Nicht ins Auge, in den Teich sondern ins Tuch gehen — Neue alte Schweizer Redewendungen
(reload vom 5.5.06)
Wenn etwas „ins Auge“ geht, dann tut das weh, und eine Sache ist misslungen, fehlgeschlagen. Wenn jemand „ins Wasser“ geht, dann will er sich umbringen, geht er „über den grossen Teich“, dann wandert er aus nach Amerika. Die Schweizer, das haben wir gelernt, gehen am liebsten in den Ausgang (vgl. Blogwiese) Manchmal geht auch etwas ganz gewaltig „in die Hose„, wenn etwas schief läuft oder misslingt. Doch was bedeutet es, wenn etwas „ins Tuch geht“?
Wir lasen im Tages-Anzeiger, dem Fachblatt der Leinenweber und Strickindustrie, vom 19.04.06 in einem Artikel über die „Schleichende Preiserhöhung“ des Benzinpreises:
Den Tank auffüllen, das geht wieder ins Tuch.
Ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was hier gemeint sein kann, beginnen wir zu grübeln. Wann geht in Deutschland etwas „ins Tuch“? Nun, das kann zum Beispiel dem Baby passieren, wenn es satt und zufrieden seine menschlichen Bedürfnisse in die Windeln erledigt, falls Mami und Papi dafür keine Pampers Wegwerfwindeln gekauft haben sondern lieber die „Stoff-Variante“ mit dem praktischen Abhol- und Wäschedienst in Anspruch nehmen.
In Deutschland werden die Dinge gern und häufig „in trockene Tücher“ gebracht, als Anspielung an den Vorgehensweise der Hebamme bei einer Geburt, wenn das Kind, frisch geboren und noch feucht und glitschig, erst einmal in ein „trockenes Tuch“ gewickelt und so gesäubert und gewärmt wird. Wenn etwas „in trockenen Tüchern“ ist, dann ist es laut Variantenwörterbuch
endlich zufrieden stellend abgeschlossen, erledigt.
In der Schweiz muss dafür wohl ein besonders teurer Stoff verwendet werden, denn die Redewendung „ins Tuch gehen“ bedeutet hier:
Tuch: *ins [gute]Tuch gehen CH „teuer zu stehen kommen“: Ins gute Tuch und ans Ersparte geht es erst, wenn wir das Spital in Anspruch nehmen müssen (Biel/Bienne 28.5.1998, 6)
(Quelle: Variantenwörterbuch S. 806)
Wir fanden 47 Belege bei Google-Schweiz für „ins Tuch gehen“:
Beispiel „Betrug am Betrieb“
Ins Tuch gehen aber auch die Verlockungen, denen sich Kassierinnen ausgesetzt sehen. Trotz raffinierter Scanning-Systeme, die Eintippen überflüssig machen, kommt es zu Gelddiebstahl durch Kassenmanipulation in Form von Gutschriften, Stornos, Verbilligungen oder Fehlbons.
(Quelle: onlinereports.ch)
Beispiel „Freelancing statt Arbeitnehmerverhältnis“
Genau da liegt denn auch das beträchtliche Risiko für den Auftraggeber bzw. Arbeitgeber: entpuppt sich nämlich das Freelancing plötzlich als Arbeitnehmerverhältnis, müssen die entsprechenden Beiträge nachgezahlt werden, was ins Tuch gehen kann.
(Quelle: www.kommunikationsrecht.ch)
Google Fundstellen aus Deutschland hingegen reden von Babies, die Windeln anhaben, oder
Nur weil man ein wenig älter ist als 14, sollte man mal trotzdem leise sein!! Wenn man ohne 14jährige feiern will, dann soll man ins Tuch gehen oder so!! Schließlich gibt es für euch mehr Möglichkeiten mal tanzen und feiern zu gehen als für uns!! Also werd ma nicht aufmüpfig hier.
(Quelle: max-kiel.de)
Was die wohl meinen mit „soll man ins Tuch gehen oder so!!“ Vielleicht ist der Ausdruck „jemand an die Wäsche gehen“ damit gemeint? Aber Wäsche und Tuch, das sind doch zwei völlig gegensätzliche Vorstellungen. Wie sagen die Deutschen dann, wenn etwas teuer wird? „Das geht ans Eingemachte“, oder „das wird eine Stange Geld kosten“. Die Schweizer trinken die Stange lieber, anstatt mit ihr zu bezahlen (vgl. Blogwiese)
April 23rd, 2009 at 8:47
Also, sollte mir einer an die Wäsche gehen, geht er mit Sicherheit ins Tuch. Das ist kein Gegensatz, sondern eine logische Konsequenz.
April 23rd, 2009 at 10:46
@ Simone
MAN kann nicht ins Tuch gehen, nur ETWAS kann ins Tuch gehen. Es müsste dann heissen, wenn dir einer an die Wäsche geht, dann kann ihn die Konsequenz ins Tuch gehen. So ist es logisch.
April 23rd, 2009 at 13:08
Der Tages-Anzeiger ist eher ein Fachblatt für die Geldindustrie, denn der Sinnspruch „Ins Tuch gehen“ hat einen klaren monetären Bezug!
Bei den Brüdern Grimm gibt wunderbare Hilfe: …..„tuch“ ist abgegrenztes, meist viereckiges stück gewebe beliebiger grösze und aus beliebigem material, das für bestimmte zwecke zugerichtet ist……
Und hier ist der springende Punkt.
Denn in diesem Stück „Tuch“ haben die früheren Menschen ihr Geld gelagert. Dies ist vergleichbar der heutigen Geldkassette, Sparschwein oder Safe sowie der historischen Schatulle (Kasse) beim Kaufmann / Handwerker oder der Geldkiste / dem Geldkasten beim Fernhändler, kaiserlichen Geldeintreiber usw.
Somit hat der Spruch folgende inhaltliche Aussage: Der Mensch muss das Geld aus seinem „Tuch“, also seinem Gelddepot bzw. wahrscheinlich sogar seiner letzten Geldreserve holen. Nun muss er blechen, also die damals blechernen, dünnen Silbermünzen (z. B. 12. – 14. JH) herausnehmen.
Heutzutage ist auch der „Griff in eine fremde Geldkasse“ damit gemeint. Da ist nix mit der erotischen Andeutung / Anmache wg. der an die Wäsche gehen, aber sicherlich musste so manch ein armer Tropf „ins Tuch gehen“ um erst dann „an die Wäsche gehen“ zu können!
Das „Eingemachte“ bezieht sich auf das ins Tuch gewickeltes Geld, welches nun ans Tageslicht gebracht werden soll. Der Bezug ergibt sich vergleichbar, wenn z. B. Hering od. Sauerkraut in Salzlacke eingelegt, hineingemacht, hineingetan, also eingemacht werden.
Die Sache mit der „Stange Geld“ kann vom ehem. Silberbarren mit der Gewichtseinheit von einem deutschen Pfund, also „Mark Silber“, abgeleitet werden. In etwa ist es vergleichbar mit dem engl. „Pfund Sterling Silber“. Dieses „Mark Silber“ hatte einen vom deutschen Kaiser garantierten Wert, welcher durch die kaiserl. Marke gekennzeichnet war. Diese Wertigkeit war damals (ab ca. dem 11. JH) die Größte im damaligen Geldumlauf. Deshalb war es üblicher Brauch, von diesem Silberbarren ein passendes Teil abzuhacken, um so einen wertgleichen Betrag bezahlen zu können. Diese zur Bezahlung verwendete Silberstücke wurde „Hacksilber“ genannt.
Dieses 1 dt. pf. „Mark Silber“ wurde in längliche Massel, Barren und ursprünglich eine Art von „Stange oder auch (Stock)“ (also mit kleinem Querschnitt und größerer Länge) als damalige größte geldliche Werthaltigkeit gegossen. Daher die sprachliche Ableitung: Um etwas bezahlen zu können, muss man das passende Geld von der (Silber)-„Stange“ abhacken! Das wird aber „ne Stange kosten“.
Im engl. Sprachraum kann man die monetäre Verwendung vom „Stock“ (dt. Stange = Barren = Massel) noch an Beschriftungszügen an den Börsen- / Finanz- / Spiel- / Folterhallen als Vorhöllen zur ewigen Verdammnis erkennen: „Stock Exchange“.
April 24th, 2009 at 11:35
Ins Tuch gehen?
Vermutlich ganz einfach (ungeprüft).
Man hatte das Alltagstuch; Arbeitskleidung. Und das gute, teure Tuch, Sonntagskleidung.
April 24th, 2009 at 15:02
@ Brun(o)egg
Das mit der „guten“ und „alltäglichen“ Kleidung hätte schon einen verlockenden Lösungsansatz.
Jedoch sollte berücksichtigt werden: Der Begriff „Tuch“ für solch eine Aussage bei der Beschreibung für Kleidung ist erst etwa ab 1820 / 1850 aufgetaucht. Der Sinnspruch ist aber wesentlich älter. Er ist in der Zeit vor dem 18. / 19. JH entstanden, als der Begriff „Tuch“ in seiner grundsätzlichen Eigenschaft als ein planes Gewebe entstanden. Hier einige Beispiele: jesuanische Schweißtuch aus der Bibel, Taschen- oder Sachtuch, Halstuch, Tischtuch, Betttuch, Tuchballen, Abdecktuch, Umhängetuch. Die damaligen Kleidungsbenennungen waren z. B. Gewand, Kleid, Rock, Beinkleid, Frack. Aber alle Kleider waren aus Tuch geschneidert, der techn. gesehenen einer Vorstufe des Gewebes vor dem Kleidermachen ist.
Die Benennung der Kleidung nun als „Tuch“ ist m. E. eine gewisse ironische Überspitzung der ab der 1850-1870 Jahre für die „Neureichen“, die als nun reiche Nichtadelige sich auch ein teures, aufwendiges und glitzerndes „Tuch“ leisten konnten. Tuch ist als ein Synonym für gutes Zwirn, edler Stoff, aufwendiges Gewebe und schwere Webqualität anzusehen.
„Ins Tuch gehen“ beschreibt nicht im Tuch gehen, sondern es würde im vollständigen Deutsch wohl so klingen / tönen: Der Mensch geht zu seinem Geld, welches er in einem Tuch eingewickelt hat, um es nun heraus zu holen. Da geht es etwas schneller: Ins Tuch gehen. Dies ist vergleichbar mit dem „Ins Eingemachte gehen“. Dies ist auch kürzer als: Der Mensch geht zu seinem ins Tuch eingemachte (hineingelegte) Geld, um es nun heraus zu holen. Es beschreibt den Griff, also das hineingehen (hineingreifen) der Hand in das Tuchbündel, in welchem das besagte Geld gehortet wird.
Auch beim Kleinkind gehen einige Sachen in das Windeltuch.