Wer ist Germane? Wer ist Schwabe?

März 30th, 2011

(reload vom 7.05.07) (und morgen ist heute)

(hier der dritte Teil des Artikels von Ingomar König aus Hanover)

  • „Germanen“, „Schwaben“
  • Ihr betitelt Eure nördlichen Nachbarn gerne als Germanen oder Schwaben. Germanen? Die seid Ihr auch. Schwaben? Soweit mir bekannt, hat noch kein Eidgenosse abgestritten, Alemanne zu sein (von der lateinischen Schweiz abgesehen). Ihr wisst selbst, dass „Schwaben“ (lateinisch Suebi) die eigentliche Selbstbezeichnung, „Alemannen“ die Fremdbezeichnung ist. Suebi, id est Alamanni. Was schliessen wir daraus? 90% der Bewohner Deutschlands sind keine Schwaben, Ihr dagegen seid zu 100% Schwaben. Ihr seid diejenigen Sueben/Schwaben/Alemannen, deren Vorfahren sich in Helvetien eingenistet haben.

    Nebenbei bemerkt schmückt Ihr Euch mit fremden Federn, indem Ihr den Namen jenes von den Römern und Euren Ahnen ins historische Jenseits beförderte keltische Volk usurpiert habt und zur kanzleilateinischen Bezeichnung Eures Gemeinwesens als Confoederatio Helvetica missbraucht. Dass sich im sogenannten Schwabenkrieg pro-habsburgische Landsknechte vom Nordufer des Hochrheins und des Bodensees („Sauschwaben“) und eidgenössische Reisläufer aus den Waldstätten in Diensten Berns und Zürichs („Kuhschweizer“) einander gegenüberstanden, ändert nichts daran, dass, abgesehen vom Tiroler Anteil, beide Söldnerheere aus „ethnischen“ Schwaben bestanden bzw. die „Kuhschweizer“ ebenfalls „Sauschwaben“ waren.

  • Die waldstättischen Eidgenossen
  • Als die Gentiloberhäupter der Schwyzer, Urner und Unterwaldner von nid dem Kernwald ihren legendären Eid schworen, wollten sie da aus dem Reich austreten? Nein, sie hatten sich nach alter Germanensitte auf ihrem Thing, einem gerodeten oder „gereuteten“, von ihnen „Gereutlein“ bzw. „Reutlein“, in alemannischer Version „Grütli“ oder „Rütli“ genannten Stückchen Land versammelt, um ihre bornierten Lokalinteressen gegen die Aussenwelt, vertreten durch die aargauischen Habsburger, zu verteidigen. Dies hinderte sie keineswegs daran, sich unter die Fuchtel der Luzerner, Zürcher, Berner, später der Basler und Schaffhäuser Patrizier zu begeben, die ihrerseits die fröhlich-germanische Rauflust der Waldstätter dazu nutzten, eigene Streitigkeiten mit den Habsburgern von den Waldstättern ausfechten zu lassen. Die Romands liegen schon ganz richtig, wenn sie die Waldstätter als „ces Vickings de 1291, „ces bandits“ und „de parfaits crétins“ bezeichnen (Jean-Marc Heuberger in: autre-suisse.ch).

  • Die Waldstätte, ein Hort ursprünglicher Demokratie und Freiheit?
  • Die Urner, Unterwaldner (und Zuger), die 1495 den Beitritt von Konstanz zur Eidgenossenschaft verhinderten, um den Thurgau von „jüdischer Zinsknechtschaft“ zu erlösen: Demokraten? Gegen wen wurde die Freiheit verteidigt? Gegen den habsburgischen Landvogt, obwohl die Ur-Eidgenossen anschliessend 300 Jahre lang das ennetbirgische Tessin durch Landvögte selbst unterjochten? Gegen die Habsburger, die ihnen 1291 Modernität und Zivilisation gebracht hätten? Gegen die Habsburger, deren Allianz die Sonderbündlinge 556 Jahre später genau in dem Moment suchten, als jene apostolische Dynastie längst abgehalftert und eine Bastion des Mittelalters war? Diese waldstättischen Patriarchen, die sich „im Laufe der Jahrhunderte durch Beknechtung des Geistes und durch ein engherziges Magnatenregiment zu Jesuitenknechten“ erniedrigen ließen, so die NZZ 1847, diese Männer waren „Freiheitskämpfer“? Die Tagsatzung konnte 1847 gar nicht anders, als im Interesse einer modernen, sich industrialisierenden Schweiz kurzen Prozess mit den wirklichen Eidgenossen zu machen und den Rütli-Mythos rücksichtslos zu entzaubern – übrigens zum äussersten Missfallen zeitgenössischer Spiesser in Deutschland.

  • „Deutsche“
  • Bekanntlich gingen die Städte und freien Bauerngemeinschaften im alten deutschen Reich häufig ein Bündnis mit dem römisch-deutschen Kaiser ein, wenn sie dessen Konkurrenz zu den Landesherren ausnutzen konnten. Auch die Luzerner, Berner und Zürcher Patrizier und die bäuerlichen Eidgenossen hatten immer die Stärkung der Zentralgewalt des Reiches im Sinn, weil nur die Zentralgewalt den Patriziern den politischen Rahmen zu wirtschaftlicher Entfaltung bot, den waldstättischen Sippenpatriarchen die Möglichkeit, ihre störrische germanisch-christliche Rückständigkeit zu pflegen. Als jedoch die Habsburger die Kaiserkrone erlangt hatten und Eure Territorien als Teil ihrer Hausmacht reklamierten, als die Habsburger Reichszentralgewalt und Landesherr in Personalunion geworden waren, war für Patrizier und Eidgenossen der Bock zum Gärtner gemacht. Dialektik der Geschichte: Gerade weil das alte Deutsche Reich von Schweizern (im heutigen Sinn) beherrscht wurde, blieb der Schweiz (im heutigen Sinn) nichts anderes übrig, als – gegen ihren eigentlichen Willen – die „Exemtion“ vom Reich durchzusetzen.

    Folgerichtig bezeichneten sich die Unterzeichner des Friedens zu Basel weiterhin als die „Gemeinen Eidgenossen von Städten und Ländern des alten Bundes oberdeutscher Lande“, in dessen französischer Fassung der Bund als „Oberdeutschland“ bezeichnet wird (la vieille ligue de la Haut-Allemagne) – genauer gesagt handelte es sich natürlich nur um einen Teil von Oberdeutschland. Auch der Basler Schultheiss Johann Rudolf Wettstein, der die endgültige Freistellung vom Reich durchsetzte, fungierte in den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden als Vertreter der „13 Orte des alten Grossen Bundes Oberdeutscher Lande“ – auch wenn nicht alle Orte hinter ihm standen.

    Die „oberdeutschen“ Bündnispartner dachten doch nicht im Traum daran, wegen der umständehalber gebotenen Sezession keine Deutschen mehr im Sinne von Sprache, Kultur, Handelsverbindungen, Mentalität, Sitten und Gebräuchen sein zu wollen; sie dachten nicht im Traum daran, sich vom Rest des Reiches oder gar von ihren alemannischen Stammesbrüdern jenseits von Hochrhein und Rheintal sprachlich, mental oder wie auch immer „unterscheiden“ oder „abgrenzen“ zu wollen; allein die habsburgische Staatsmacht war Objekt ihrer Opposition, doch nicht „das Reich an sich“. Nie hatten sie sich als „Kolonie“ des Reiches gesehen, gegen das ein Kampf für „nationale“ Unabhängigkeit hätte geführt werden müssen.

    (Vierter und wirklich letzter Teil morgen: Die Schweizer sind Deutsche)

    Worüber die Schweizer lieber schweigen — Sind Sie auch vermöglich?

    März 8th, 2011

    (reload vom 2.5.07)

  • Ich mag mich nicht erinnern
  • Mögen Sie sich noch erinnern? Oder lieber doch nicht? Wir schrieben hier auf der Blogwiese über den Ausdruck „magst Du Dich erinnern?“ und kamen zu dem Schluss, dass es hier weniger um „mögen“ im Sinne von „etwas gern tun“ als um die Kurzfassung von „vermögen“ = „in der Lage sein etwas zu tun“ ging.
    Doch dieses hübsche Wort beinhaltet noch eine weitere Bedeutung als Adjektiv, die uns bisher fremd war, und auf die wir erst durch eine Leserin der Blogwiese gestossen wurden: „vermöglich sein“.
    So fanden wir in der NZZ:

    «Erben? Ich habe einen wertvollen Schrank und die schöne Bibliothek meines Vaters geerbt. Beides halte ich in Ehren. Dann hat mir ein väterlicher Freund, der recht vermöglich war, testamentarisch zwei Bilder vermacht.
    (Quelle: nzzfolio.ch)

    Unser Duden nennt es eindeutig „schweizerisch“:

    1. vermöglich ( landsch. und schweiz. für wohlhabend)
    (Quelle: duden.de)

  • Vermögliche Menschen gibt es auch in Österreich
  • Wir fanden einen Beleg für das Wort auf einer Österreichischen Webseite, die die Geschichte des Wiener Praters erzählt:

    Der Kaiser fragte, was er für eine Entschädigung begehre. „Ich bin selbst vermöglich„, antwortete der Bürger, „und verlange bloß, daß der Übermütige einen derben Denkzettel in öffentlicher Beschämung erhalte, damit andere seinesgleichen den Bürger besser schonen.“
    (Quelle: prater.at)

    Wahrscheinlich war mit „landschaftlich“ die Wiener Luft gemeint.
    Doch das Wort wird offenbar auch als Variante zu „wohlmöglich“ verwendet:

    Wenn Du die Dinge jetzt überstürzt, wirst du sie vermöglich vergraulen.
    (Quelle: f24.parsimony.net)

  • Was heisst „vermöglich“ sonst noch?
  • Dann doch lieber Gotthelf:

    Das ist ein eigen Kapitel über diese Krankheit, die alle mehr oder weniger ergreift, die zu einigen eigenen Kronen kommen und denen der Gedanke geboren worden ist, vermöglich zu werden.
    (Quelle: Jeremias Gotthelf – Wie Uli der Knecht glücklich wird / 11. Kapitel – 1)

    Das Wort überlebte offensichtlich in der Bedeutung „vermögend sein“ am besten in der Schweiz. Bei Grimm Grimm steht es noch so erklärt:

    VERMÖGLICH, adj. fähig fertig zu bringen, zu vollenden. in der ältern sprache nicht nachgewiesen, jedoch in den frühesten zeiten des nhd. nicht selten vorkömmlich. (…)
    active bedeutung ‚der etwas vermag‘, daher körperlich kräftig, rüstig: die schwarze nieszwurz soll nur allein starken und vermöglichen personen eingegeben werden. TABERNAEMONT. kräuterb. 1099; es war unmöglich genug, vermögliche säugammen für ihn auszzutreten, inn betrachtung der groszen quantität milch, so zu seiner narung auffgieng. Garg. 210 (1590). übertragen auf dinge und zustände: der mensch war gemacht mit gsundem und vermöglichem leibe.
    (Quelle: Grimms Wörterbuch)

    Genug der Wortgrübelei. Wir vermögen uns über vermögliche Menschen und deren Vermöglichkeit unmöglich weiter Gedanken zu machen.

  • Vermögliche Landsauger in Bern
  • Zum Abschluss ein Ausschnitt aus einem wunderbaren Artikel über die Geschichte des Strafvollzugs in Bern, genauer gesagt über das „Schallenwerk“ genannte Zuchthaus:

    Mit dem um 1615 errichteten Zuchthaus zeichnete sich zwar kein Durchbruch im Sinne einer humaneren Justiz ab, aber es gab doch erste Ansätze zu einer etwas verständnisvolleren Haltung gegenüber Tätern, denen nur leichtere Vergehen zur Last gelegt wurden. Neu war vor allem der Versuch, die Häftlinge durch Arbeit und geistlichen Zuspruch zu bessern und sie wieder gemeinschaftsfähig zu machen. Dabei wurde allerdings nach wie vor nicht zimperlich vorgegangen, sondern gemäss den Richtlinien des Rats gehandelt: «(Im Zuchthaus) sollen solche arbeitsfähige, muthwillige, vermöglich fremde und einheimische Landsauger und andere Malefikanten, denen man eben nicht an das Leben greifen kann, zur Arbeit angefesselt, und ihnen dadurch der Rücken weich und gleitig gemacht worden, in der Hoffnung, dass vermittelst dieser schweren und harten Disciplin und Züchtigung Jedermann sich abschrecken lasse und sich ehrlicher Begangenheit und Arbeit befleissen werde.»
    (Quelle: g26.ch)

    Praktisch eingesetzt wurden diese dann in der Strassenreinigung, die bitter notwendig war. Denn während man Rücken „gleitig“ machen wollte, waren die Strassen bereits „gleitig“ genug, auf Grund der dort ausgeleerten Nachttöpfe etc. Die hiessen damals allerdings garantiert „Pot de chambre“, so nahe am Röstigraben, denn das klingt feiner und stinkt gleich ein bisschen weniger.

    Nachttopf mit cooler Inschrift
    (Quelle: freilichtmuseum.de)

    Wir weisen besonders auf die hübsche Inschrift: „Drum drücket und drängend mit aller Kraft für die notleidende Landwirtschaft“. Denn merke: „Urin ist ein Wertstoff“! Mehr zu diesem Thema hier und hier.

    Wer will schon in den Europa-Park? Die Rhätische Bahn ist besser als Achterbahnfahren

    Januar 14th, 2011

    (reload vom 17.4.07)

  • Wie lange gilt Ihr Halbtax-Abo?
  • Die Schweizer lieben ihr Eisenbahnnetz. Fast jeder besitzt ein Halbtax-Abonnement, mit dem man zwar nicht billig halbe Taxis fahren oder die Kur-Taxe auf die Hälfte drücken kann, dafür aber nur die Hälfte zahlt, wenn man mit dem Zug fährt. Bei zugezogenen Deutschen lässt sich die Zuneigung zur Schweiz und der echte Wille zum Verweilen leicht daran ablesen, ob sie sich nach einiger Zeit der Eingewöhnung schliesslich ein 1-Jahres, 2-Jahres oder sogar ein 3-Jahres- Halbtax-Abo zugelegt haben oder nicht. Je länger das Abo gilt, desto mehr kostet es zwar in der Anschaffung, desto billiger wird es gleichzeitig – über den Zeitraum gerechnet – damit zu fahren, und desto sicherer muss man sich dann auch sein, hier in der Schweiz zu bleiben und diese Verbilligung gut auszunutzen.

  • Mit dem GA täglich von Basel nach Zürich (und zurück!)
  • Ganz vom Hierbleiben Überzeugte schaffen ihr Auto ab und gönnen sich ein „GA“ = General-Abonnement, eine Netzkarte für die ganze Schweiz. Ab 60 Minuten Bahn-Pendelzeit jeden Tag ist das in der Regel die günstigere Variante. Die vielen Zürich-Fans, die täglich aus Basel anreisen um ihre Traumstadt zwecks Arbeit oder Studium an der ETH zu besuchen, haben oft so ein GA, doch bei ihnen stehen die Buchstaben für „G-leich A-bdampfen“, wenn das Tagwerk erledigt oder das letzte Seminar vorbei ist. (Zur ewigen Freundschaft zwischen Basel und Zürich siehe hier).

  • In Chur ist das Ende der SBB
  • An einem Ferientag im Sommer fuhren wir früh mit dem Direktzug von Bülach nach Chur. Dort in Chur ist das Normalspur Streckennetz der Schweizer Bundesbahn SBB zu Ende. Alle Fernzüge enden hier. Wer weiter will, muss auf die „Rhätische Bahn“ wechseln, die auf einer anderen Spurweite fährt. Zum Beispiel direkt ab Bahnhofsvorplatz, quer durch die Churer Innenstadt auf der Strasse wie eine Strassenbahn, hoch ins Ski- und Wanderparadis Arosa:

    Die ChA-Strecke beginnt auf dem Churer Bahnhofplatz und ist auf Stadtgebiet als Strassenbahn trassiert. Danach verläuft das Trasse, über viele Kunstbauten, weitgehend zum parallel verlaufenden Flusslauf. Das imposanteste Bauwerk ist das Langwieser Viadukt bei Langwies. Für die knapp 26 Kilometer lange Strecke benötigt die Bahn rund eine Stunde und erreicht dabei ein Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h. Bedient wird die Strecke von Chur nach Arosa im Stundentakt.
    (Quelle: Wikipedia)

  • Bauen Künstler die Kunstbauten?
  • Kunstbauten“ heissen die Bauwerke nicht, weil hier besonders viel „Kunst am Bau“ zu sehen ist, sondern weil es eine Kunst ist, diese Dinger zu bauen. „Kunstbauten“ nennen Ingenieure in der Schweiz alle Bauwerke, die keine Toilette oder Lichtschalter haben. In der Regel sind das Brücken und Tunnel (in denen das Licht auch am Tag angeschaltet bleibt).

    Welche Achterbahn ist schon 62 Meter hoch?
    Langwieser Viadukt
    (Quelle Foto: Wikipedia)

  • Bewegung, Dunkel und Nass — die drei Elemente des Europa-Parks
  • Die zahlreichen Tunnel und spektakulären Viadukte auf dieser Strecke von Chur nach Arosa erzeugen bei den Fahrgästen einen gleichwertigen Nervenkitzel wie eine Achterbahnfahrt im Europa-Park bei Rust. Während des Studiums hatte ich dort einen studentischen Hilfsjob. Wir befragten die Besucher woher sie kamen, was ihnen besonders gefiel etc. Ein Mitarbeiter des erfolgreichen Themenparks erklärt mir damals das Grundprinzip der Fahrattraktionen. Es gibt nur drei Elemente, die man miteinander kombinieren kann: Bewegung, Dunkel und Nass.

    Im halboffenen Bahnwagen der Rhätischen Bahn von Chur nach Arosa sind die Sinneseindrücke sehr ähnlich, die Elemente „Bewegung“ und „Dunkel“, mit denen in Rust geschickt operiert wird, sind vorhanden. Das fehlende dritte Element „Nass“ kann man sich leicht selbst verschaffen, wenn man die Strecke im Regen antritt oder im Hochsommer ab und zu eine Wasserflasche über die Köpfe der mitreisenden Fahrgäste ausleert. Am besten im Tunnel, dann sieht es keiner und die Kombination „Dunkel&Nass“ ist gelungen, wie bei der Wildwasserbahn. Arosa selbst ist übrigens berühmt für die zahlreichen handzahmen Eichhörnchen, die dort speziell für die vielen Sommer- und Wintertouristen abgerichtet und freigelassen wurden. Vorsicht, es handelt sich hier um lebendige Tiere, und nicht um ausgestopfte und animierte Attrappen wie im Europa-Park.

  • Alle Züge fahren ab Chur
  • Wer von Chur hingegen zurück nach Zürich oder in die übrige Schweiz auf der „Normalspur“ reisen möchte, kann ruhig 10-15 Minuten vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof auftauchen, denn die abgehenden Züge der SBB sind meistens bereits dort und warten. Wo sollten sie auch sonst hin?

    (zweiter Teil morgen: „Durch die Surselva“)

    Wenn die Schweizer den Rauch reinlassen — Bächteln in Bülach

    Januar 2nd, 2011

    (reload vom 2.1.06)

  • Bächtelis kommt nicht von bechern
  • Heute feiern die Bülacher im Zürcher Unterland „Bächtelis“ mit „Bächtelswurst“ und „Bächtelsweggen“. Nun gibt es zwar einige Bäche, die durch Bülach fliessen und die gelegentlich im Sommer bei einer „Bachputzete“ gereinigt werden, aber in die Bäche von Bülach steigt heute niemand. Klanglich ist das Wort „bächteln“ eher mit dem Wort „bechern“ verwandt. In Bülach ziehen beim Bächteln Musikgruppen von Kneipe zu Kneipe und spielen auf, ähnlich wie man das von den Fasnachtcliquen in Bern oder Basel kennt, und dabei wird natürlich ordentlich gebechert. Hier das Programm für den heutigen Tag:

    Bächtelen in Bülach

  • Berthold von Zähringen kann nichts dafür
  • Es gibt wenige Tage im Jahr, an denen man sich als Deutscher in der Schweiz darüber von Herzen freut, nicht mehr im grossen Kanton zu leben, sondern von den echt Schweizerischen Feiertagen zu profitieren. Dazu zählen neben dem 1. August natürlich der verlängerte Start ins neue Jahr mit dem „Berchtoldstag“ am 2. Januar. Aber wie heisst er eigentlich richtig? Kaum ein Feiertag bringt es auf eine so stattliche Anzahl von Namen: Bechtelstag, Bechtle, Bechtelistag, Berchtelistag, Bächtelistag, Bärzelistag.

    Der Name Berchtold erinnerte uns zunächst an das alte Geschlecht der Zähringer, denn „Bertold von Zähringen“ gründete bekanntlich neben Bern, Thun, Murten und Fribourg auch Freiburg im Breisgau, unseren letzten Wohnort in Deutschland. Nur hatte der kein „ch“ im Namen und einen heiligen „Berchtold“ gibt es auch nicht im Kalender.

  • Frau Holle und die wilde Perchta
  • Der Berchtoldstag hat einen heidnischen Ursprung und geht auf die altgermanische Dämonin „Perchta“ hin, die es bis in die Märchen der Gebrüder Grimm als Frau Holle geschafft hat. Bächtele, Berchten bedeutet „heischen, verkleidet umgehen und schmausen”; man glaubt, dass die Perchta, eine altgermanische Dämonin war, die zu Wotans Wildem Heer gehörte, mit diesem in den “Zwölf Nächten” oder “Rauhnächten”, den dunkelsten des Jahres, ihr Unwesen trieb. In vielen Bräuchen hat sich ihr Andenken erhalten, wenn sie z. B. beim „Perchtenlauf“ nachahmend gebannt wird. Schrecklich vermummte Gestalten toben durch die Nacht und müssen mit Gaben, die sie einfordern, besänftigt werden. So ziehen im aargauischen Hallwil und in anderen Ortschaften der Schweiz an diesem Tag die „Bärzelibuebe“ als schaurige Maskengestalten durchs Dorf. Auch der bis vor kurzem allgemein lautstark und mit zerstörerischem Schabernack gefeierte Schulsilvester ist davon ein Abbild.

  • Die rauen Nächten sind rauchig
  • Der Berchtoldstag findet mitten in den Rauhnächten statt, heisst es. Ob das besonders kalte und raue Nächte sind? Nein, es kommt vom „Rauch“, vom „Weihrauch“, mit dem man im Mittelalter die bösen Geister zu vertreiben suchte. „Den Rauch reinlassen“ sagt man heute noch, wenn man das Böse vertreiben möchte. So berichtet eine andere Quelle:

    „Unter den 12 Rauhnächten verstand man die Zeit zwischen dem 24. Dezember und den 6. Jänner. Sie war charakterisiert durch eine besondere Andacht und Arbeitseinschränkung. Die Zeit galt als besonders heilig, gleichzeitig war es eine Zeit, in der vermehrt Bräuche stattfanden.“

  • Das kleine Rauchopfer und zu Aldi nach Jestetten
  • Heute wird nur noch ein “kleines Rauchopfer” gefeiert, wie es der Chinese im Roman “Briefe in die Chinesischen Vergangenheit” von Herbert Rosendörfer bezeichnet. Gemeint hat er damit allerdings das Abbrennen von Zigaretten.
    War dieser Tag im Kanton Zürich bis vor kurzem noch der traditionelle Ausflugstags zu Aldi nach Jestetten, um dort die schlechte Qualität der angebotenen Ware persönlich in Augenschein zu nehmen und auf dem Parkplatz endlich den Nachbarn zu treffen, den man so lange schon nicht mehr gesehen hat, so ist diese Sitte in 2007 aus der Mode gekommen, weil jetzt auch hier zahlreiche Einkaufszentren an diesem Tag geöffnet sind.

    Warum die Schweizer so anders sind — Neue Theorien über die Menschen aus den Bergen von Ursus und Nadeschkin

    August 23rd, 2010

    (reload vom 6.3.07)

  • Sprachkünstler in Deutschland unterwegs
  • Unsere Schweizer Lieblingskünstler, genauer gesagt „Sprachkünstler“, Clowns, Comedians, Artisten und Makramee-Spezialisten „Ursus & Nadeschkin“, die im wahren Leben Ursus Wehrli und Nadja Sieger heissen und niemals einzeln und unabhängig voneinander genannt werden dürfen (denn sonst gibt es postwendend Post von Nadja), tourten 2007 durch Deutschland mit der Hochdeutschen Fassung ihres Programmes „Weltrekord“ (aktuelle Termine siehe hier).

  • Doch manchmal voneinander isoliert
  • Isoliert tritt Nadja Sieger regelmässig bei der Schweizer Version von „Genial Daneben“ auf, und Ursus ist im Nebenberuf ein begnadeter „Kunstaufräumer“. Er hat schon zwei Werke zum kunstgerechten Aufräumen von Kunst herausgebracht. Echt aufgeräumt. So schrieb BR-Online über ihn:

    Wehrli verhilft Klassikern wie Klee, Picasso oder Jawlenski zu einer neuen Übersichtlichkeit und gestaltet sie Platz sparender und übersichtlicher. Die Ergebnisse können sich in Originalität und Ästhetik durchaus mit ihren „unordentlichen“ Vorbildern messen und begeistern Kunstliebhaber wie Kunsthasser gleichermaßen – und diejenigen, die Kunst nicht nur ernst nehmen, sowieso.
    (Quelle: br-online)

    Ursus und Nadeschkin in Köln
    (Ursus und Nadeschkin, Foto von Geri Born)

  • Die Berge machen bescheiden
  • Während der Tournee führte Marianne Kolarik ein Gespräch mit Ihnen, das am 08.02.07 im Kölner Stadtanzeiger veröffentlicht wurde. Hier ein paar Auszüge daraus:

    KS: Sie kommen aus der Schweiz, einem, wie manche meinen, fremden Kulturkreis.
    URSUS: Deutschland und die Schweiz liegen so nah beieinander, aber man weiß wenig voneinander. Ein Deutscher fährt im Urlaub vielleicht in die Südschweiz, aber ein Schweizer geht nie nach Deutschland. Wieso auch?
    (Quelle für dieses und alle weiteren Zitate: ursusnadeschkin.ch)

    Mit der „Südschweiz“ meint Ursus das Tessin, welches der deutsche Normalo auf dem Weg zur billigen Küste in Italien möglichst rasch durchfährt, nicht ohne noch rasch die Ozonwerte im Levantino hochzuschrauben und bei der Durchfahrt durch den Kanton Uri zu hoffen, das ihm kein Felsen aufs Dach knallt.

    NADESCHKIN: Wenn Schweizer nach Berlin fahren, bleiben sie meistens da. Weil Deutschland und Italien so verschieden sind, glaubt man, dass die Schweiz weniger verschieden ist.

    Stimmt, uns fallen ganz spontan ein paar Schweizer ein, die in Berlin hängengeblieben sind oder zumindestens eine Zeit dort blieben. Neulich erzählte mir eine Schweizerin, wie laut sich Schweizer Touristen mitunter in der Berliner S-Bahn aufführen, lautstark auf breitestem Berndeutsch über die nächste Sehenswürdigkeit diskutierten, in totalen Gefühl der Sicherheit, sowieso von niemanden dort dabei verstanden werden zu können. Auch Thomas Bohrer und Roger Schawinski sind in Berlin, nach Ende ihrer Amtszeit bzw. Kündigung des Vertrags, hängengeblieben. Kennen Schweizer eigentlich auch Städte wie Frankfurt oder Stuttgart, Dortmund oder Bremen?

    KS: Worin besteht denn der Unterschied zwischen den Ländern?
    NADESCHKIN: Wenn der Schweizer ein Bier bestellt, sagt er: „Entschuldigung, ich hätte gerne ein Bier.“ Der Deutsche sagt: „Ich krieg’n Bier.“ Deutsche befehlen.
    URSUS: Deswegen haben es die Deutschen in der Schweiz nicht leicht, weil jeder denkt: „Was ist das denn für ein arrogantes Arschloch?“ Dabei meint der Deutsche das gar nicht so.

    Nee, der hat Durst, und darum sagt er das auch. Kurz und präzise und direkt. Der Keller wird nicht fürs Quatschen bezahlt, oder fürs Zuhören. Und die Bierchen sind auch gleich immer wieder leer, wenn man in Köln ist und aus Reagenzgläsern trinkt. Da ist Eile geboten beim Nachbestellen.

    NADESCHKIN: Die Schweiz ist nicht größer als Bayern und hat vier Sprachen. Wenn einer aus den Bergen rätoromanisch spricht, versteht er die Menschen in Zürich schon nicht. Es gibt immer hundert Ansichten, aber nie eine Einigung. Wir müssen immer erst einen Tunnel bauen und können nicht wie in Deutschland direkt losfahren. In der Schweiz muss man immer Umwege machen. Das ist symptomatisch für die Bevölkerung. Deswegen haben es Neuerungen viel schwerer als die alten Angewohnheiten.

    So wie die Aufbewahrung des Teppichklopfers im heimischen Kleiderschrank? Diese alte Gewohnheit darf nie abgeschafft werden, wir erinnern daran. Das mit den vier Sprachen in der Schweiz wussten wir auch noch nicht. Gemeint war doch jetzt bestimmt der Kanton Graubünden für sich, oder?

    KS: Was ist Eurer Meinung nach der Grund für die unterschiedlichen Temperamente?
    URSUS: Es ist erstaunlich, wie die Natur die Menschen beeinflusst. Die Mehrheit der Schweizer sehen einen Berg, wenn sie aus dem Haus treten.
    KS: Und zwar einen großen Berg.
    NADESCHKIN: Und ziemlich nah.
    URSUS: Sie sehen etwas, das größer ist als sie. Dagegen ist man machtlos. Da wird man kleiner, bescheidener, dankbarer.
    NADESCHKIN: Ein Berg ist ein Aufwand, etwas, was sich dir in den Weg stellt. Er nimmt dir den Horizont. Die Leute sind ängstlicher.

    Diese Theorie von der Umgebung, die einen Einfluss auf das Denken der Menschen hat, wurde im 19. Jahrhundert unter dem Namen „Positivismus“ in Frankreich ernsthaft erforscht:

    Der Positivist Hypolite Taine (…) sah die Erkenntnis, aber auch die schöpferische Tat des Künstlers von vier Faktoren bestimmt: Rasse, Milieu, Moment und spezifische Individualität (Genialität).
    (Quelle: weltchronik.de)

    Das ging im Detail soweit, dass laut Taine im nebeligen und regnerischen Deutschland nur triste Philosophie und Literatur entstehen konnte, und unter dem lichten und blauen Himmel des Mittelmeers die wahren Genies (wie z. B. Napoleon) aufwuchsen.

    KS: In Deutschland beneidet man die Schweizer um ihre Neutralität.
    NADESCHKIN: Mir hat ein deutscher Kollege gesagt, dass er bei Gastspielen in der Schweiz spüre, dass wir keinen Krieg hatten. Die Aggression sei nicht da.

    Ach nein? Der hat noch nie die geheime Landesverteidigung der Schweizer gesehen, vermuten wir mal. Verteidigungsanlagen im Grenzgebiet, egal wohin man schaut. Keine Brücke ohne Löcher für die Panzersperren, kein Pass ohne „Beton-Toblerone“, und keine 300 Opfer durch Ordonanzwaffen im Jahr. Alles so schön friedlich hier.

    Beton Toblerone

    URSUS: Vieles funktioniert in der Schweiz nicht. Wir haben in der Schweiz keine Stars. Berühmte Schweizer wie Roger Federer, DJ Bobo oder Martina Hingis können unbehelligt in ihrer Stamm-Kneipe hocken. Die Massenphänomene gehen hier nicht. Der Schweizer hat etwas Behäbiges, das Gegenteil von Hysterie.

    Jeder kennt jeden, auch an die Promis ist leicht heranzukommen. Bis zum Attentat auf Zug fuhren Bundesräte in Bern mit dem Tram zur Sitzung. Hysterie kommt jetzt erst auf, seitdem jeden Monat 2000 Deutsche mehr in die Schweiz kommen.

    KS: Viele Deutsche halten die Schweiz für ein Paradies . . .
    NADESCHKIN: Weil wir besser im Verstecken sind. Es ist nicht so, dass es bei uns nur reiche Leute gibt. Wenn man in Deutschland ein Problem richtig laut rausschreit, findet sich immer jemand, der zuhört. Das würde sich ein Schweizer nie trauen. Wenn jemand nicht genug Geld hat, dann schweigt er und guckt, wie er über die Runden kommt.
    (…)

    Denn über Geld wird nicht geredet, und über nicht vorhandenes Geld noch weniger. Tragisch aber wahr. Die „working poor“, die es auch in der Schweiz gibt, würden lieber verrecken als Hilfe beim Staat zu beantragen. Sogenannte Obdachlose, Penner oder Stadtstreicher, wie sie in Deutschland in jeder Fussgängerzone zu finden sind, muss man in der Schweiz echt suchen gehen. Natürlich gibt es die „Randständigen“, aber zahlenmässig bewegt sich das in wesentlich kleineren Dimensionen als in Deutschland, und auf sie fällt schnell der Lichtstrahl des Rayonverbots und es wird ihnen der Weg gewiesen.