Fondue im Ruhrgebiet — Wenn China noch wie Schiina klingt

Dezember 20th, 2006
  • Frittieren wie in der Pommesbude
  • In meiner Kindheit im Ruhrgebiet, also in Nord-Westdeutschland gab es bei uns daheim nur an sehr besonderen Anlässe, z. B. an Silvester, „Fondue“ zu essen. Dazu wurde Öl auf dem Gasherd zum Sieden gebracht und dann mit einer heissen Spiritusflamme am Köcheln gehalten. Weniger gefährliche Brennpaste gab es nicht. In der Ecke stand ein Eimer mit einer nassen Decke, um im Notfall einen Zimmerbrand löschen zu können. In diesen Sud gab man auf Spiesse gesteckte Schweine- oder Rindfleischstückchen, die dann herrlich im Öl zischten und brodelten, bis sie so richtig schön nach Frittenbude schmeckten. Die Technik des Frittierens war uns Kindern wohl bekannt von den zahlreichen Pommesbuden, die es im Ruhrgebiet regelmässig im Abstand von 500 Meter in jeder belebten Strasse gibt. „Fleisch-Fondue“ war lecker, auch wenn uns regelmässig schlecht wurde von diesen Unmengen halb gegartem Fleisches, und der Fettgeruch und – geschmack danach tagelang in den Gardinen hing.

  • Schoko-Fondue am Kindergeburtstag
  • Dann gab es da noch die „Schoko-Fondue“ Variante an Kindergeburtstagen. Dazu wurde kein Fett, sondern Vollmilchschokolade kiloweise im Fondue-Topf zum Schmelzen gebracht, und nun mussten aufgespiesste Bananen- oder Ananas-Stückchen durch die Schokolade gerührt und dann verzehrt werden. Allen Gästen wurde unter Garantie auch hier nach maximal 20 Minuten „Schoko-Fondue“ ganz anders vom übermässigem Schokoladenverzehr. Das war recht und billig, denn so konnte das spätere Abendessen der Geburtstagsgesellschaft einfach wegfallen, es war sowieso allen kotzübel.

  • Asterix bei den Schweizern und Emil kennt jeder Deutsche
  • Schoko-Fondue war auch ein Abenteuer für uns Kinder, bei dem es galt, bloss nicht das Fruchtstückchen in der dunklen Masse zu verlieren. Denn für diesen Fall waren diverse Strafen vorgesehen. Nicht gerade die berühmten „Fünf Stockschläge“, oder „die Peitsche, sie ist aber noch nicht trocken“ oder „mit einem Stein an den Füssen in den See…“ wie wir sie sehr bald aus „Asterix bei den Schweizern“ lernten. Dieses bedeutende literarische Werk war für uns als Kindern neben den Auftritten von Emil Steinberger im Deutschen Fernsehen sicherlich die zweite wichtige Informationsquelle, aus der wir etwas über die Lebensweise und Eigenarten der Helvetier erfuhren.

    Asterix bei den Schweizern Fondue

    Viele Schweizer ahnen nicht, wie stark diese Zitate aus „Asterix bei den Schweizern“ bei den Deutschen präsent sind, wenn diese zum ersten Mal in die Schweiz kommen und hier zu einem Käse-Fondue eingeladen werden. Dass man auch Käse beim Fondue schmelzen und essen kann und die Bezeichnung Fondue von „fondre“ = Schmelzen (und nicht von „fonder“ = begründen, aufbauen eines Käseklotzes im Magen) kommt, das hatten uns unsere Eltern beim Fondue mit Brühe oder Öl und Schweine- oder Rindfleisch nicht erklärt. Die ersten Bilder dieser Käsefondues sind erst per Asterix-Lektüre in unser Bewusstsein gedrungen.

  • Wir schmelzen uns einen Chinesen
  • In der Schweiz angekommen wurden wir bald in die Feinheiten des Fondues eingeführt, die da sind: „schwer im Magen liegend“, „sehr schwer mit Magen“, „sauschwer im Magen liegend“. Nein, gemeint ist natürlich der Unterschied zwischen einem „Fondue Bourguignonne“ und einem „Fondue chinoise“. Bei der ersten Variante wird niemand aus dem Burgund und bei der zweiten Variante niemand aus China zum Essen eingeladen oder gar verspeist. Obwohl es ein beliebter Spass beim Fondue-Essen ist, nach der dritten Flasche Fendant zu fragen, wie man eigentlich „Bourguignonne“ buchstabiert, bzw. korrekt ausspricht.

    Es gehört neben dem französischen Wort für Blinker (am Auto, Amtsdeutsch „Fahrtrichtungszeiger“)= „Clignotant“ zu unseren Lieblingswörter, die sicher von eingewanderten Festlandchinesen nach Frankreich eingeführt wurden. Richtig betont klingen beide Wörter wie eine Provinz in Südchina. Doch zurück zu den Fondue-Sorten. Wiki belehrt uns:

    Spricht man von Fleischfondue, so meint man entweder das Fondue Bourguignonne oder das Fondue chinoise, als japanische Variante Shabu-Shabu genannt. Das „Chinesische Fondue“ ist auf Bouillongrundlage; in der heissen Fleischbrühe kocht jeder Teilnehmer selbst am Tisch seine Fleischstücke, feingeschnittenes Fleisch, Fisch und andere Meeresfrüchte, aber auch Gemüse. Ein typisches Gerät für die Zubereitung des „chinesischen Fondue“ ist der Mongolentopf. In der Variante Bourguignonne gart man die Zutaten im heissen Fett beziehungsweise Öl.
    Eine weitere Art ist das Fondue Bacchus. Dabei wird gleiches Fleisch und Würzmischung wie beim Fondue Chinoise, aber anstelle von Bouillon wird Weisswein verwendet. Diese Zubereitung ist vor allem im Wallis bekannt.
    Obwohl bei keiner dieser Arten etwas geschmolzen wird, spricht man dennoch von „Fondue“.
    (Quelle Wiki Fondue )

    Als wir früher Fleischfondue mit Brühe statt heissem Fett assen, hatten wir keine Ahnung, dass es hier ein „Fondue Chinoise“ war, dass uns vorgesetzt wurde. Es wäre dann eher ein „Schiinoise“ geworden, denn im Norden von Deutschland wird bekanntlich das „ch“ wie „sch“ gesprochen, also „Schina“, „Schemie“ und „Schemikalie“. Besucher aus dem Süddeutschen Raum, die in Norddeutschland plötzlich von „Khina“, „Khemie“ oder „Khemiekalie“ sprachen, machten sich unfreiwillig zum Gespött jeder Tischrunde.

    Es ist schon ziemlich diskriminierend, was hinsichtlich der Aussprache von „Ch“ bei diesen Wörter in Deutschland abgeht. In der Standardsprache wird es als „SCH“ gesprochen, also im Mitten und Norden von Deutschland, das Schwabenland und Bayern ist sich aber mit den Schweizern darüber einig, dass diese Wissenschaft mit einem gesprochenem „K“ beginnt. Auch „Kinakohl“ (Chinakohl) hat im Süden vorn und hinten ein gesprochenes „K“ und ist im Norden „Schinakohl“.

  • Schina oder Kina?
  • Die Diskriminierung und der Spott wird einem gleichfalls als Norddeutscher zugeteilt, wenn man naiv in den Süden reist, und meint, die korrekte Aussprache sowieso gepachtet und allgemeingültig für alle Zeit intus zu haben. Nirgend woran scheiden sich die Geister so leicht wie an der Aussprache dieser Wörter. „Toleranz für Varianten“? Nie gehört, jeder glaubt fest und bestimmt, dass nur seine persönliche Aussprache, ob „Schina“ oder „Kina“ richtig sei und amüsiert sich köstlich, wenn er etwas anderes hört. Ob Sie selbst mitlachen dürfen oder eher ausgelacht werden hängt davon ab, ob Sie in der sprachlichen Minderheit oder in der Überzahl sind, also als Norddeutscher in Zürich oder als Schweizer in Hamburg leben. So kann man auch mit kleinen Sachen den Menschen eine Freude machen.

    Schweizer Aussenverteidigung in Krisenzeiten — Geschäften auch Sie in der Schweiz?

    Dezember 19th, 2006
  • Der Feind kommt von Norden
  • Als die Welt noch geordnet war und Gefahren klar erkennbar, da entstand die Schweizer Verteidigungslinie im Norden des Landes, unweit des Rheins. Die Gebiete nördlich des Rheines (Eglisau zum Beispiel) galten während der Naziherrschaft in Deutschland sowieso als verloren. Wir schrieben schon über die immer noch vorhandenen Reste dieser Verteidigungsanlagen, wie z. B. dieser versteckte Scharfschützenstand am Ende der Flughafenautobahn, im Wald bei Bülach gelegen

    Schiesstand bei Bülach

    in „die Kunst der heimlichen Landesverteidigung“.

  • Ein Elitesoldat zur Abschreckung
  • Kurz nach den Angriffen auf Amerika am 11. September 2001 richtete in der Schweiz im Kanton Zug ein Amokläufer ein schreckliches Blutbad an. Er verwendete selbstverständlich keine Militärwaffe, denn das gehört sich nicht, aber einige weiteren Waffen, u. a. Pumpguns, die er sich zuvor legal und ohne Registrierung in verschiedenen Kantonen zusammenkaufen konnte, obwohl zu diesem Zeitpunkt sein aggressives Verhalten gegenüber einer Behörde schon aktenkundig geworden war.

    Ungefähr zu dieser Zeit sahen wir mit einmal an der Grenze Militär auffahren. Keine Schützenpanzer, keine zusätzliche Kontrolle zur EU, nein, es war ein einsamer, dafür aber umso beeindruckend aussehender Elitesoldat im langen Wintermantel. Gross, kräftig, breitschultrig, mit Gewehr stand er an der Grenze bei Hüntwangen und blickte grimmig in Richtung Norden. Mehr tat er nicht, nur schauen und Präsenz zeigen. Beeindruckend, und sicher absolut abschreckend.

  • Kein Bademeister sondern Gefahrenabwehr am See
  • Kurze Zeit später fand im Frühjahr 2002 die EXPO-02 statt, die grosse Schweizer Landesausstellung, im „Dreiseenland“, wie das Gebiet zwischen dem Murtener, Neuenburger und Bieler See genannt wird. In den Orten Yverdon und Neuchâtel lag das Ausstellungsgelände am bzw. im Wasser, auf Pontons und Säulen errichtet. Dort in Yverdon und in Neuchâtel sahen wir sie das zweite Mal, die praktische Gefahrenabwehr und Landesverteidigung auf Schweizer Art: Auf einem Hochstuhl, wie wir ihn sonst nur vom Tennis für den Schiedsrichter am Netz bzw. vom Schwimmbad für den Bademeister am Beckenrand kannten, sassen im Abstand von 150 Meter jeweils ein Soldat, ob mit oder ohne Waffe kann ich nicht mehr sagen (vielleicht versteckt unter dem Mantel?), und blickte aufmerksam auf den See. Praktische Gefahrenabwehr à la Suisse.

  • Das Schnellboot ist erkannt, das Schnellboot ist gebannt
  • Wenn nun ein Schnellboot, vollgepackt mit Sprengstoff auf die künstlichen Plages zugerast gekommen wäre. Er hätte es gesehen! Er wäre vielleicht sogar aufmerksam geworden. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Schnellboote, genauer gesagt „Tragflügelboote“ waren auf dem Neuenburger See sogar im Linienverkehr unterwegs zur Zeit der Expo, um die diversen „plages“ ohne Plage miteinander zu verbinden.

  • Warum wird die Schweiz nicht angegriffen?
  • Ob so auch Angriffe von Tauchern erkannt worden wären? Zum Glück ist nichts passiert. Die Schweiz ist ja neutral, da passiert dann auch grundsätzlich nichts in solchen internationalen Krisenzeiten. Wer zerdeppert schon gern den Ort, an dem er sein Nummerkonto hat oder der Bruder von Bin Laden als grundsolider Businessman in Genf geschäftet. Und ausserdem, wie sollte denn die Schweiz angegriffen werden, wenn da diese Elitesoldaten stehen und aufpassen? Unmöglich.

  • Geschäften ist absolut schweizerisch
  • „Geschäften“ kennen Sie nicht? Das sagt man in der Schweiz gern immer dann, wenn jemand in Deutschland „sein Geschäft macht“ heisst, was uns wiederum an ein stilles Örtchen erinnert, auf das selbst ein König allein geht. So kann es gehen mit den sprachlichen Missverständnissen. Erstaunlich, dass unsere Lieblingsquelle, der Duden, dieses hübsche Wort nicht kennt. Von „geschäftsmässig“ über „geschäftig“ und „sein Geschäft machen“ ist alles dabei, nur nicht das so einfache und praktische Wörtchen „geschäften“. Müssen wir unbedingt für die nächste Auflage vorschlagen, mit einem kleinen Schweizerkreuz-Fähnchen angesteckt auf dem „Swiss Quality“ geschrieben steht. Sie haben praktische Wörter in der Schweiz,

    12 Mal fand sich „er geschäftet“ bei Google-CH und kein einziges Mal bei Google-DE. Den Infinitiv „geschäften“ kann man mit Google leider nicht sinnvoll suchen, weil sich Google nicht auf die Kleinschreibung festlegen lässt und so stets der Plural von „Geschäft“ gefunden wird. Wie sagt man eigentlich in der Standardsprache für „geschäften“? „Ein Geschäft betreiben“, oder „in Geschäften unterwegs sein“, oder „Geschäfte machen“, womit wir wieder beim Klo sind, der in der Schweiz ein Abort ist, den man mit AB abkürzt, was die Deutschen dann wiederum für einen Anruf-Beantworter halten, der in der Schweiz nur ein „Beantworter“ ist. Aber jetzt ist Schluss. Das Geschäft ruft.

    Wohnen Sie in Fischtel oder Fistel — Neues von den extrem-mundartlichen Lokalnamen

    Dezember 18th, 2006
  • Nicht Bärg sondern Berg
  • Die Diskussion um die Schreibweise der Flurnamen in der Schweiz wird zur Zeit in diversen Fachgremien praktisch ohne grosse Einbeziehung der Schweizer Öffentlichkeit geführt. Gelegentlich schafft es dabei ein Leserbrief in den Tagi oder in die NZZ, auf die gut gestalteten Übersichtsseiten Lokalnamen.ch oder den Wiki GISpunkt HSR gelangen in der Regel nur unmittelbar von Umbenennungen Betroffene.

    Dabei ist die Fragestellung „Sollten teils an die Schriftsprache anlehnende, teils an die Mundart angenäherte Lokalnamen in der Schweiz unverändert bleiben oder ‚extrem-mundartlich‘ geschrieben werden etwas, das jeden angeht, der sich auf einheitlich geführtes und verständliches Kartenmaterial verlassen muss, sei es beim Wandern, in der Geologie oder beim Rettungsdienst. Nicht zuletzt Kartenverlage und Hersteller von Schildern sind davon berührt.

    Soll es weiter „Rosenberg“ heissen,
    Rosenberg
    (Quelle: Rosenberg auf der Karte)

    oder gewöhnen wir uns lieber an „Roosebärg“?
    Roosebärg
    (Quelle: Roosebärg)

  • Man schreibe Berg oder Feld, und nicht Bärg oder Fäld
  • Offiziell gelten in der ganzen Schweiz nach wie vor die „Weisungen von 1948“, in denen u. a. festgelegt wird:

    3. In der schriftsprachlichen Form sind in der Regel zu belassen:
    a. allgemein vertraute, häufig vorkommende Namenwörter, die in gleicher Form auch schweizerdeutsch sind, z. B. Berg, Feld, Weg, Grat (nicht Bärg, Fäld, Wäg, Grot);
    (…)
    7. das in der herkömmlichen Schreibweise die unbetonte Endsilbe deckende, meist nicht gesprochene –n wird geschrieben:
    a. in männlichen Wörtern: Stalden, Schachen, Boden, Graben
    (Quelle: Weisungen von 1948)

    Im Mai 2005 (bis Mai 2006 überarbeitet) gab die Schweizer Landestopographie mit dem hübschen englischen Namen „swisstopo“ den „Leitfaden für die Schreibweise der Lokalnamen in der deutschsprachigen Schweiz“ als Entwurf heraus. Nun ist alles möglich und erlaubt:

    „Es wird empfohlen, Namen, deren zugrunde liegendes Wort in der Hoch- oder Standardsprache vorkommt (allgemein bekannte Namenwörter), wie alle übrigen Toponyme zu behandeln und nach der ortsüblichen Sprechform zu notieren. Also z. B. Bärg, Fäld, Stäg, Wäg, Zälg, Räge, Rein, Mei, Boum etc. (wo so gesprochen wird) und nicht – oder nur dort, wo dies die ortsübliche Sprachform ist, Berg, Feld, Steg, Weg, zelg, Baumt etc. – Demnach (z. B. im Kt. BE): Breitfäld, Höje Stäg, Räbbärg/-wärch, Chärderbärg, Chrischboummate, Meigüetli
    (Vollständige Quelle auf lokalnamen.ch)

    Die neuen Schreibphilospien wurden anscheinend schon vor dem Erscheinen des Leitfaden propapiert, denn die ersten Karten, welche deutlich von den Weisungen von 1948 abweichen, erschienen bereits vor Herausgabe des Leitfadens! Ob da jemand mit Hilfe einer Zeitmaschine in die Zukunft geschaut hat? Oder ob vielleicht der Leitfaden zur „nachträglichen Rechtfertigung“ angefertigt wurde?

    Im Kanton Thurgau war man besonders fleissig. Auf dem Kartenblatt Wil der Landeskarte zum Beispiel wurden in der Ausgabe 2004 gegenüber der Ausgabe 1978 von 540 Namen 290 geändert, das sind 54 %. Hier ein paar Beispiele für die neue Benennung:
    Neue Lokalnamen im Thurgau
    (Quelle Foto Lokalnamen.ch)

  • Zum Rii geht es durch das Rafzerfäld
  • Auch die aktuelle Schulkarte des Kantons Schaffhausen realisiert die neue „alles-ist-erlaubt“ Regelung:

    Falls diese Schulkarte als „Mundartkarte“ bezeichnet würde, wäre dagegen nichts einzuwenden. Ohne diesen Hinweis nimmt man jedoch an, dass es sich um eine offizielle Spezialkarte mit offiziellen Namen handelt, was aber nicht der Fall ist. Zum Beispiel sind Rii(Rhein) wie auch Liebensbärg anstelle Liebensberg sowie Rafzerfäld anstelle Rafzerfeld und sehr viele weitere Namen auf der Schulkarte des Kantons Schaffhausen keine offizielle Bezeichnungen.
    (Quelle: WikiGISpunkt HSR)

    Die Grundproblematik bei ‚extrem-mundartlichen‘ Flur- und Lokalnamen ist stets die, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen bereits geschriebenen und in vielen Dokumenten verwendeten „pragmatischen“ Schreibweisen, und den zahlreichen Varianten, den die Mundarten bieten. Hierzu das Beispiel „Aazheimerhof“:

    Von Aazheimerhof zu Oozemerhof
    Es geht darum, ob die bisherige Schreibweise eines Hofes in der Gemeinde Neuhausen Kt. SH belassen oder geändert wird. Es handelt sich dabei um ein Beispiel, welches für die künftige Schreibweise der Lokalnamen in der Schweiz Modellcharakter hat.

    Personen unter 70 sprechen in der Gemeinde Neuhausen „Aazheimerhof
    einzelne bejahrte Neuhauser sprechen „Ozemerhof

    In der Amtlichen Vermessung und in heutigen Karten und Plänen steht „Azheimerhof“. Die Amtliche Vermessung enthält heute einen Flurnamen „Azheim“ und es existieren mehrere Gebäudeadressen „Azheimerhof 8212 Neuhausen am Rheinfall“

    Aazheimerhof in der Amtlichen Vermessung
    Aazheimerhof in der Schulkarte Kt. SH

    Google
    74 Einträge für „Azheimerhof“
    keine Einträge für „Ozemerhof“

    Soll nun bei einer Überarbeitung der Hofname „Aazheimerhof“ belassen werden oder in „Ozemerhof“ verändert werden?

    Gemäss Weisungen 1948 würde die heutige Schreibweise „Aazheimerhof“ unverändert beibehalten werden. Mit Entwurf Leitfaden Toponymie 2006 würde gemäss Referat Alfred Richli anlässlich Herbsttagung Schweizerische Gesellschaft für Kartografie vom 3.11.2006 in Schaffhausen die heutige Schreibweise „Aazheimerhof“ in „Oozemerhof“ geändert werden.
    (Quelle: Wiki GISPunkt HSR)

  • Was kosten diese ganzen Änderungen eigentlich?
  • In der nachfolgende Diskussion heisst es dazu:

    In den Weisungen 1948 wird nirgends postuliert, dass mundartnah geschrieben werden soll. Im Gegenteil, es werden als Kompromiss zwischen schriftsprachlicher, traditioneller und mundartlicher Schreibung Schranken aufgestellt, um eine massvolle Schreibung der Lokalnamen zu erreichen. Diese Schranken sind im Entwurf Leitfaden Toponymie 2006 weitgehend eliminiert worden. Von Nomenklaturkommissionen, welche mundartnahe Schreibung und den Leitfaden Toponymie 2006 propagieren, wird kaum daran gedacht, dass das Ändern von Lokalnamen Aufwendungen bei Adressen, Registern, Dokumenten usw. verursacht. Wenn man die Regeln des Leitfadens Toponymie 2006 konsequent anwenden würde, müssten in der Schweiz im Gegensatz zu den Weisungen 1948 Zehntausende von Lokalnamen auf eine „bodenständige“ Form geändert werden. Das ganze sieht dabei nach Arbeitsbeschaffung für Nomenklaturkommissionen aus.
    (Quelle: WikiGISpunkt HSR)

    Wer die Diskussionen auf dem Forum von Wiki GISpunkt HSR verfolgt, hat das Gefühl, dass hier pragmatische Argumente zwar angehört werden, dass aber in der Realität die Umbenennungswelle nicht mehr zu stoppen ist. Nach Schaffhausen und dem Thurgau werden nach und nach alle weiteren Landeskarten überarbeitet, und nur selten gerät dieser Prozess in die Öffentlichkeit, so wie in diesem Leserbrief von Angelo Garovi in der Berner Zeitung vom 13.12.06:

    Die Sprachpolitik in der Eidgenossenschaft und den konföderierten Kantonen wird immer eigenartiger. Während in Bern beschlossen wird, ab der ersten Primarklasse im Unterricht „hochdeutsch“ (oder „standarddeutsch“?) zu reden, legt im gleichen Bern das Bundesamt für Landestopographie (swisstopo) neue Richtlinien für die Schreibweise der Lokalnamen (Flurnamen) vor, die alles andere als „schriftdeutsch“ (oder „hochdeutsch“?) sind. Nach diesem Entwurf sollen folgende exotische Namens auf den Landeskarten stehen. Burdlefschache, Gitziahoore, Hiendertelti, Läitren, Hewwschleif, Höje Laas, Düüheltor, Bir Heejen Schir, Totuflieji u. a. m. Was sollen Schüler und Schülerinnen beim Orientierungslauf im Turnen – auch in Hochdeutsch – damit anfangen? Oder auf der Schulreise, wo vielleicht auch noch hochdeutsch parliert (Fremdwörter erlaubt?) werden muss. Während die Bildungspolitiker in den Schulen „hochdeutschen“ Unterricht verlangen, bringt gleichzeitig das Bundesamt für Landestopopgraphie Regeln für eine extremmundartliche Schreibung auf Karten heraus, die krasser (ist Jugendsprache als Variante der Standardsprache erlaubt?) nicht zu den Vorschriften in der Schule stehen könnten. Weiss in der Politik die linke Hand nicht mehr, was die rechte tut?
    (Quelle: Berner Zeitung)

    Angelo Garovi ist Sprachwissenschaftler und Mitglied der Dudenkommission Bern/Basel darum verzeihen wir ihm seine süffisanten Seitenhiebe auf die Hochdeutsch-Standarddeutsch Diskussion. Wir ergänzen seine Aussage: „Nach dem Entwurf sollen folgende Namen auf der Landeskarte stehen (…)“: In Schaffhausen und im Thurgau ist das kein Entwurf mehr sondern Realität.

    Die Kritiker der neuen mundartlichen Schreibweise fassen zusammen:

    Die pragmatische Schreibweise gemäss Weisungen 1948 und mundartnahe Schreibweise gemäss Leitfaden Toponymie 2006 sind unvereinbar. Die Gefahr, dass in der Schweiz unsinnig Zehntausende von Lokalnamen im Sinne des Leitfadens 2006 mit grossen Kostenfolgen verändert werden ist so gross, dass die Weisungen 1948 weiterhin zwingend als Richtschnur für die Schreibweise der Lokalnamen in der amtlichen Vermessung und auf Landeskarten gelten müssen.
    (Quelle: geometa.info)

  • Immer ein paar passende Rentner daheim parat haben
  • Warten wir es ab, wer sich hier durchsetzen wird. Achten Sie bei Ihren Wanderungen in den nächsten Jahren besonders auf „Bärg“ und „Fäld“ und fehlende „n“ wie in „Bürfälde“. Und wenn sie selbst an einem Ort Namens „Aazheimerhof“ wohnen, dann tun sich gut daran, sich mindestens zwei dutzend betagte Rentner einzuladen für den Tag, an dem die swisstopo Fachleute vorbeischauen, um denen dann glaubhaft zu versichern, dass sie hier nicht in „Oozemerhof“ sind. Vorsorglich empfehlen wir die Anschaffung von abwaschbaren Schildern, für die allfälligen Namensänderungen schnell und kostengünstig realisieren zu können. Mit der Herstellung von persönlichem Briefpapier sollten Sie darum lieber noch warten. Vielleicht heisst ihr Wohnort und ihre Wohnstrasse demnächst gar nicht mehr so, wie sie glauben? So wie der Ort „Fistel“ :

  • Besucht uns doch in Fischtel
  • In der Gemeinde Fischenthal (auch wenn im Duden „Tal“ steht, ändern sich damit nicht einfach Gemeinde- und Ortsnamen in der Schweiz!) erscheint „Fistel“ im Übersichtsplan und in den Gebäudeadressen. In der Landeskarte wurde „Fistel“ in „Fischtel“ geändert. Wenn Sie hier wohnen und ihre Freunde nach Fischtel einladen, dann wird Map.search das leider nicht finden.
    fischtel nicht gefunden
    (Quelle: Fischtel bei Map.search)

    Suchen Sie nach „Fischtel“, so sagt Map.search „Strasse nicht gefunden“, zeigt aber deutlich den Ort unten rechts an. Suchen Sie bei Map.search nach „Fistel“, erscheint „Fischtel“:
    Fischtel oder Fistel

    Das verspricht eine Menge Suchspass, wenn diese „einheitlichen Ortsnamen“ erst überall eingeführt worden sind. Hoffentlich ist es dann nicht die Suche eines Rettungsdienstes, der Ihr Leben retten soll.

    Heute schon ein Vorurteil gepflegt? Warum jedes Land seine Ossis hat

    Dezember 15th, 2006
  • Innerschweizer Nettigkeiten
  • Die Zürcher mögen die Basler wenig, sie sind vielleicht eifersüchtig auf deren europäische Lebensstil im Dreiländereck mit Deutschland und Frankreich. Wären sie doch selbst gern eine „Weltstadt“ , und auf die locker-gelöste Art der Basler, mit der am Rheinknie die Fasnacht ohne Zwänge und Riten gefeiert wird, sowie natürlich auf die erfolgreiche Wirtschaft.

  • Die Zürcher sind die Deutschen der Schweiz
  • Die Basler wiederum mögen, wie die meisten anderen Kantone auch, die Zürcher nicht so sehr. Die Anerkennung und Beliebtheit eines Zürchers in der Schweiz (ausserhalb von Zürich) ist vergleichbar der Situation von Deutschen in Zürich. Sie gelten als arrogant, überheblich, etwas vorlaut und immer mit der Überzeugung daherkommend, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Alle Schweizer sind sich einig gegen die Zürcher, weil die so schnell „schnurren“, ohne deswegen Ähnlichkeiten mit Katzen zu haben.

    Die Beliebtheit gewisser Landesteile lässt sich gut an der Beliebtheit der Dialekte ablesen:

    So wurde gemäss einer Umfrage aus dem Jahr 2002 der Walliserdialekt von 20% der Befragten als beliebtester Dialekt angegeben. Noch beliebter war Berndeutsch (27%), während der Zürcher Dialekt nur gerade von 10% der Befragten als Lieblingsdialekt genannt wurde.
    (Quelle: swissworld.org)

    Die genaue Rangfolge sah so aus (von sehr beliebt bis am am wenigsten beliebt)
    1. Bern
    2. Bünderland (Attribut heimelig, warm, abwechslungsreich)
    3. Wallis (urig, lebhaft, freundlich)
    4. Uri
    5. Basel
    6. Luzern
    7. Zürich
    8. Appenzell
    9. St. Gallen
    10. Thurgau (grell, ungünstig, kalt)

    Wir hörten diese Reihenfolge zitiert bei einem Vortrag auf dem SAL Forum. Die Quelle ist nur wage belegt, das Material erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch auf Korrektheit. Auch ist nicht bekannt, wie diese Daten erhoben wurden, wieviele Menschen befragt wurden etc.

  • Wer aus Bern oder aus dem Wallis kommt hat es leichter
  • Jetzt ist auch klar, warum im Schweizer Fernsehen gern ein Moderator aus dem Wallis eingesetzt wird, wie Patrick Rohr, der uns jedoch einmal verriet, dass er selbst als „Vorzeige-Walliser“ diesen Dialekt erst als dritte Muttersprache mit ca. 14 Jahren zu lernen anfing. Es hat sich für ihn beruflich gelohnt.

  • Wehe wenn Sie aufeinander losgelassen
  • Die sonst nach aussen so harmonisch und freundlich auftretenden Schweizer sind tief im Innersten ein ganz schön zerrissenes Völkchen. Der viel zitierte „Kantönligeist“ ist dafür nur ein beschönigender Ausdruck. Kommt es zu einem spielerisch gemeinten Wettbewerb zwischen den Kantonen, sei es bei einer Casting-Show wie „MusicStar“ oder einem anderen Wettstreit im Schweizer Fernsehen, wird sich mächtig für den eigenen Kanton ins Zeug gelegt.

  • Der Aargau liegt zwischen Basel und Zürich
  • Basler und Zürcher lächeln gemeinsam über den Aargau, dem „Rüebliland“ und Zwischenkanton, über den die wichtigste Aussage „er grenzt an Basel und an Zürich“ geradezu sprichwörtlich ist. Es fällt auf, dass der Kanton Aargau im „Dialekt-Ranking“ gar nicht erwähnt wird. Er ist „Niemandsland“ für die Schweizer. Sprachlich eher an Zürich ausgerichtet, mit dem Herzen jedoch eher in Bern. Die Jurabewohner im jüngsten Kanton hingegen reagieren allergisch auf Bärndütsch und auf jegliche Bevormundung aus dieser Richtung.

    Die Walliser wiederum finden, dass alle, die von hinter den Bergen kommen und nicht aus ihrem Tal stammen, „Grüezis“ sind und das man denen lieber misstrauen sollte. Ganz unten auf der Dialekt-Beliebheitsskala steht der Thurgau. Man könnte die Einwohner des Thurgaus auch als die „Ossis der Schweiz“ bezeichnen. Der Begriff „Ossi“ passt, weil der Kanton so weit im Osten liegt. Es ist also auch in der Schweiz möglich, noch unbeliebter als die viel gescholtenen Zürcher zu sein.

  • Jedes Land braucht seine Ossis
  • Als Otto Walkes in den Siebzigern durch Deutschland tourte und ganze Hallen mit seinen Live-Auftritten zum Kochen brachte, ward der Ostfriesenwitz geboren. Deutschlands Ossis waren bekannt für ihre langsame Sprechweise, ihre logische Art zu Denken und für die roten Halstücher, mit denen sie die Holzgewinde am Hals der jungen Mädchen versteckten.

    Die nächsten Ossis kamen dann nicht mehr aus Ostfriesland, sondern nach der Wende im November 1989 aus dem richtigen Osten, „Zonengabi mit ihrer ersten Banane“ war ein Klassiker der Satirezeitschrift Titanic:
    Zonengabi und ihre erste Banane
    Gezeigt wurde ein ostdeutsches Mädchen mit einer geschälten Gurke in der Hand.

  • Die Ossis der Schweiz wohnen im Thurgau
  • Die Thurgauer erinnern uns in der Beschreibung an all die Klischees, die einst einem Mantafahrer nachgesagt wurde: Weisse Tennissocken in Sandalen, Jogginganzug beim Einkauf und ein liebevoll aufgemotztes Auto mit Kenwood-Aufkleber.

  • Im Ruhrgebiet EN, im Breisgau EM
  • Dass die Prinzipien der soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung nicht nur in der Schweiz existiert, können wir an Hand des Ruhrgebiets belegen. Dort ist das Autokennzeichen „EN“ für „Ennepe-Ruhr-Kreis“ das deutliche Brandzeichen für ein zünftiges Landei. Wer dieses Kennzeichen fährt, hat quasi Narrenfreiheit beim Abbiegen, Vordrängeln oder Parken im eingeschränkten Halteverbot. In der Französischen Provinz sind es die 75er Nummernschilder, die den Pariser beim Landbesuch verraten, und im badische Oberzentrum Freiburg im Breisgau haben die Kennzeichen EM für den Landkreis Emmendingen und VS = Schwarzwald-Baar-Kreis (von Villingen-Schwenningen) für die Freiburger deutliche Warnfunktion.

  • Pflegen wir weiter unsere Klischees
  • Ist es nicht klasse, wie praktisch sich die ganze Welt in Gut und Böse, in Schlaue und Dumme, in freundliche und in arrogante Menschen einteilen lässt? So herrscht wenigstens Ordnung und jedermann weiss genau, woran er beim anderen ist. Nachdenken oder selbst ein Urteil bilden ist nicht mehr nötig. Spart einfach eine Menge Zeit. Und wo lassen Sie denken?

    Wie demokratisch ist Ihr Land? — Wie alt ist die Demokratie in der Schweiz und in Deutschland

    Dezember 14th, 2006
  • Der Mythos von der Schweiz als „Wiege der Demokratie“
  • Die Schweiz wird oft als „Urdemokratie“ bezeichnet, als „Wiege der Demokratie“, die quasi seit ihrer Gründung im Jahre 1291 frei von Fremdherrschaft ist und von den Eidgenossen basisdemokratisch regiert wurde. Mit diesem Mythos räumt Walter Wittmann in seinem Buch „Helvetische Mythen“ (Frauenfeld 2003) gründlich auf.

    Die Schweiz ist eine junge Demokratie. Erst die liberalen Sieger des Bürgerkriegs von 1847/48 brachten ihre Forderungen durch. Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Freiheitsrechte. Die französische Revolution lieferte die liberalen Ideen, die amerikanische Verfassung das Modell des Zweikammersystems. Die Bundesverfassung von 1848 enthielt Ansätze zur direkten Demokratie, in den Kantonen setzte die demokratische Bewegung die Volkssouveränität durch.
    1291, im Geburtsjahr der Eidgenossenschaft, war von Demokratie nichts zu spüren. Es gab keine Versammlungs-, keine Niederlassungs-, keine Gewerbefreiheit. Keine kollektive Meinungsbildung, die zu demokratischen Entscheiden geführt hätte — das „Volk“ war nicht gefragt. Es führten Adel, ländliches Magnatentum und Geistlichkeit. Mythenzertrümmerer Walter Wittmann: „Daran änderte in der Regel auch die Landsgemeinde nichts, da dort nur ihre Vertreter wählbar waren. Es ist völlig verfehlt, die Schweiz, wie sie vor dem Einmarsch von Napoleon 1798 existierte, als Demokratie zu bezeichnen.“
    (zitiert nach: Schweizer Lexikon der populären Irrtümer von Franziska Schläpfer, S. 63)

  • Die Herrschaft des Volkes galt als etwas Anrüchiges
  • In Deutschland ist das Verständnis und die Akzeptanz von moderner Demokratie ebenfalls noch eine relativ junge Errungenschaft der Geschichte. Noch die Generation unserer Grosseltern hatte ein äusserst suspektes Verhältnis zum Begriff der „Demokratie“. Mit dem Wegfall des Deutschen Kaiserreiches zum Ende des 1. Weltkriegs brach für sie eine Weltordnung zusammen. Feudale Strukturen waren angenehm geordnet, einem nicht demokratisch sondern durch Erbfolge legitimierte Herrscher die Treue zu schwören und zu dienen galt als besondere deutsche Tugend. Demokratie war verschrien als „Herrschaft des Pöbels“, als Aufstand der Unterprivilegierten. Die junge „Weimarer Republik“ schaffte es bekanntlich nicht, die Prinzipien der Demokratie dauerhaft durchzusetzen:

    Das Vertrauen in die Demokratie und die Republik sank ungebremst. Die Republik wurde für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich gemacht, zumal die Reichsregierung im Verlauf des Jahres 1930 mehrfach neue Steuern erhob, um die Staatsaufgaben erfüllen zu können. Die Rufe nach einem „Starken Mann“, der das Deutsche Reich wieder zu alter Größe und Ansehen bringen sollte, wurden lauter.
    Auf diese Forderungen gingen besonders die Nationalsozialisten ein, die mittels gezielter Propaganda und der Konzentration auf die Person Hitlers ein solches Bild der Stärke suggerierten.
    (Quelle: Wikipedia zur Weimarer Republik)

    Diese Erfahrungen führt nach Ende der Naziherrschaft in Deutschland bei den Müttern und Vätern des Grundgesetzes dazu, eine Reihe von Sicherungen einzubauen, wie z. B. die „Fünf-Prozent-Hürde“:

    Sinn einer Sperrklausel dieser Art ist es, eine Konzentration der Sitzverteilung herbeizuführen, um stabile Mehrheiten zu fördern. Kritiker meinen, dies widerspräche allerdings dem Gedanken der Demokratie und dem Grundgesetz (Art 38 Abs. 1 GG), nach dem das Volk bestimmt und jede Stimme den gleichen Wert haben muss. Eingeführt wurde sie in Deutschland nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, in der teilweise eine zweistellige Anzahl von Parteien im Parlament saß und es dadurch zunehmend erschwert worden war, eine tragfähige Regierungskoalition zu bilden. Die dadurch bedingte Situation trug angeblich mit dazu bei, dass die extremistischen Parteien am linken und insbesondere am rechten Rand der Gesellschaft verstärkten Zulauf erhielten
    (Quelle: Wikipedia)

  • Wenn der Präsident stirbt muss auch das Land bald am Ende sein
  • Wenn wir in den Aufzeichnungen dieser Generation lesen, dann hat diese Denkweise auch bei ihren Kindern, d.h. unserer Elterngeneration tiefe Spuren hinterlassen. Ein Beispiel: Als im April 1945 in Amerika Präsident Roosevelt stirbt und durch einen gewählten Nachfolger ersetzt wird, wurde dies von der deutschen Nazipropaganda als Beginn einer Niederlage des Feindes USA interpretiert, ohne Verständnis dafür, dass in einer Demokratie wie in den USA ein solcher Wechsel in der Staatsführung etwas ganz Alltägliches war. Immerhin brachte es Roosevelt auf vier Amtszeiten und wurde mit 12 Jahren als aktiver Regierungschef in der Geschichte nur von den 16 Amtsjahren (1982-98) Helmut Kohls überrundet.

  • Als der „Führerstaat“ kollabierte
  • Eine der eindrücklichsten Szenen im Spielfilm „Der Untergang“ zeigt Offiziere der Wehrmacht, die von Tod Hitlers erfahren hatte und nun in einem Bunker darauf warteten, dass russischen Soldaten hereinkamen. Welcher Befehl sollte dann ausgeführt werden? Alle Magazine in Richtung Tür leerschiessen und mit der letzten Kugel Selbstmord begehen. Ein Plan für ein Weiterleben ohne Führer war nicht vorgesehen. Selbständiges Denken und Handeln waren diese Befehlsempfänger nicht gewohnt. Sie kamen mir wie Kinder vor, die auf einem Spielplatz von ihren Eltern abgesetzt und nun vergessen worden waren. Das war 1945, also vor 61 Jahren. Demokratie musste erst gelernt werden in Deutschland, und die Abschlussarbeit zum Thema „Abstimmung mit den Füssen“ wurde in der friedlichen Novemberrevolution 1989 eingereicht.

  • Wie demokratisch ist Ihr Land?
  • Auf einer Studienreise in die Toskana verbrachte ich einen Tag in Florenz mit einem Amerikaner, einer Engländerin, einem Franzosen und einer Schwedin. Wir diskutierten angeregt über unsere Länder und kamen auf das Thema Demokratie zu sprechen. Jeder sollte, nach reiflicher Überlegung sagen, welchem der fünf Länder USA, Grossbritannien, Frankreich, Schweden und Deutschland er oder sie den höchsten Grad an „Demokratieverständnis“ zugestehen würde. Als Kriterium dafür galt für uns u. a. der mögliche Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die gelebte Meinungsfreiheit, die freie und kritische Presse, die Einflussmöglichkeit des Volkes ausserhalb von Wahlen etc.

    Das Ergebnis war erstaunlich: Jeder von uns legte ein eindeutiges Bekenntnis dafür ab, dass er sein eigenes Land als das demokratischste Land von allen halten würde. Lag es an der mangelnden Ahnung über das poltische System und die Gesellschaft in den anderen Ländern? Selbst der Amerikaner hielt die heimische Demokratie für die fortschrittlichste. Seit diesem Tag weiss ich: Demokratie ist eine äusserst subjektiv wahrgenommene Angelegenheit.