Zürich höher sein müssen als im Tessin wenn 200 Angestellte weniger 300 Mill. Franken mehr verbraten? Oder dass die Menschen im Tessin fleissiger arbeiten um 200 Stunden mehr zu produzieren? Wir werden uns hüten vor solchen nicht belegbaren Schlussfolgerungen! Was die Zuschauer angeht, da nehmen wir an, dass ganz Norditalien TSI guckt, weil ständig der Anblick von blonden langbeinigen „Silicon Valley Donne“ nicht zum Aushalten ist.
Mit Hochdeutsch kommt ein Tessiner nicht weit
Was wir von Freunden und Bekannten aus dem Tessin immer wieder erzählt bekommen, ist ihre Frustration darüber, dass sie mit ihren mühsam gelernten Hochdeutsch in der Deutschschweiz nicht weit kommen. Sie müssen mehrfach darauf bestehen, eine Antwort auf Hochdeutsch zu erhalten, bzw. beginnen nach einiger Zeit wie viele Romands mit dem Studium der Schweizerdeutschen Alltagssprache in der Migros-Clubschule.
Nur Italienisch? Kein Problem
Anderseits erzählte mir ein Italiener in Bülach, dass er im Alltag praktisch ohne Deutschkenntnisse auskommt. In der Migros geht er an die Kasse, an der eine Italienerin sitzt. Gleiches gilt beim Besuch der Kantonalbank oder bei einem Behördengang. Im Kanton Zürich ist die Gruppe der eingewanderten Italiener so gross, dass das praktisch immer einen Vertreter der ersten oder zweiten Generation in jedem Geschäft oder bei jeder Behörde zu finden ist. Irgendwo müssen sie ja untergekommen sein, die 300‘000 Italiener in der Schweiz.