Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 12) — Motion ohne E-motion und Motzern

Mai 14th, 2008

(reload vom 22.12.05)
Wir lasen in unserem Standardwerk für die korrekte Schweizerdeutsche Schriftsprache, dem Tages-Anzeiger:

Motion fordert weitere Liberalisierung. (…)
Traktandiert ist eine Motion des Ständerates, zu der sich der Bundesrat positiv gestellt hat (Quelle🙂

Wir verstehen als ungebildete Deutsche mal wieder gar nichts, und müssen tief in unseren Lateinkenntnissen kramen: „Motion“ = Lateinisch für „Bewegung“. Wer oder was bewegt sich denn hier in der Schweiz? Geht das Volk auf die Strasse, als Volks-Bewegung? Hat sich der Ständerat gemeinschaftlich bewegt? So eine Art „Group Fitness Aerobic Aktion“ in Bern? Und der Bundesrat machte gleich voller Eifer mit? Es passieren rätselhafte Dinge im Bern dieser Tage.

  • Die Motion hat was mit Bewegung zu tun
  • Das englische Wort „Motion“ gebrauchen wir gewöhnlich nur in zusammengesetzten Formen, als „E-motion“ wenn wir von lauter Gefühlen stark bewegt sind, oder als „motion pictures“, wenn wir uns „bewegte Bilder“ im Kino anschauen. Motion hat was mit Bewegung zu tun.

    In der Sprachwissenschaft bedeutet es eine Veränderung in der Sexusmarkierung (Quelle Wiki:), auch der Duden äussert sich in dieser Richtung:

    Motion: ,-en (franz.). (Sprachw.) Abwandlung des Adjektivs nach dem jeweiligen Geschlecht;

    Doch leben wir zwar in der Heimat von Ferdinand de Saussures, der einst in Genf die allgemeinen Sprachwissenschaft begründet hat, aber eigentlich geht es hier um eine besondere Spezialität der Schweizer, nämlich der „Bewegung in der Politik“.

    Eine Motion ist in der Schweiz eine bestimmte Art von Parlamentarischer Vorstoss auf eidgenössischer, kantonaler oder kommunaler Ebene. Mit einer Motion verlangt ein Parlamentsmitglied von der Regierung, dass diese ein Gesetz oder einen Bundesbeschluss ausarbeitet oder eine bestimmte Massnahme ergreift. Dieser Auftrag ist zwingend, wenn ihm das Parlament zustimmt. Eine Motion kann vom Parlament in die abgeschwächte Form eines Postulats umgewandelt werden; allerdings nur mit dem Einverständnis des Motionärs respektive der Motionärin (Quelle:).

    Wohlgemerkt: Das mir niemand den „Motionär“ als „Motzer“ falsch ausspricht! Sowohl die Schweizer Motion als auch der Motionär werden im Duden würdig erwähnt:

    schweiz . fr. gewichtigste Form des Antrags in einem Parlament; der Motionär, -s, -e (schweiz. für jmd., der eine Motion einreicht)

    Da erspare ich mir doch lieber die übrigen Übersetzungen, die mir LEO für dieses hübsche Wort offeriert (Quelle Leo):

    Unmittelbare Treffer
    motion der Antrag
    motion Antrag bei einer Sitzung
    motion die Bewegung
    motion das Gesuch
    motion der Stuhlgang
    motion [tech.] das Treibwerk [Uhren]

    Mit Uhren hat es also auch etwas zu tun, nicht nur mit Stuhlgang. Obwohl Stuhlgang, war das nicht ein höfliches Wort für „Scheisse“? Sind Motionen auch dies? Müssen die Engländer und Amis denn alles so negativ sehen? Denken wir lieber wieder an ein Schweizer Uhrwerk, denn so sollte es in der Politik in Bern zugehen, bei diesen vielen Motionen. Da sind wir ja beruhigt.

    Bleibt die Frage: Warum sagen die eigentlich nicht einfach „Antrag“ in der Schweiz? Wegen der Kollegen aus der Westschweiz? Oder ist auch diesmal wieder Napoleon schuld, der mit Sicherheit dieses Wort in den Schweizer Politik-Wortschatz eingeführt hat? Immer diese Ausländer…

    Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 11) — Plauschen Sie auch so gern?

    Mai 9th, 2008

    (reload 18.12.05)

  • Plauschen beim Fondue
  • Die Schweizer treffen sich oft und gern zum „plauschen„. Ein „Fondueplausch“ ist die Gelegenheit für sie, gemeinsam Fondue zu essen und dabei zu plaudern. Das Wort „Plausch“ ist auch sonst häufig in Gebrauch:

    Wir finden in Google-Schweiz 175.000 Beispiele,

  • Hockey-Plausch:
  • Hier wird Hockey gespielt und nebenher ein Schwätzchen gehalten. Die Schweizer lieben Hockey und sind darin gleich so gut, dass sie dieses Spiel in mehreren Ausführungen spielen, welche man in Deutschland nicht alle kennt.
    a.) Iiis-Hockey (wir erinnern an die ISO-KWM = Eishockey
    b.) Uni-Hockey, auch „Floorball“ genannt, weil es in der Halle gespielt wird und der Ball Löcher hat, um die Luft durchzulassen.
    c.) Feld-Hockey, auf einem Rasenplatz möglich, nur bei gutem Wetter, sonst wird es eine Schlammschlacht.

    Plausch-Turnier: Hier wird dann um die Wette gequatscht bis der Turniersieger feststeht.

    Trotti-Plausch: Keine Ansammlung von Trotteln, die quatschen, auch keine grosse Diskussion auf dem Bürgersteig, dem „Trottoir„, sondern gepflegte Gespräche, die die Schweizer führen, während sie mit einem „Trottinette“= Roller oder Trettroller unterwegs sind. Die Dinger gibt es in der Schweiz auch motorisiert, und es werden regelmässig Rennen damit veranstaltet.
    Motortrotti Rennen
    (Quelle Foto: www.trotticlub.ch)

    Weissbier-Plausch: Hier reden Biere miteinander, bzw. sie treffen höchstwahrscheinlich ein paar Exil-Bayern an, die über ein Weissbier plauschen.

    Plausch-Olympiade: Und hier werden dann alle Disziplinen des Plausches als Wettbewerb angeboten, 100-Meter-Plausch, Plausch-Weitsprung, Plausch-Hochsprung etc.

  • Gerümpel aus dem Keller holen und damit spielen
  • Wir kennen aus dem Süddeutschen Raum das „Gerümpel-Turnier„, das in der Schweiz zum „Grümpel-Turnier“ mutierte. Wird bei diesen Turnieren erst der Keller gemeinsam vom Gerümpel befreit, bevor man entspannt eine Runde Fussball gegeneinander spielt? Nein, es ist eher das Gerümpel, das selbst auf dem Platz spielt. So wie die Leute aussehen und in Form sind, die da auf solch einem Turnier gegeneinander antreten, ganz ohne Ziel und Zweck, einfach nur aus Spass an der Freud.

  • Es streng haben
  • Und wenn es mal kein Plausch ist, den die Schweizer haben, dann greifen sie gleich in die Sado-Maso-Utensilienkiste und fragen: „Na, hast Du es auch streng gehabt„?
    Das erinnert an den „strengen“ Lehrer in der Schule, das „strenge“ Elternhaus, das uns immer daran hinderte, „über die Stränge zu schlagen„. Es ist sozusagen das absolute Gegenteil von „Plausch haben“: „Es streng haben„.

    „S’isch streng gsii“ würde ein Schweizer sagen, wenn er sich am Wochenende keine Ruhe, keinen Plausch gegönnt hat. Auch im Fitnessstudio wird nach einer Aerobic-Stunde, die nur noch „Group-Fitness“ genannt werden darf, über den Drillsergeant gesagt: „Der war jetzt mega streng„. Dabei konnte er garantiert auf die Peitsche beim Training verzichten. „Streng“ kommt für die Schweizer schlichtweg von „an-streng-end“ und hat mit Zucht und Ordnung, Rohrstock oder dem erhobenen Zeigefinger des Lehrers nichts zu tun.

    [Blogwiese macht Pfingstpause bis 13.05.08! Wir sind ein paar Tage in Berlin und hoffen da jede Menge ausgelassene Touristen aus der Schweiz „inkognito“ ablichten zu können, wenn sie dreist „Fröllein, ick krich noch nen Bier, aber zack zack“ brüllen. Kommt dann alles auf den Blog, Sie werden sehen!]

    Haben Sie sich schon mal speditiv verospelt? — Kreatives Neu-Schweizerdeutsch

    April 28th, 2008
  • Arbeitet jede Spedition in der Schweiz speditiv?
  • Während uns eine Spedition aus Deutschland her auch ohne „Ex-„ bekannt war, fehlte das dazu passende Adjektiv in unserem Wortschatz, bis wir es in der Schweiz speditiv erlernten. Die Schweizer lernen nicht nur gern, sie „lehren“ um so lieber, wenn sie „lernen“ meinen, und brauchen nicht einmal einen Lehrer dabei, es „lehrt“ sich ganz von allein hierzulande.

    Wir konnten es kaum glauben, aber das hübsche Schweizer Wörtchen „speditiv“ wurde tatsächlich noch nicht auf der Blogwiese besprochen, was wir jetzt speditiv nachholen möchten. Mickrige 4‘010 Fundstellen bei Google-DE im Vergleich zu 27‘100 bei Google-CH überzeugen uns, dass dieses Wort tatsächlich eine Schweizer Formulierung ist. Der Duden bestätigt diesen Verdacht:

    speditiv (aus it. speditivo „hurtig“, dies aus lat. expeditus „ungehindert“): (schweiz.) rasch vorankommend, zügig
    (Quelle: Duden.de)

  • Komm mal ‚urtisch rüber
  • Wir mutmassen und werweissen, dass bei den mehrsprachigen Schweizern, die sich sonst eher durch Bedächtigkeit und Langsamkeit auszeichnen, dieses Wort im Militär häufig Verwendung findet. Es wurde von den Tessinern und Westschweizern besser verstanden als „‘urtisch“, nehmen wir an.
    Sehr hübsch dazu diese Karikatur aus dem Tages-Anzeiger:
    Verospelt
    Text: Wir sind sehr froh um Marcels Hilfe. Er ist extrem speditiv wenn es darum geht, grosse Mengen in den Sand zu setzen.

  • Heute schon etwas verospelt?
  • Diese Zeichnung ist benannt mit dem neuen Schweizer Tätigkeitswort „verospeln“, das bereits in wenigen Wochen nach dem Rücktritt des Ex-UBS Chefs am 01.4.08 bei Google-CH auf 95 Fundstellen aufweist:

    VerOspelt: Ein Bilderberger oder nur als Söldner für den UBS- und Swissair-Ruin im EU-Auftrag der Bilderberger
    (Quelle: Weltwoche.ch)

    Nun hat er also Platz gemacht, um einer Problemlösung nicht im Wege zu stehen, und 40 Millionen für diese Hilfe bezahlt bekommen. Ob er das Geld der UBS als Anklagebank Anlagebank seines Vertrauens geben wird?

    Der Sturm, der Stürmer, das Gestürm – Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene

    April 24th, 2008
  • Den Sturm gibt es nicht nur bei Fussball
  • Der „Sturm“ ist das letzte Drama von Shakespeare, im englischen Original „the Tempest“ genannt. Der „Stürmer“ war eine Zeitung der Nazis, die ohne „t“ im Namen. Heute werden Sturm und Stürmer häufiger beim Fussball als im Theater oder im Wetterbericht angeführt. „Im Sturm spielen“ weist nicht auf ein Fussballspiel bei verdammt schlechtem Wetter hin, sondern meint die vordersten Angriffsreihen einer Fussballmannschaft. Auch wenn da Damen spielen, bleibt es doch eine Mannschaft, dann aber eine Frauenfussballmannschaft. Ein Sturm kommt gern auch mit Drang daher, dann zusammen im „Sturm und Drang“. Bevor der Sturm das Äquivalent einer Kompanie bei der SA oder SS wurde, war er noch eine expressionistische Zeitschrift (1910 – 1931) .

  • Was ist ein Gestürm?
  • Soviel Sturm und soviel Stürmer, doch was ist ein „Gestürm“? Wir lasen davon in unserer sprachwissenschaftlichen Hauspostille, dem Tages-Anzeiger:

    «Viele Gemeindepräsidenten drohen, dass sie aus der Partei austreten und parteilos werden, wenn das Gestürm weitergeht», so Siegenthaler.
    (Quelle: Tages-Anzeiger 22.04.08)

    Es geht in dem Beitrag um die SVP-Diskussion. Frau Bundesrätin Evelyn Widmer-Schlumpf soll aus der Partei ausgeschlossen werden, bzw. die Bündner SVP soll aus der Schweizer SVP ausgeschlossen werden, wenn die Bündner SVP nicht Frau Widmer-Schlumpf ausschliesst, weswegen die Berner SVP sich dazu entschliesst, den Parteiausschluss nicht gutzuheissen, weswegen sie unter Umständen auch aus der Partei der Schweizer SVP (was soviel wie Schweizer Volkspartei heisst) ausgeschlossen wird, was nicht ganz ausgeschlossen ist, denn ausschliessen kann man alles und doch nichts.
    Doch zurück zum Gestürm:
    Der Duden sortiert das präzise ein:

    Gestürm, das; -[e]s (schweiz. mdal. für aufgeregtes Gerede, Getue)
    (Quelle: duden.de)

    734 Funde bei Google-CH sehen viel aus, aber gleich viel findet sich bei Google-DE. Also auch in Deutschland bekannt, wenn auch nicht so beliebt.

  • Ist Gestürm Juristendeutsch?
  • Wir finden dazu die Erklärung im „Deutschen Rechtswörterbuch“, zusammen mit zwei Belegen aus dem Jahr 1440 und 1498. Ist ja schon ein Momentchen her:

    Gestürm
    Erklärung: Kampf, Getümmel, Unruhe.
    * Belegtext: so eine gestorme oder offlauf worde fuwers oder ander sachen halp Datierung: 1440 Region/Autor/Textsorte: Landau Fundstelle: DWB. IV 1, 2 Sp. 4268
    * Belegtext: es sol mengklich still in der statt sin … uff das, was sich von gestúrm oder notturftigem geschreyg oder gerueff erhuob, das man solich gehoeren und sich des daruff gehalten mag Datierung: 1498 Fundstelle: BruggStR. 107
    (Quelle: Deutsches Rechtswörterbuch Heidelberg)

    Drum machen wir weiter kein grosses Gestürm und beobachten unter Ausschluss jeglichen Kommentars weiterhin ausschliesslich die Ausschlüsse der Ausschüsse der SVP.

    Komm gibt mir deine Hand — Kann man mehr als Hand bieten?

    April 22nd, 2008
  • Bieten Sie auch Hand?
  • Der Song „I want to hold your hand“ ist von den Beatles auch auf Deutsch eingespielt worden. „Komm gibt mir deine Hand“, und auf der Rückseite noch „Sie liebt mich, ja ja ja“.
    Die Hand geben, ja, das ist eine freundliche Geste zur Begrüssung, mit der wir anzeigen, dass wir die Waffen abgelegt haben, also freundlich gesinnt daher kommen. Die Hand „bieten“? Das war uns neu, das lernten wir erst in der Schweiz kennen.

    Hand bieten
    (Quelle Foto: Turn Till Burn Medicine)

  • Ich biete Dir Hand
  • Es heisst nicht „Ich biete Dir EINE Hand“, oder „Meine Hand“, nein, einfach nur „Hand bieten“, was sicherlich von „anbieten“ abstammt, auch wenn wir dabei an Versteigerungen denken müssen, welche in der Schweiz als „Gant“ gelten, auf denen man „ganten“ kann, per Hand die bietet.
    Hier zwei Beispiele aus dem Internet:

    Wo wir aber keine Hand bieten, ist ein Modell bei dem 14-jährige ins Gefängnis gesteckt werden, in der Annahme, diese Jugendlichen änderten sich dann dort von selbst
    (Quelle: newsbot.ch )

  • Jetzt echt Hand bieten
  • Auch eine Kommentatorin der Blogwiese verwendete diese Formulierung:

    Irgendwann werden uns Engpässe zu höherem Stellenwert des Recyclings zwingen. Danke allen, die schon jetzt echt Hand bieten.
    (Quelle: Kommentar auf der Blogwiese)

    Bevor uns Phipu wieder bei der Grimm-Recherche abhängt, hier noch schnelle die passende Stelle:

    die hand wird gegeben, gereicht, geboten, ergriffen zur begrüszung und zum empfange als symbol der vereinigung: eya, tund auf, tund uff dem zarten ewer herczen, bietend im die hand. SUSO briefe 35 Preger; zu hofe gibt man viel hände und wenig herzen. SCHOTTEL 1133b; er reichte seinem schwiegervater stillschweigend die hand. IMMERMANN Münchh. 3, 30; auch beim abschiedsgrusze:
    (Quelle: Grimms Wörterbuch)

  • In Deutschland wird nur alles aus einer Hand geboten
  • Eine Hand kann man also geben, dar gereicht, ergreifen, und sie kann „geboten“ werden. Das deutliche „Hand bieten“ hatten wir in Deutschland bisher nicht vernommen. Auf einer Versteigerung wird mit der Hand geboten, aber niemand „bietet Hand“. Das machen die Schweizer, wenn sie helfen wollen. Kurz und knapp. In Deutschland kann man „etwas aus einer Hand bieten“, aber das ist etwas anderes. „Hand bieten“ ist schweizerisch, diesmal ganz eindeutig. Viele Fundstellen bei Google-CH belegen es:

    Eine wahre Zukunftspersektive für die Marke Schweiz ergibt sich nur, wenn die Wirtschaftsteilnehmer zu klaren Regeln Hand bieten, die von Produzenten und Konsumenten mitgetragen werden
    (Quelle: ejpd.admin.ch)

    Oder hier:

    Zuhören, weiterhelfen und Hand bieten
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Und was lernen wir daraus? Biete mir Hand und ich schlag zu. Oder doch lieber ein?