Nicht ins Auge, in den Teich sondern ins Tuch gehen — Neue alte Schweizer Redewendungen

April 23rd, 2009

(reload vom 5.5.06)

  • Wohin man alles gehen kann
  • Wenn etwas „ins Auge“ geht, dann tut das weh, und eine Sache ist misslungen, fehlgeschlagen. Wenn jemand „ins Wasser“ geht, dann will er sich umbringen, geht er „über den grossen Teich“, dann wandert er aus nach Amerika. Die Schweizer, das haben wir gelernt, gehen am liebsten in den Ausgang (vgl. Blogwiese) Manchmal geht auch etwas ganz gewaltig „in die Hose„, wenn etwas schief läuft oder misslingt. Doch was bedeutet es, wenn etwas „ins Tuch geht“?

    Wir lasen im Tages-Anzeiger, dem Fachblatt der Leinenweber und Strickindustrie, vom 19.04.06 in einem Artikel über die „Schleichende Preiserhöhung“ des Benzinpreises:

    Den Tank auffüllen, das geht wieder ins Tuch.

    Ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was hier gemeint sein kann, beginnen wir zu grübeln. Wann geht in Deutschland etwas „ins Tuch“? Nun, das kann zum Beispiel dem Baby passieren, wenn es satt und zufrieden seine menschlichen Bedürfnisse in die Windeln erledigt, falls Mami und Papi dafür keine Pampers Wegwerfwindeln gekauft haben sondern lieber die „Stoff-Variante“ mit dem praktischen Abhol- und Wäschedienst in Anspruch nehmen.

  • In trockene Tücher sein
  • In Deutschland werden die Dinge gern und häufig „in trockene Tücher“ gebracht, als Anspielung an den Vorgehensweise der Hebamme bei einer Geburt, wenn das Kind, frisch geboren und noch feucht und glitschig, erst einmal in ein „trockenes Tuch“ gewickelt und so gesäubert und gewärmt wird. Wenn etwas „in trockenen Tüchern“ ist, dann ist es laut Variantenwörterbuch

    endlich zufrieden stellend abgeschlossen, erledigt.

    In der Schweiz muss dafür wohl ein besonders teurer Stoff verwendet werden, denn die Redewendung „ins Tuch gehen“ bedeutet hier:

    Tuch: *ins [gute]Tuch gehen CH „teuer zu stehen kommen“: Ins gute Tuch und ans Ersparte geht es erst, wenn wir das Spital in Anspruch nehmen müssen (Biel/Bienne 28.5.1998, 6)
    (Quelle: Variantenwörterbuch S. 806)

    Wir fanden 47 Belege bei Google-Schweiz für „ins Tuch gehen“:
    Beispiel „Betrug am Betrieb“

    Ins Tuch gehen aber auch die Verlockungen, denen sich Kassierinnen ausgesetzt sehen. Trotz raffinierter Scanning-Systeme, die Eintippen überflüssig machen, kommt es zu Gelddiebstahl durch Kassenmanipulation in Form von Gutschriften, Stornos, Verbilligungen oder Fehlbons.
    (Quelle: onlinereports.ch)

    Beispiel „Freelancing statt Arbeitnehmerverhältnis“

    Genau da liegt denn auch das beträchtliche Risiko für den Auftraggeber bzw. Arbeitgeber: entpuppt sich nämlich das Freelancing plötzlich als Arbeitnehmerverhältnis, müssen die entsprechenden Beiträge nachgezahlt werden, was ins Tuch gehen kann.
    (Quelle: www.kommunikationsrecht.ch)

    Google Fundstellen aus Deutschland hingegen reden von Babies, die Windeln anhaben, oder

    Nur weil man ein wenig älter ist als 14, sollte man mal trotzdem leise sein!! Wenn man ohne 14jährige feiern will, dann soll man ins Tuch gehen oder so!! Schließlich gibt es für euch mehr Möglichkeiten mal tanzen und feiern zu gehen als für uns!! Also werd ma nicht aufmüpfig hier.
    (Quelle: max-kiel.de)

    Was die wohl meinen mit „soll man ins Tuch gehen oder so!!“ Vielleicht ist der Ausdruck „jemand an die Wäsche gehen“ damit gemeint? Aber Wäsche und Tuch, das sind doch zwei völlig gegensätzliche Vorstellungen. Wie sagen die Deutschen dann, wenn etwas teuer wird? „Das geht ans Eingemachte“, oder „das wird eine Stange Geld kosten“. Die Schweizer trinken die Stange lieber, anstatt mit ihr zu bezahlen (vgl. Blogwiese)

    Als die Schweizer Uhren eine Stunde nachgingen — 28 Jahre Sommerzeit in der Schweiz

    April 21st, 2009

    (reload vom 4.5.06)

  • Nichts geht ohne Zustimmung des Volkes
  • In der Schweiz ist es so gut wie unmöglich am Volk, dem Souverän, vorbei zu regieren. Oder besser gesagt: Etwas durchzusetzen, das vom Volk bereits auf breiter Front abgelehnt worden ist. Jedes politische Vorhaben muss aus diesem Grunde von einer breiten Konkordanz getragen werden, um nicht durch ein Referendum gestoppt werden zu können.

    Nur einmal gelang es, etwas „von oben herab“ dem Volk aufzuzwingen, ohne dass die Mehrheit tatsächlich damit einverstanden war. Wir reden von der Einführung der Sommerzeit im Jahre 1981, einer Sternstunde der Schweizer Demokratie.

  • Ist die Sommerzeit eine gute Idee für die Schweiz?
  • Bereits in den 20er Jahren wurde in der Schweiz über die Möglichkeiten zum Energiesparen durch eine Sommerzeit nachgedacht, und die Idee wurde verworfen:

    24.3.1917 Der Bundesrat lehnt es ab, die Sommerzeit einzuführen, weil diese keine wesentlichen Kohleneinsparungen mit sich bringe.
    (Quelle: www.parlament.ch)

    Ein paar Jahrzehnte später wurde dann doch ein Versuch gestartet, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs:

    In der Schweiz galt in den Jahren 1941 und 1942 die Sommerzeit von Anfang Mai bis Anfang Oktober. Nach einer öffentlichen Debatte Ende der 1970er Jahre wollte man die Sommerzeit eigentlich auch nicht wieder einführen, (…)
    (Quelle: Wiki)

    Eigentlich nicht… aber dann fingen die Nachbarländer plötzlich an, die Uhren zwei Mal im Jahr umzustellen. Frankreich bereits 1976, Österreich und Deutschland 1980. In Deutschland wurde hierzu ein „Zeitgesetz“ erlassen. Darin heisst es:

    § 3 Ermächtigung zur Einführung der mitteleuropäischen Sommerzeit
    (1) Die Bundesregierung wird ermächtigt, zur besseren Ausnutzung der Tageshelligkeit und zur Angleichung der Zeitzählung an diejenige benachbarter Staaten durch Rechtsverordnung für einen Zeitraum zwischen dem 1. März und dem 31. Oktober die mitteleuropäische Sommerzeit einzuführen.
    (2) Die mitteleuropäische Sommerzeit soll jeweils an einem Sonntag beginnen und enden. Die Bundesregierung bestimmt in der Rechtsverordnung nach Absatz 1 den Tag und die Uhrzeit, zu der die mitteleuropäische Sommerzeit beginnt und endet, sowie die Bezeichnung der am Ende der mitteleuropäischen Sommerzeit doppelt erscheinenden Stunde.
    (Quelle:)

    So einfach ging das in Deutschland. Das Volk wählt ein Parlament. Das Parlament wählt eine Bundesregierung. Die Bundesregierung ist nun die Exekutive und kann durch die Legislative des Parlaments per Gesetz ermächtigt werden, die Sommerzeit einzuführen. Repräsentative Demokratie in Reinkultur. Bloss nicht jeden Bürger einzeln fragen.

    Die Schweizer Parlamentarier waren danach nicht untätig. Es wurde auch in der Schweiz ein „Zeitgesetz 941.299“ beschlossen, am 21. März 1980. Darin heisst es:

    Der Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft,
    gestützt auf Artikel 40 Absatz 1 der Bundesverfassung 1),
    nach Einsicht in eine Botschaft des Bundesrates vom 14. November 1979 2),
    beschliesst:
    Art. 1 Mitteleuropäische Zeit
    1 In der Schweiz gilt die mitteleuropäische Zeit.
    2 Die mitteleuropäische Zeit ist die Weltzeit plus eine Stunde.
    3 Der Bundesrat bestimmt die Einzelheiten der Messung und Verkündigung der Zeit.
    Art. 2 Sommerzeit
    1 Der Bundesrat kann, um Übereinstimmung mit benachbarten Staaten zu erreichen,
    die Sommerzeit einführen.
    2 Die Sommerzeit ist die Weltzeit plus zwei Stunden.
    3 Der Bundesrat legt jeweils den Zeitpunkt der Umstellung fest.
    Art. 3 Referendum und Inkrafttreten
    1 Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum.
    2 Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.
    Datum des Inkrafttretens: 1. Januar 1981
    (Quelle: admin.ch)

    Schien ja alles in Ordnung zu gehen. Wenn da nicht der Artikel 3.1 gewesen wäre: „Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum“. Was bedeutet: Das Volk kann dazu auch NEIN sagen, wenn es gefragt wird. Es kommt, wie es kommen musste: Das Volk sagt NEIN.

    Zeitgesetz
    Die Vorlage wurde abgelehnt

    Stimmberechtigte
    Total Stimmberechtigte 3835650
    davon Auslandschweizer 4315
    Stimmbeteiligung
    Eingelangte Stimmzettel 1879954
    Stimmbeteiligung 49%
    Ausser Betracht fallende Stimmzettel
    Leere Stimmzettel 28392
    Ungültige Stimmzettel 1324
    In Betracht fallende Stimmzettel
    Gültige Stimmzettel 1850238
    Ja-Stimmen 886376 47.9%
    Nein-Stimmen 963862 52.1%

    Annehmende Stände 0
    Verwerfende Stände 0
    (Quelle: admin.ch)

    Mit den Einzelheiten des Abstimmungsverhaltens wollen wir uns jetzt nicht aufhalten. Natürlich waren in Basel 60% für die Sommerzeit, denn dort sah man kommen, was nun im Sommer 1980 Wirklichkeit wurde: Die Schweiz wurde eine MEZ-Insel mitten in Europa. Sie begab sich in „splendid isolation“ . Ob diese Isolation wirklich so „splendid“ war, sollte sich bald zeigen.

  • Die geballte Macht der Agrar-Lobby hatte erfolgreich zugeschlagen
  • (…) [Es] stiegen die einheimischen Bauern auf die Misthaufen und ergriffen das Referendum: Sie sorgten sich um die Kühe, die im natürlichen, sommer-zeitunabhängigen Biorhythmus zu melken, ihre Arbeitszeit abends verlängern sollte.

    Das Volk der Hirten sagte ja zu diesem Referendum, und die Schweiz wurde zur Zeitinsel, bis das Fernsehpublikum zu reklamieren begann: Die beliebte Krimisendung «Derrick» auf den deutschen Sendern lief plötzlich vor der Schweizer Tagesschau – ein unhaltbarer Zustand…
    (Quelle: webjournal.ch)

    Ein Zeitzeuge berichtet in einem Forum:

    (…) für den Zugverkehr und Ähnliches war das vermutlich lästig, aber ich fand’s gut. ich war da grad 14 und durfte abends nicht weg, da war’s klasse, so früh schon ‚Tatort‘ oder so gucken zu können…
    (Quelle: forum.freeklick.com)

    Besonders kritisch war die Schweizer „Zeitinsel“ für die SBB:

    Die Schweizerischen Bundesbahnen mussten einen eigenen Interimsfahrplan einführen, damit sie den Anschluss an die internationalen Züge gewährleisten konnten. Auf dem Flughafen Basel-Mulhouse wurden «Doppel-Uhren» aufgehängt – eine zeigte die schweizerische, die andere die europäische Zeit an…
    (Quelle: webjournal.ch)

    Was tun? Das Volk hatte NEIN gesagt, aber die Schweiz war im „Schussfeld des europäischen Gelächters“. Die Lösung kam durch den Nationalrat:

    3.3.1980 Der Nationalrat erteilt dem Bundesrat die Kompetenz zur Einführung der Sommerzeit.
    (Quelle: parlament.ch)

    Wie es dann weiterging, ist äusserst schwierig historisch zu rekonstruieren. Obwohl das Zeitgesetz vom Souverän abgelehnt worden war, konnte der Bundesrat die Einführung durchsetzen, so dass im Sommer 1981 die Schweizer „Zeitinsel“ der Geschichte angehörte.

    Doch noch war nicht alles verloren, denn nun tritt ein neues Gesicht in Erscheinung:

    (…) 1982 startete ein junger Politiker von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) – ein gewisser Christoph Blocher – eine neuerliche Initiative zur Abschaffung der Sommerzeit. Sein Argument waren nicht die Kühe, sondern der «missachtete Volkswille» – weil das Parlament trotz des Volks-Nein gegen die Sommerzeit dieselbe auf parlamentarischer Ebene eingeführt hatte. Eine immerhin grundsätzlich bemerkenswerte Einstellung über das Selbstbestimmungsrecht des Schweizervolkes. Doch diese neuerliche Initiative kam nicht zustande, (…)
    (Quelle: webjournal.ch)

    Das ging schief. Der gleiche Souverän, der ein Jahr zuvor noch Gegen diese europäischen Ideen war, hatte nun ein Einsehen und verweigerte die erforderliche Anzahl an Unterschriften:

    Im Sammelstadium gescheitert 02.03.1984
    Ablauf Sammelfrist 01.03.1984
    Sammelbeginn 31.08.1982
    Vorprüfung vom 17.08.1982
    (Quelle: admin.ch)

    So hatte in dieser Angelegenheit doch noch das Volk das letzte Wort, nachdem es auf „parlamentarischen Weg“ umgangen wurde. Es hätte die Sommerzeit wieder abschaffen können. Hat es aber nicht. Weil bis zu diesem Zeitpunkt jeder Schweizer bereits drei Mal die Sommerzeit am eigenen Leib erlebt hatte. Die Angst vor dem „Unbekannten“ war verloren, und die Erinnerung an nette lange Sommerabende im Hellen war stärker als die Solidarität mit den Bauern und ihren Milchkühen.

    Guck mal, was da klingelt?

    April 20th, 2009
  • Der ring tone ist nicht getönt
  • Der Titel dieses Beitrags ist nicht ganz zutreffend. Man kann nicht gucken, was klingelt, nur hören. Ausser man besitzt ein Telefon für Gehörlose mit optischer Anzeige des Signals. Es klingelt oft heutzutage, in anderen Gegenden „läutet“ es, oder es ertönt Musik. Wer mit der Zeit geht, hat seinen privaten und individuellen “ring tone”, und damit ist jetzt nicht die Tönung des Eherings gemeint. Beeindruckend, was sich manche als Rufton antun. Neulich heulte sogar laut und vernehmlich ein Wolf neben mir. Erst einer, dann ein ganzes Rudel. War für eine gute Sache, das Gejaule (siehe Link ). Denn wer dieses Wolfsgeheul als Klingelton herunterlädt, spendet damit für die Wiederansiedelung von Wölfen in Deutschland. Oder ich höre plötzlich, wie im Büro der Motor eines alten Mofas knatternd gestartet wird. Auch dieses Geräusch gibt es bereits als Klingelton. Heisst ein “Motorisiertes -Fahrrad” eigentlich “Mofa” in der Schweiz? Eher unwahrscheinlich, weil es keine Fahrräder sondern nur Velos ohne “accent aigu” gibt bei den Eidgenossen.

  • Was klingelt denn da?
  • Doch was wollte ich eigentlich erzählen? Jetzt weiss ich es wieder: Neulich sass ich in einem Hotelzimmer und es klingelte. Ganz sicher ein Telefonklingeln. Ich überprüfte mein Diensthandy, aber das war ruhig. Auch mein privates Mobiltelefon gab keinen Mucks von sich. Ein kurzer Blick auf Skype und den MSN-Messenger, auch dort Fehlanzeige. Es klingelte immer noch und so langsam wurde ich nervös. Erst als das Geräusch schon verstummt war, fiel mir auf, welches Telefon ich bisher übersehen hatte: Den Festanschluss im Hotelzimmer!

    Ach ja, sowas gibt es ja auch noch. “Landlines” nennen das die Engländer, “auf dem Festnetz anrufen” heisst es in der Schweiz, auch wenn das Ferngspräch dann via Satellit nach Amerika übertragen wird. Da war ich nicht drauf gekommen. War mir nicht bewusst, dass dieser Apparat auch angeschlossen ist. Wer benutzt unterwegs noch eine Festnetzleitung, wenn jeder ein Handy besitzt bzw. es fast kostenloses Skype gibt. Vorausgesetzt man hat Zugang zum Internet.

  • Haben Sie auch den Nokia ring tone?
  • In Italien gab es mit dem Aufkommen der Mobilfunktechnik rasch mehr Handies als Festanschlüsse . Statistisch gesehen hat jeder von uns 2-3 von den Dingern gleichzeitig in Gebrauch. Kein Wunder wenn wir dann nicht mehr alle Geräusche und Klingeltöne sauber zuordnen können. Ganz gemein ist es, in einer grossen Menschenmenge den Standardklingeton von Nokia erklingen zu lassen. Sofort greifen mindestens 5 Leute in die Tasche. Warum aber immer die Leute mit den ausgefallensten Klingeltönen (Elvis Presley, „Night Fever“ von den BeeGees oder der Titelsong des letzten James Bonds) so gern ihre Dinger am Platz liegen lassen und sich dann in Ruhe einen Kaffee holen gehen, während das Teil anfängt loszuplärren, diese Frage konnte mir noch niemand beantworten.

    Nicht jammern, aber zum Jammer greifen
    Irgendwann hilft nur noch ein „Cellular Jammer“, ein handliches Störgerät, dass jede Handybenutzung im Umkreis von 20 Meter unmöglich macht.
    Ruhe mit dem Jammer

    Leider in der Schweiz und in Deutschland total verboten. Kostet nur 550 Dollar, und endlich ist ein Ruhe.

  • Der Nokia-Running-Gag bei Trigger Happy TV
  • Die britische Kultserie „Happy Trigger TV“ brachte eine ganze Reihe von Szenen mit dem „Nokia ring tone“. Der Effekt ist stets wunderbar zu beobachten: Siehe hier und hier und hier und hier. Wer auf den Geschmack gekommen ist findet hier eine 9 Minuten „Best of“ Zusammenstellung von Trigger Happy TV.

    Dialekt ist Privatsache in Deutschland

    April 17th, 2009

    (reload vom 3.5.06)

  • Die Amstsprache Deutsch wird in der Verfassung nicht erwähnt
  • Während in der Schweizer Bundesverfassung im Artikel 4 die Landessprachen festgelegt wurden:

    Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
    (Quelle: admin.ch)

    wird dies im Grundgesetz, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, nicht einmal erwähnt:

    Deutsch ist einzige Amtssprache Deutschlands auf gesamtstaatlicher Ebene, was so selbstverständlich ist, dass die Verfassung auf die ausdrückliche Feststellung verzichtet.
    (Quelle: Variantenwörterbuch S. XLII)

  • Welche Minderheiten sind in Deutschland anerkannt?
  • Darüber hinaus gibt es in Deutschland offiziell anerkannte Minderheiten mit eigenen Sprachen:
    Die Sorben (auch Wenden), ein westslawischesn Volk mit 60.000 aktiven Sprecher.
    Die Friesen im Norden mit 10.000 Sprechern
    Die Dänen an der Grenze zu Dänemark mit 50.000 Sprechern. Dort ist Dänisch in einigen Orten auch Schulsprache
    Die Sinti und Roma sprechen „Romani“ mit bis zu 50.000 Sprechern.
    Und dann wäre da noch das Plattdeutsche, offiziell als „Niederdeutsch“ bezeichnet:

    Seit 1999 ist auch Niederdeutsch — die Gruppe der niederdeutschen Dialekte, die über keine eigene Standardsprache verfügt — Als Minderheitssprache anerkannt. Damit gilt Niederdeutsch im Grunde als gesonderte, nicht zum eigentlichen Deutsch (»Hochdeutsch«) gehörende Sprache und ist auch in der Charta für Regional- und Minderheitensprachen der Europäischen Union und des Europarats als solche ausgewiesen.
    (Quelle: Variantenwörterbuch S. XLIV)

  • Die Stellung der Standardsprache in Deutschland
  • In Deutschland ist die Standardsprache allgemein die normale Form öffentlicher Rede und schriftlicher Texte, zumindest der Sach- und Fachtexte.

    Das ist in der Schweiz und in Österreich sicherlich nicht anders. Wobei die Fachsprache in manchen Forschungsdisziplinen mittlerweile fast nur noch Englisch ist. Wer in der Medizin etwas publiziert und auch gelesen werden will, muss auf Englisch publizieren.

    Der Dialekt (die Mundart) bleibt mündlich weitgehend beschränkt auf die Privatsphäre und die nicht-öffentliche Kommunikation am Arbeitsplatz, ferner auf das so genannte Volkstheater auf der Bühne und im Rundfunk sowie schriftlich auf bestimmte Formen belletristischer Literatur (Dialektdichtung)
    (Variantenwörterbuch S. XLIV-XLV)

  • Wer liest schon Dialektdichtung?
  • Dialektdichtung findet in Deutschland bestimmt den gleichen reissenden Absatz wie in der Schweiz. Es ist ein Nischenprodukt, schön zum Verschenken. Der „Kleine Prinz“ wurde allerdings in Deutschland noch nicht auf Schwäbisch oder Hessisch übersetzt. Vielleicht kommt das ja demnächst. Schliesslich gibt es auch schon mehrere Bände von Asterix auf Schwäbisch.

    Das erwähnte „Volkstheater“ bezeichnet Spielstätten wie das „Ohnsorg-Theater“ in Hamburg oder das Volkstheater Millowitsch in Köln, die beide zum Grossteil nur „gemässigte“ Mundartaufführungen bringen, speziell wenn sie im Deutschen Fernsehen für ein bundesweites Publikum ausgestrahlt werden.

  • Dialekt ist Privatsache in Deutschland
  • Bemerkenswert scheint uns der erste Satz dieses Zitats aus dem Variantenwörterbuch: „Der Dialekt (die Mundart) bleibt mündlich weitgehend beschränkt auf die Privatsphäre und die nicht-öffentliche Kommunikation am Arbeitsplatz.“

    Diese Erfahrung musste der Blogger „Geissenpeter“ in Deutschland machen:

    Eine andere Freundin von mir spricht mit charmantem schwäbischem Einschlag. Ich weiß, dass sie in ihrer Familie Dialekt redet. Als ich sie aber neulich mit ihrem Bruder zusammen traf, sprachen die beiden beharrlich Hochdeutsch miteinander. Später konnte ich sie belauschen, ihr Dialekt klang lustig, aber als sie bemerkte, dass ich zuhöre, warf sie mir einen strengen Blick zu.
    (Quelle: Heidiswelt 11.11.2005)

    Wie kommt es zu dieser Situation? Warum ist Dialekt Privatsache in Deutschland und wird nicht automatisch in der Öffentlichkeit gesprochen? Das Variantenwörterbuch meint:

    Die Standardsprache ist Lehrziel und Unterrichtssprache in den Schulen. Der Dialekt dient in den Schulen nur als Hilfsmittel, um den Dialekt sprechenden Kindern den Übergang zur Standardsprache zu erleichtern.

    Und wir können davon ausgehen, das Grundschulkinder im Südschwarzwald in der ersten Klasse noch genauso Alemannisch sprechen wie die Primarschüler in der benachbarten Schweiz.

    Damit hängt es zusammen, dass die erkennbar unzureichende Beherrschung der Standardsprache bei Erwachsenen oft als Zeichen mangelnder Bildung gilt. Aus diesem Grunde meiden die »höheren«, bildungsorientierten Sozialschichten das ausgeprägte Dialektsprechen sogar in der Privatsphäre. Es gibt also Unterschiede im Gebrauch von Dialekt und Standardsprache zwischen den sozialen Schichten. Dieser Schichtenunterschied ist allerdings nicht ohne weiteres erkennbar, denn er wird überlagert von der situationsspezifischen Variation. Alle Schichten tendieren in der Öffentlichkeit eher zur Standardsprache und in der Privatsphäre eher zum Dialekt. Die Variationsbreite zwischen Dialekt und Standardsprache ist jedoch bei den Sozialschichten unterschiedlich. Ausserdem wird auf dem Land mehr Dialekt gesprochen als in der Stadt.
    (Variantenwörterbuch S. XLV)

    Vereinfacht gesagt: Auf dem Marktplatz spricht auch die Bürgermeisterfrau den örtlichen Dialekt mit der Marktfrau. Sie wechselt ganz einfach den „Soziolekt“. Genauso handelt der Lehrer, wenn er zum Fussballspiel in Gelsenkirchen „auf Schalke“ geht.

  • Wamama und hatata
  • Er schaltet um auf „Ruhrpott-Deutsch“, um bei den Fans nicht ausgegrenzt zu werden, wenn die sich nach dem Spiel erzählen: „Wamama auf Schalke, hatata jerechnet“ (=waren wir mal auf Schalke, hat das da geregnet). Mit dem Regen auf Schalke ist aber heutzutage sowieso Schluss, denn die neue „Veltins-Arena“ (Name einer Biermarke) hat ein Dach, weswegen der Rasen nach jedem Spiel zur Erholung nach aussen gefahren werden muss:

    Die VELTINS-Arena setzt Maßstäbe. Und das in vielerlei Hinsicht: Sie ist das erste Stadion in Deutschland, das komplett privatwirtschaftlich finanziert worden ist. Für das 186 Mio. Euro Projekt wurde kein Cent an öffentlichen Geldern verwendet. Herausragend ist zudem ihre Technik: Das herausfahrbare Rasenfeld, das verschließbare Dach, die verschiebbare Südtribüne und der überdimensionale Videowürfel unter dem Arena-Dach sind die technischen Highlights in der Multifunktionsarena.
    (Quelle: veltins-arena.de)

    Doch zurück zur wichtigsten Aussage aus dem Variantenwörterbuch: „Damit hängt zusammen, dass die erkennbar unzureichende Beherrschung der Standardsprache bei Erwachsenen oft als Zeichen mangelnder Bildung gilt„.

  • Die Ursache der „Arroganz“ der Deutschen
  • Und das ist genau die Ursache für den Vorwurf von Arroganz, mit dem sich die Deutschen in der Schweiz immer wieder konfrontiert sehen. Sie bringen diese Erfahrung „Dialekt ist Zeichen mangelnde Bildung“, die ihnen in den Deutschen Schulen von den Lehrern permanent eingebläut wurde, mit in die Schweiz und übertragen sie auf die neue, nicht-kompatible Situation. Ich habe selbst erlebt, wie Schüler eines Gymnasiums im Hochschwarzwald nach 11 Jahren Schullaufbahn fest davon überzeugt waren, dass ihr Dialekt als „hinterwälderisch“ gilt und im Schulunterricht absolut fehl am Platz ist. Wer 11 Jahre den Lehrer „Lehrersprech“, also Hochdeutsch hat reden hören, der fängt an, von der gesellschaftlichen Minderwertigkeit seiner Mundart überzeugt zu sein. Die Folge ist eine andersartige Diglossie, als wir sie von der Schweiz kennen. Dialekt wird daheim gesprochen, und mit den Freunden, Hochdeutsch dann in allen „öffentlichen“ Situationen.

  • Weg mit dem Jööö-Effekt
  • Wer mit dieser Erfahrung in Deutschland aufwuchs, der braucht eine Weile, bis er den Stellenwert von Dialekt in der Schweiz nachvollziehen kann, bis sich dieser „Jööö-Effekt“ abbaut. Aber irgendwann stellt sich dann bei jedem Deutschen die Erkenntnis ein, dass Dialekt in der Schweiz nicht ein Soziolekt ist und hat auch nicht unmittelbar etwas mit mangelnder Bildung zu tun.

    Dem Teufel vom Karren gefallen — Neue alte Schweizer Redewendungen

    April 16th, 2009

    (reload vom 30.4.06)

  • Woher stammt das Wort „Karren“?
  • Ein Karren ist in Deutschland ein Fahrzeug, das von Hand oder von einem Zugtier gezogen oder geschoben werden muss. Diese Bezeichnung kommt von Lat. „carrus“ und ist in der Schweiz auch als „Garette“ (von ital. carretta) bekannt.

    Eine „Karre“ ist aber auch ein altes Auto, liebevoll auch als „Rostlaube“, „Nuckelpinne“ oder „Schrottkarre“ betitelt. In Süddeutschland und Österreich kommt noch „Schnauferl“ oder „Spuckerl“ als Kosename hinzu.

    Wir lasen in der Sonntagszeitung vom 9. April 2006 auf Seite 22

    Entweder wir stellen uns darauf ein, dass wir in regelmässigen Abständen mit schockierenden Geschichten und Bildern von «Foltercamps» konfrontiert werden – überlassen aber ansonsten diese dem Teufel vom Karren gefallenen Kinder und Jugendlichen ihrem Schicksal. Oder wir lassen unserer Entrüstung Taten folgen.

    Dem Teufel vom Karren gefallen
    (Sonntagszeitung vom 09.04.06 Seite 22)

  • Dem Teufel vom Karren gefallen
  • Wir waren, gelinde gesagt, schockiert über diesen Ausdruck. Wir haben ihn noch nie gehört, und wir verstehen auch nicht, wie er in der sonst so calvinistischen Schweiz, die von Ratio und merkantilem Denken geprägt ist, bis in die heutige Zeit überleben konnte. Es klingt nach finsterem Mittelalter, nach Hexenverbrennung und einem Karren mit Verurteilten auf dem Weg zum Richtplatz.

    Es finden sich bei Google-Schweiz 346 Belege für diese Redewendung, in Deutschland hingegen nur 23, von denen der erste ein Zitat des Schweizer Dichters Jeremias Gotthelf ist:

    Dann sei ein zweiter Fall, und der sei anders. Die Lismerlise im Bohnenloch kennten alle; wenn eine dem Teufel vom Karren gefallen, so sei es die.
    (Quelle: buecherquelle.com)

    Ein paar Belege weisen auf den katholischen Teil der Schweiz:

    Dem Teufel vom Karren gefallen
    Das Roma-Mädchen, die Behörden und die Öffentlichkeit
    Die Geschichte des kriminellen Roma-Mädchens und seiner Familie ist kein Asyl-Skandal, sondern eine Häufung von sehr verschiedenen Nöten.
    (Quelle: kath.ch)

    Die Coopzeitung zitiert Viktor Giacobbo zu seiner Kunstfigur Fredi Hinz:

    Trotzdem mögen Sie Fredi, oder?
    Absolut. Er ist wirklich eine Ausnahmefigur, einer, der dem Teufel vom Karren gefallen ist. Ein Verlierer, der in der untersten Schicht lebt und nie lacht, aber trotzdem gut gelaunt und immer zu einem tiefgründigen Gespräch bereit ist.
    (Quelle: coopzeitung.ch)

    Wie so eine merkwürdigen Redewendungen so lange überleben konnten? Aber so ist das halt mit der Sprache: Ist ein Ausdruck besonders blumig oder besonders brutal, dann prägt er sich leicht ein. Also wird weiterhin in der Schweiz der Teufel seinen Karren durchs Land ziehen, auf dem Weg zum Fegefeuer, und der ein oder andere Jugendliche hoffentlich unterwegs herunterfallen.