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Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 12) — Motion ohne E-motion und Motzern

Wir lesen in unserem Standardwerk für die korrekte Schweizerdeutsche Schriftsprache, dem Tages-Anzeiger vom 27.11.05

Motion fordert weitere Liberalisierung. (…)
Traktandiert ist eine Motion des Ständerates, zu der sich der Bundesrat positiv gestellt hat (Quelle🙂

Wir verstehen als ungebildete Deutsche mal wieder gar nichts, und müssen tief in unseren Lateinkenntnissen kramen: „Motion“ = Lateinisch für „Bewegung“. Wer oder was bewegt sich denn hier in der Schweiz? Geht das Volk auf die Strasse, als Volks-Bewegung? Hat sich der Ständerat gemeinschaftlich bewegt? So eine Art „Group Fitness Aerobic Aktion“ in Bern? Und der Bundesrat machte gleich voller Eifer mit? Es passieren rätselhafte Dinge im Bern dieser Tage.

  • Die Motion hat was mit Bewegung zu tun
  • Das englische Wort „Motion“ gebrauchen wir gewöhnlich nur in zusammengesetzten Formen, als „E-motion“ wenn wir von lauter Gefühlen stark bewegt sind, oder als „motion pictures“, wenn wir uns „bewegte Bilder“ im Kino anschauen. Motion hat was mit Bewegung zu tun.

    In der Sprachwissenschaft bedeutet es eine Veränderung in der Sexusmarkierung (Quelle Wiki:), auch der Duden äussert sich in dieser Richtung:

    Motion: ,-en (franz.). (Sprachw.) Abwandlung des Adjektivs nach dem jeweiligen Geschlecht;

    Doch leben wir zwar in der Heimat von Ferdinand de Saussures, der einst in Genf die allgemeinen Sprachwissenschaft begründet hat, aber eigentlich geht es hier um eine besondere Spezialität der Schweizer, nämlich der „Bewegung in der Politik“.

    Eine Motion ist in der Schweiz eine bestimmte Art von Parlamentarischer Vorstoss auf eidgenössischer, kantonaler oder kommunaler Ebene. Mit einer Motion verlangt ein Parlamentsmitglied von der Regierung, dass diese ein Gesetz oder einen Bundesbeschluss ausarbeitet oder eine bestimmte Massnahme ergreift. Dieser Auftrag ist zwingend, wenn ihm das Parlament zustimmt. Eine Motion kann vom Parlament in die abgeschwächte Form eines Postulats umgewandelt werden; allerdings nur mit dem Einverständnis des Motionärs respektive der Motionärin (Quelle:).

    Wohlgemerkt: Das mir niemand den „Motionär“ als „Motzer“ falsch ausspricht! Sowohl die Schweizer Motion als auch der Motionär werden im Duden würdig erwähnt:

    schweiz . fr. gewichtigste Form des Antrags in einem Parlament; der Motionär, -s, -e (schweiz. für jmd., der eine Motion einreicht)

    Da erspare ich mir doch lieber die übrigen Übersetzungen, die mir LEO für dieses hübsche Wort offeriert (Quelle Leo):

    Unmittelbare Treffer
    motion der Antrag
    motion Antrag bei einer Sitzung
    motion die Bewegung
    motion das Gesuch
    motion der Stuhlgang
    motion [tech.] das Treibwerk [Uhren]

    Mit Uhren hat es also auch etwas zu tun, nicht nur mit Stuhlgang. Obwohl Stuhlgang, war das nicht ein höfliches Wort für „Scheisse“? Sind Motionen auch dies? Müssen die Engländer und Amis denn alles so negativ sehen? Denken wir lieber wieder an ein Schweizer Uhrwerk, denn so sollte es in der Politik in Bern zugehen, bei diesen vielen Motionen. Da sind wir ja beruhigt.

    Bleibt die Frage: Warum sagen die eigentlich nicht einfach „Antrag“ in der Schweiz? Wegen der Kollegen aus der Westschweiz? Oder ist auch diesmal wieder Napoleon schuld, der mit Sicherheit dieses Wort in den Schweizer Politik-Wortschatz eingeführt hat? Immer diese Ausländer…

    

    6 Responses to “Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 12) — Motion ohne E-motion und Motzern”

    1. Phipu Says:

      Zu „wieso nicht einfach Antrag?“

      Es gibt eben nicht nur eine Sorte Antrag. Wohl bekanntestes Wort: „Initiative“ oder „Volks-Initiative“. Damit können die STIMMBERECHTIGTEN etwas bewirken. Auch dieses Wort, wie die meisten anderen in diesem Zusammenhang sind lateinisch. Mit Latein wurde, wie heute auf englisch, die Übersetzung in alle Landessprachen vereinfacht. Wer eine Initiative ins Rollen bringt, ist ein „Initiant“ oder eine „Initiantin“. Diese Personen überreichen meist an einem medienwirksamen Anlass vor dem Bundeshaus die vielen Kartons mit den Unterschriftenbögen (für Volksinitiativen).

      Fachlich fundierte Erklärung: http://www.admin.ch/ch/d/gg/index.html

      Habt ihr den Link aufmerksam gelesen? Klingt kompliziert, nicht? So bleiben wir besser bei der politischen Mehrheit, der „Motzer“. Die haben es einfacher: Die brauchen nicht die „Initiative“ zu ergreifen. Die sitzen weiterhin in der „Beiz“ (Wirtshaus) am Stammtisch vor einer „Stange“ (Bierglas 3dl) oder einem „Grossen“ (Bierglas 5dl) und kommentieren die Politik-Seite im „Blick“ mit Aussagen wie „Da müsste man halt hart durchgreifen“ – „Wir Schweizer sind immer die Dummen. In anderen Ländern würde kurzer Prozess gemacht“ und beenden mit dem typischen Satz: „Ich gang scho lang nümme go abstimme; die z’Bärn obe mached ja einewäg, was si wänd!“ (Ich gehe schon lange nicht mehr abstimmen; die in Bern oben [„oben“ für Obrigkeit = Bundesregierung, nicht Meereshöhe der Stadt Bern] machen ja eh, was sie wollen!)

    2. Dan Says:

      Phipu, vielen Dank für den Hintergrund! Wir, die wir alle vier Jahre auf Bundesebene wählen (wenn nicht der Kanzler vorzeitig das Handtuch schmeisst), stehen staunend vor einer so gut funktionierenden direkten Demokratie in der Schweiz (das meine ich ganz ernst).

    3. clarissa Says:

      @Phipu:
      Wenn Du schon „Stange“ und „Grosses“ erwähnst, dann darf das „Herrgöttli“ nicht vergessen werden! 😉 Das ist die „Mini“-Version unter den Biergläsern, dass, soweit ich weiss, 2 dl fasst.
      Das nur so by the way.

      @Jens:
      Schaue, seitdem ich diesen Blog hier entdeckt habe, jeden Tag rein und bin jedesmal erstaunt, woher Du immer diese Ideen hernimmst! Grosses Kompliment… bitte weiter so!

    4. Widi Says:

      @Dan:
      Ja, Du hast recht. Aber ich weiss auch nicht, ob das in einem grösseren Land wie Deutschland, oder der ganzen EU oder gar China oder so überhaupt praktikabel wäre.
      -> Mach mal eine Volksinitiative in der EU – die müssten dann vielleicht 5’000’000 Unterschriften haben – na vielen Dank.

      Ich glaube, die direkte Demokratie, wie sie in der Schweiz gelebt wird (und was ich WIRKLICH gut finde), profitiert von dem kleinen Land…

      -> Etwas Demokratie wäre aber sicher überall möglich (und in gewissen Ländern wäre schon mit wenig Aufwand mehr Demokratie möglich 😉 )

      Gruss
      Widi

    5. Dan Says:

      Widi, was ich wirklich effektiv hier finde dass man auf-gut-deutsch über jeden Kleckerkram abstimmen kann, also auch über den neuen Supermarkt-Parkplatz um die Ecke. Das kann natürlich auch lähmend sein, aber wenn ich daran denke, dass die Stadt Bonn 70 Kastanien in der Poppelsdorfer Allee fällen wollt, um eine U-Bahn zu bauen, die keiner will, einfach nur weil das Geld zweckgebunden zur Verfügung steht. Das wäre hier schnell wieder vom Tisch und vermutlich erst gar nicht geplant.

    6. Michael Says:

      Noch etwas zu den politischen Instrumenten: Es gibt auch im Parlament die Initative (wenn mehrere Parlamentarier unterschreiben). Wenn mehrere Kantonsregierungen etwas verlangen, dann gibt es eine Kantonsinitiative oder Kantonsreferendum (so geschehen beim Steuerpaket).
      In unserer direkten Demokratie gibt es viele Möglichkeiten um etwas zu bewegen: entweder man findet 100’000 Kollegen die meinene Wunsch mit der Unterschrift unterstützen (oder 50’000 wenn ich als Motzer gegen eine Gesetzesänderung oder ein neues Gesetz bin), oder ich sags einem Kollegen im Parlament (Motion) oder dieser Parlamentarier überzeugt noch andere Kollegen zu einer parlamentarischen Initiative oder er sagt’s einem Kollegen in einer Kantonsregierung, er solle seine Kollegen in den Kantonsregierungen überzeugen (Kantonsinitiative)………