(reload vom 11.8.06)
Umfrage: Welche sind die Wesensmerkmale der Deutschen
Wir sind immer noch auf der Suche nach einer Erklärung für das typisch schweizerische Phänomen, gegenüber den Deutschen „im allgemeinen“ (meist) grundlos negativ eingestellt zu sein. Oft wird das relativiert und verharmlost: „Das ist ja nur Spass“, oder „Nur beim Fussball bin ich gegen Deutschland“. Ob das stimmt, können sie durch einen einfachen Selbstversuch leicht feststellen. Fragen Sie doch mal ganz nüchtern und neutral ein paar Schweizer in Ihrer Umgebung (vorausgesetzt, sie sind selbst Schweizer oder können sich erfolgreich eine helvetische Tarnkappe überstülpen, sonst wäre das Ergebnis nicht repräsentativ), welches die herausragendsten Wesenmerkmale der Deutschen sind. Fragen Sie dann vielleicht noch weiter, wo ihr Gesprächspartner diese Weisheit gelernt hat. Nicht etwa in der Schule?
Bestimmt ist die Schule schuld
Zumindest einen Schuldigen haben wir im Verlaufe von zahlreichen Gesprächen mit Schweizern über ihre Schulerinnerungen herausfinden können: Es muss an den Lehrern und am Deutsch- und Geschichtsunterricht liegen.
Wer hat positive Schulerinnerungen?
So oft wir Schweizer befragen, welche Erinnerungen sie an ihre die Schule und speziell an den Deutschunterricht haben, hören wir fast nur Negatives. Zunächst machte ihnen diese Sprache Spass, sie wurde ohne grosses Nachdenken aus dem Fernsehen übernommen. Obwohl auch dies nur die jüngeren Schweizer sagen können, denn so wahnsinnig lang ist das mit dem Kabelempfang und der Einspeisung von ARD und ZDF ins Schweizer Netz noch nicht her. Die Generation älter als 30 wuchs noch mit weitaus weniger Programmen auf, und ZDF stand da nicht immer zur Auswahl.
Es sind dann folgende Aussagen, die immer wieder in veränderter Form von Schweizern gemacht werden:
Der Lehrer hat uns immer korrigiert, wenn wir Deutsch sprachen.
Es wurde uns gesagt: „Das lernt ihr nie, überlasst das lieber den Deutschen“.
Wir sollten Schweizer-Hochdeutsch sprechen, und nicht den spezifischen Deutschen Tonfall nachahmen.
Die Lehrer konnten es selbst nicht richtig und versprühten auch keine grosse Begeisterung für das Hochdeutsche.
Hochdeutsch war immer ein „Zwang“ für alle, bei jeder Gelegenheit wurde eine Entschuldigung gesucht und gefunden, jetzt doch plötzlich Mundart reden zu dürfen.
Auf Hochdeutsch kann man nicht über Gefühle reden.
Und dann treffen diese Schweizer irgendwann ihren ersten echten Deutsche, der mühelos so spricht, wie sie es selbst in der Schule auch mit Anstrengung nicht hinbekommen haben, und dem sie sich sofort argumentativ unterlegen fühlen. Schlussfolgerung: Man ist der aber arrogant!
Es fehlen uns noch die Berichte, in denen jemand von einem „begeisterungsfähigen Deutschunterricht“ berichtet, in dem gern und freiwillig versucht wurde, ausschliesslich in dieser lebendigen Sprache zu diskutieren. Wenn wir doch so etwas erzählt bekamen, dann waren es oft junge Lehrer aus Deutschland, die da mit Elan und Engagement ans Werk gingen. Deutsch in der Schweiz zu lernen bedeutet vor allem, die Klippen und Fallstricke einer Schriftsprache zu üben, nochmals zu üben und schliesslich daran zu verzweifeln.
Wird denn keine aktuelle Literatur gelesen?
Es bedeutet weniger, sich mit der Sprache von Brecht, Böll oder Hesse auseinander zu setzen. Weder Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ noch Bernhards Schlinks Roman „Die Vorleserin“ kommt auf dem Lehrplan vor. Nicht einmal Patrick Süsskinds „Parfüm“ wird behandelt. Es geht nicht darum, die Faszination einer moderne Literatur- und Alltagssprache zu lernen, zusammen mit dem Kosmos an Einsichten und Lebenswirklichkeiten, der sich darin verbirg, nein, es geht im Schweizer Deutschunterricht lediglich darum, Grammatik und Syntax einer Schriftsprache soweit zu trainieren, dass damit die allernotwendigsten Grundlagen des Schreibens vermittelt werden.
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, das Homo Faber von Max Frisch eine der häufigsten Schullektüren in der Oberstufe an deutschen Gymnasien ist.
Und was lernten Sie in Geschichte über Deutschland?
Die weiteren Informationen über Deutschland entstammen dem Geschichtsunterricht. Die Naziherrschaft mit ihrer Vorgeschichte und der Zweite Weltkrieg wird behandelt, danach ist Feierabend, der Lehrplan zu Ende oder sowieso keine Zeit mehr. Nach 1945 kommt Deutschland faktisch nicht mehr vor.
Wie gesagt, dass ist nur unser persönlicher Eindruck aus Gesprächen mit Schweizern, die wir befragt haben. Wir würden uns freuen auf Mut machende Gegenbeispiele und Erinnerungen an lebendigen, erstklassigen Deutschunterricht, der auch Spass an dieser Sprache vermittelte, und sie nicht nur als Zwang „missbrauchte“. Oder an Geschichtsunterricht, der vielleicht auch die Geschichte der Deutschen Wiedervereinigung und dem Aufstand im Osten 1989 zum Thema macht. Oder das Kapitel „Weisse Rose“ bzw. das „Attentat vom 20. Juli 1944“ im Geschichtsunterricht behandelt.
Gleichfalls wünschen wir uns für den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen, dass vielleicht auch mal vermittelt wird, aus welchen Wurzeln die Schweiz entstand und welche gewichtige Rolle in ihrer Geschichte 1803 der französische Diktator Napoleon spielte:
In diesem Moment griff der französische Militärdiktator und spätere Kaiser Napoleon Bonaparte ein, verlangte das sofortige Ende des Bürgerkriegs und rief Delegationen der Revolutionäre wie der Reaktionäre zu Verhandlungen nach Paris. Im Oktober 1802 kamen erneut französische Truppen in die Schweiz und entwaffneten die Aufständischen in der Zentralschweiz. Napoleon hatte sich allerdings schon früher mit der Situation in der Schweiz vertraut gemacht und begriff deshalb, dass der zentralistische Einheitsstaat in der Schweiz angesichts der grossen sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede und Gegensätze keine Chance hatte. Deshalb legte er einen föderalistischen Verfassungsentwurf vor.
Die gängige Bezeichnung Mediation [Vermittlung] beschreibt die Rolle Napoleons allerdings kaum zutreffend, wenn auch Napoleon selbst sich gerne als Vermittler darstellte. In Wirklichkeit war die als Mediationsakte betitelte neue Verfassung für die Schweiz weitest gehend ein Diktat Napoleons. Die Mediationsakte gab den grössten Teil der staatlichen Kompetenzen an die 19 Kantone der neuen Eidgenossenschaft ab und eliminierte sowohl das nationale Parlament als auch die Zentralregierung.
(Quelle: Geschichte-Schweiz.ch)
Es ist für uns ein Lehrbeispiel dafür, dass die unabhängige und auf ihre Neutralität stolze Schweiz am Scheideweg der Geschichte 1803 auch nicht aus eigener Kraft zu dem wurde, was sie heute ist, so wie die Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg unter Kontrolle und Herrschaft der Alliierten entstehen konnte. Geschichte kehrt immer wieder, und ähnliche historische Erfahrungen auch, darum dürfen wir sie nie vergessen.