Schade, bist Du nicht hiergewesen — Neues von der Schweizer Syntax

Dezember 21st, 2009

(reload vom 25.10.06)

  • Schade, bist Du nicht hiergewesen
  • Fällt Ihnen an diesem Satz irgendetwas auf? Würden Sie ihn so verwenden? Oder eher nicht?

    Warum ist der Satz für Deutsche so nicht verwendbar? „Bist Du gewesen“ ist lang und schwerfällig. „Schad‘ dass Du nicht da warst“ würde mir eher gefallen. Zumal da auch noch ein doppelter A-Laut am Ende vorkommt. „Da warst“ klingt bei mir jedoch eher wie „da-waast“.

    Wir entdecken diese Erkenntnis in dem bereits erwähnten Artikel in der Sonntagszeitung vom 24.09.06:

    Bestätigt werden diese Befunde durch eine Internetumfrage zur Alltagssprache im ganzen deutschsprachigen Raum (www.philhist.uni-augsburg.de/ada) sowie eine Befragung von 70 Deutschen und 77 Schweizer Studenten. So gaben 55 Prozent der Schweizer Studenten an, dass sie den Satz «Schade, bist du gestern nicht hier gewesen» verwenden würden. Von den deutschen würden dies nur 6 Prozent tun. Worauf diese eigentümlichen Satzstellungen zurückzuführen sind, ist noch unklar. Zum Teil spielt der Dialekt hinein («Schad, bisch nöd cho.»). Doch das Wort «bereits» existiert in der Mundart gar nicht. Seine prägnante Stellung muss also einen andern Grund haben.

    Nun, wir haben ja jetzt gelernt was „Vorfeldbesetzung“ bedeutet. Ein „Schad“ am Anfang des Satzes ist ein ziemlich gut besetztes Vorfeld. Danach mit einer obligatorischen Inversion weiterzumachen und das finite Verb an die Schluss zu rücken, wer mag das schon? Weil, es ist eben unbequem. Die Sprache sucht sich immer den bequemsten Weg (Gesetz der Ökonomie von Sprache) und da ist „Schad, bisch nöd cho“ einfach schneller und eleganter als „Schade, dass Du nicht hiergewesen bist“. Der letzte Satz ist so penetrant hyperkorrekt, wenn Sie den hören, dann können Sie mal davon ausgehen, dass ihn ein Schweizer ausgesprochen hat. „Schade dass Du nicht da warst“ halte ich für üblich.

  • Der Plan für eine Variantengrammatik
  • Ein spannendes Feld, nun nach den Varianten im Deutschen Wortschatz auch die Varianten in der Grammatik zu bestimmen und zu beschreiben:

    Christa Dürscheid plant nun, analog zum Variantenwörterbuch eine Variantengrammatik zu schreiben. Ein Projekt mit drei Forschergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist angedacht, erste Vorarbeiten liegen vor. Diese Grammatik, so Dürscheid, soll eine Bestandesaufnahme und gleichzeitig ein Nachschlagewerk werden.

    Davon profitieren könnten nicht zuletzt die Schweizer Schüler. Studien haben gezeigt, dass die Lehrer Helvetismen gerne als Fehler anstreichen. «Man bewertet oft mit teutonischem Massstab», sagt Dürscheid. Wenn die schweizerhochdeutschen Varianten in einer Grammatik kodifiziert werden, könnte sich dies ändern. Die Lehrer würden toleranter korrigieren, vermutet Dürscheid. «Und die Schweizer könnten selbstbewusster zu ihrem eigenen Deutsch stehen.»

    Halten wir fest: Wenn es im Buch steht und wissenschaftlich untermauert wurde, dann werden die Lehrer die Verwendung von Schweizer Grammatik und Syntax toleranter korrigieren. Die Frage ist nur, ob sie es jetzt überhaupt korrigieren, weil das voraussetzt, dass sie diese Variante auch wahrnehmen.

  • Ist Triglossie besser als Diglossie?
  • Es ist ein durchaus legitimer und frommer Wunsch, den Schweizern dabei zu helfen, „selbstbewusster zu ihrem eigenen Deutsch zu stehen“. Ist ihnen damit wirklich geholfen? Die bisherige Diglossie, also die Beherrschung der Schweizer Muttersprache PLUS des Standarddeutschen würde dann noch stärker durch eine Triglossie abgelöst: Dialekt PLUS Standarddeutsch PLUS Schweizer Hochdeutsch-Variante, wobei „Hochdeutsch“ hier wirklich mal angemessen wäre, denn wie schon oft erwähnt, ist „Hoch“ eine geographische Komponente, neben Mittel- und Niederdeutsch. Und Höher als die Schweiz liegt kein deutsches Sprachgebiet.

    Wir sind skeptisch, denn in den meisten Fällen passiert die Verwendung dieser Schweizer Grammatikvarianten jetzt schon, auch ohne „kodifiziert“ worden zu sein, aber den wenigsten fällt es auf. Während wir beim „Variantenwörterbuch“ verstehen können, wie wichtig es ist, die Varianten der Standardsprache zu kennen, sind wir uns bei einer „Variantengrammatik“ nicht sicher, ob hier nicht aus der jetzt schon schwierigen Diglossie eine Triglossie gezimmert wird.

    „Die Lehrer würden toleranter korrigieren“, vermutet Christa Dürscheid. Aber ist den Schülern damit geholfen, wenn sie quasi die Verwendung von spezifisch Schweizerischen Grammatikvarianten in der Schriftsprache erlaubt bekommen, und damit später im Berufsleben gewiss keinen leichten Stand haben, wenn es um Kommunikation mit dem restlichen deutschsprachigen Ausland geht.

    Über die unfreiwilligen Haustiere der Schweizer — einen Aff haben

    Dezember 8th, 2009

    (reload vom 18.10.06)
    Wir erhielten eine E-Mail mit folgendem Satz:

    (…) ging ich ins Au Premier und hatte ein Fondue zum Nachtessen, nur der Fendant hatte Zapfen. Anschliessend hatte ich einen Aff.

    Zugegeben, der Satz war künstlich zusammengestellt aus Helvetismen um unser Sprachvermögen zu testen. Und tatsächlich, da war plötzlich ein Tier aufgetaucht, das wir so noch nicht kannten in der Schweiz: Den „Aff“. Na klar, das ist ein Affe, dem ist nur der Endungsvokal abhanden gekommen.

    Diese Art der Kurzfassung ist weltweit beliebt. „Ich hab dich gern“ statt „ich habe dich gern“. In der Arabischen Sprache nennt man dieses Weglassen der Endungsvokale beim Sprechen übrigens „Pausa-Sprechen“, geschrieben werden Vokale sowieso nicht, nur im Koran oder um Zweifelsfällen zu vermeiden ist es üblich, mit Vokalzeichen anzudeuten, ob ein „u“, „i“ oder „a“ gemeint ist. Ein „o“ oder „e“ haben die Araber in der Schrift nicht. Mohammed ist heisst eigentlich Muhammad. Die Schweizer sprechen auch gern Pausa und schlucken nicht nur den Endungsvokal, sondern noch eine ganze Menge Flüssigkeit dabei.

    Unser Mailschreiber hatte also nach dem Genuss eines Fendants mit Zapfen (vgl. Blogwiese) plötzlich ein Haustier, ein exotisches noch dazu, nämlich einen Affen.
    Haben Sie auch einen Affen?
    (Foto hotzeltopf.de)

    Ganz so verbreitet scheint dieses Schweizer Haustier dann doch nicht zu sein, jedenfalls nicht in verschrifteter Form. Ein Ironie liebender Schweizer mit deutlichem Mundaufsperr-Syndrom schrieb:

    Aber ich hatte nach einer halben Flasche Bauchweh 🙂 Mein „Freund“, ( 🙂 ) würde ich mal sagen, da ich es nicht genau wusste, hatte bestimmt einen „Aff“ 🙂 Der trinkt so viel…
    (Quelle: Kidscat.ch)

    Später erfuhren wir noch diese Geschichte per Mail:

    Als [meine Frau] klein war, wurde regelmässig gesagt, dass der Nachbar letzte Nacht wieder mit einem Aff nach Hause gekommen sei. Da haben die Kinder, wenn die Wohnungstüre der Nachbarwohnung mal offen war, schnell hineingeschaut, ob ein Affe drin sei…

    So langsam ahnten wir, was es mit dem „Affen haben“ bei den Schweizer so auf sich hat. Und letzte Gewissheit verschafft uns das vielseitige Züri-Slängikon beim Stichwort „betrunken sein

    eine sitze haa, eis a de Fichte ha, eis am Sänder ha, eis am Sänder haa, eis am Tee haa, en Aff, en Atomsiech, en Balari haa, en Balloon haa, en Hammer, en Knick i de Optik, en Lumpe im Gsicht ha
    (Quelle: zuri.net)

    Da war er, der Aff, haben Sie ihn gesehen? Zwischen Tee, Ballon und Hammer versteckt.
    Es findet sich diese Redewendung zur Bestätigung auch ganz offiziell auf Dialektwoerter.ch

    (en) Aff ha = betrunken sein
    (Quelle: dialektwoerter.ch)

    Was folgern wir daraus? Die Kater in der Schweiz, die fangen ganz klein an als Affen, und mutieren dann in der Nacht still und heimlich vor sich hin zu männlichen Katzen. Oder sie verschwinden ganz.

    Wohin stöppelt die Stöpplerin? — Neue Schweizer Lieblingswörter

    November 13th, 2009
  • Kein Tramper sondern ein Stöppler
  • Wir fanden auf Blick.ch diese hübsche Schlagzeile
    Stöpplerin

    Polizei hält für Stöpplerin in Autobahntunnel
    (Quelle: blick.ch)

    Nun fragen wir uns: Wenn die Stöpplerin mit einem Mann unterwegs ist, ist dass dann ein Stöppler? Und das, was sie gemeinsam tun, nennt man das „stöppeln“, über Stock und Stein, sogar über die Stöppelfelder?

  • Ein Tramper ist ein Tramp
  • In Deutschland, da sagte man früher „Tramper„, oder „Tramperin“, frei nach Charly Chaplin, der den „Tramp“ einst als Film-Figur erfand. Das Wort an sich war schon alt und bezeichnete einen Wanderarbeiter oder Tagelöhner, siehe hier.
    The Tramp

    Blick klärt dann auf:

    Die marschtüchtige Autostopperin kam mit einem blauen Auge davon: Die Baselbieter Polizisten sahen von einer Busse ab und fuhren die Frau an den Bahnhof Sissach, wo sie ihre Reise nach Deutschland mit dem Zug fortsetzt. Für diesen Service musste sie allerdings eine Umtriebsgebühr von 20 Franken zahlen.
    (Quelle: blick.ch)

    Kein Marschhalt für die marschtüchtige Frau die sich dies im Baselbiet bieten liess, auch kein Bus oder gar mehrere Busse, dafür dann eine Freifahrt zum Bahnhof, da treibt sie sich nun um für 20 Franken Umtriebsgebühr. Sie war übrigens auf dem Weg zum Europapark in Deutschland, auf dem Weg nach Europa sozusagen, raus aus der Schweiz.

  • In Zeiten von Billigairlines wird wenig getrampt
  • Das Wort „Trampen“ ist aus der Mode gekommen, lesen wir, in Zeiten von Billigairlines und billigen Zugtickets. Heute sind die Tramper, wenn überhaupt noch vorhanden, „Anhalter„. In Berlin hatten die sogar einen eigenen Bahnhof, den „Anhalter-Bahnhof„.

  • Es lebe der Stöppler
  • Wir finden „Stöppler“ und „Stöpplerin“ sind klasse Bezeichnungen und verdienen es in der Standardsprache übernommen zu werden! Nur leider geht das nicht per Verordnung, sondern durch den „Sprachgebrauch„. Also bleiben wir bei diesen Worten und werden sie zukünftig fleissig gebrauchen.

    Kommt es heraus oder einfach nur aus? — Willkommen in der Schweizersyntax

    November 6th, 2009
  • Was alles aus kommt — Kommen Sie da noch draus?
  • Bislang wussten wir nur, dass ein gemeiner Schweizer manchmal, wenn eine Sache schwierig ist, einfach nicht „draus kommt„. Er bleibt dann nicht drin, sondern arbeitet sich langsam „heraus“ (Vgl. Blogwiese).

    Wenn man etwas verkündet, dann reicht es in der Schweiz, „es kommt aus„, wie im Englischen „it turns out“ mit einem schlichten „aus“ wie „out“ zu sagen. „Heraus“ ist was für Standarddeutsche, nicht schweizerisch genug. „Heute kommt aus, ob …“. Ist doch hübsch kurz, nicht wahr? Bei Google.ch findet sich das 38.700 Mal
    Wir finden diese Formulierung beim Blick:

    Auch der G-20-Gipfel wird zum Kraftakt: Hier kommt aus, ob die Weltwirtschaft gesunden kann – oder ganz abstürzt.
    (Quelle: Blick.ch)

  • Was demnächst aus kommt
  • Sie hilft einmal pro Woche einem älteren Ehepaar im Haushalt, kocht einmal im Monat in einem Seniorentreff, und demnächst kommt aus, ob sie jeweils mittwochs für einen Mittagstisch kochen kann.
    (Quelle: kvschweiz.ch)

    In Deutschland würde jeder Redaktor Redakteur sofort ein „heraus“ daraus machen. „Aus“ allein geht einfach nicht.

  • Kurz und knackig
  • Fassen wir zusammen: Das kann man schlecht verheimlichen, das kommt alles aus. Und dann ist aus die Maus. In der Kürze liegt die Würze, wie so oft in der Schweiz.

    [Anmerkung Admin: Dieses Posting war keine 2 Minuten veröffentlicht, da hatte es Google schon indiziert. Darum ist Blogwiese.ch dort an erster Stelle zu finden. Kann einem richtig unheimlich werden, wie schnell die Google Content-Crawler arbeiten.]

    Wie schmeckt eigentlich ein Füdlibürger?

    November 5th, 2009
  • Ist Füdlibürger immer „mit Fleisch“?
  • In unserer Schweizer Lieblingszeitung, die mit der täglichen „Extraportion Schweizerdeutsch“, so lecker wie das Weisse in der Milchschnitte, fanden wir dieses hübsche Überschrift:

    Die Füdlibürger werden vorgeführt

    Füdlibürger kann man nicht essen
    (Quelle Foto: www.tagesanzeiger.ch)

  • Was ist ein Füdlibürger?
  • Auch nach 9 Jahren in der Schweiz können wir auf Anhieb nicht genau definieren, was damit gemeint ist. Vielleicht doch etwas zum Essen? So wie ein Hamburger oder Cheeseburger? Die Google-Suche bringt uns 66‘000 Fundstellen bei Google.CH gegenüber nur 1940 Stellen bei Google.DE, noch schweizerischer geht also nicht.

    Auf dem Forum von empfindsam.de findet sich der Begriff schliesslich erläutert:

    Also Bünzli ist auch ein Schweizer Nachname, warum man den genau auswählte um damit Spiesser zu bezeichnen weiss ich nicht. Füdli heisst Hintern/Arsch, denke der Ausdruck Füdlibürger kommt daher, dass man bei uns auch synomym für wen, der kein Rückgrat hat, sagt, er hat kein Füdli.
    Für mich ist ein Spiesser einfach ein überangepasster Bürger.
    (Quelle: empfindsam.de)

    Wer kein Rückgrat hat und damit kein Widerstandskraft hat in der Schweiz bisweilen auch kein „Füdli“? Gemeint ist vielleicht das „Sitzfleisch“, also die Fähigkeit, eine Krise einfach geduldig auszusitzen.

  • Von Bünzlis und Spiessern
  • Gibt es wirklich Menschen, die „Bünzli“ heissen? Ja, 285 Eintäge hat das Online-Telefonbuch tel.search.ch. Der Name ist Programm. Die „Spiesser“ kennen wir, dass sind die Mitbürger mit den extra langen Spiessen, bei denen es in der Schweiz immer extrem wichtig ist, dass die auch wirklich „gleichlang“ sind (vgl. Blogwiese ). Doch Füdlibürger?
    Kurt Meyers Schweizerwörterbuch, sonst immer sehr komplett, hat diesen Begriff erstaunlicher Weise nicht aufgeführt, Michael Kühntopf’s Schweiz-Lexikon erwähnt es hingegen sogar in der Schreibweise „Füdlibörger“ als Synonym für „Spiessbürger“.

  • Kopf, Fiedle, Geldbörse
  • Aus dem Schwäbischen kennen wir den Merksatz „Kopf, Fiedle, Geldbörse“, die drei Dinge, die man beim Verlassen des Hauses dabei haben sollte. „Auf sich tragen“, sagt man dann in der Schweiz. Beim Kopf kann ich das nachvollziehen, bei der Geldbörse und dem Allerwertesten, nun die trage ich liebe an oder bei mir, aber nicht „auf“ mir. „Fiedle“ ist hier die Schwäbische Variante von „Füdli“. Warum die Bürger diese Vorsilbe bekommen? Vielleicht weil sie gern drauf sitzen, auf ihrem Füdli, und nicht in die Pötten kommen, wenn es ernst wird. Richtig negativ scheint uns der Begriff jedoch nicht besetzt, anders als alle Varianten von „Arsch…“. Eine „Arschgeige“ z. B. ist so negativ, dass sie bei Wikipedia als gesperrtes Wort gilt und nur von Administratoren angelegt werden kann.

  • Gesperrte Wörter
  • Die Liste der gesperrten Wörter bei Wikipedia ist übrigens eine unglaubliche Fundgrube für kreative Schimpfwortschöpfungen, sollten Sie sich mal ansehen. Zurück zu unsren Füdlibürgern in Zürich. Die gibt es also aktuell nun im Schauspielhaus zu sehen. Werden wir hingehen, und garantiert 2-3 Stunden auf dem Füdli hockend ansehen.