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Worüber die Schweizer lieber schweigen — Sind Sie auch vermöglich?

(reload vom 2.5.07)

  • Ich mag mich nicht erinnern
  • Mögen Sie sich noch erinnern? Oder lieber doch nicht? Wir schrieben hier auf der Blogwiese über den Ausdruck „magst Du Dich erinnern?“ und kamen zu dem Schluss, dass es hier weniger um „mögen“ im Sinne von „etwas gern tun“ als um die Kurzfassung von „vermögen“ = „in der Lage sein etwas zu tun“ ging.
    Doch dieses hübsche Wort beinhaltet noch eine weitere Bedeutung als Adjektiv, die uns bisher fremd war, und auf die wir erst durch eine Leserin der Blogwiese gestossen wurden: „vermöglich sein“.
    So fanden wir in der NZZ:

    «Erben? Ich habe einen wertvollen Schrank und die schöne Bibliothek meines Vaters geerbt. Beides halte ich in Ehren. Dann hat mir ein väterlicher Freund, der recht vermöglich war, testamentarisch zwei Bilder vermacht.
    (Quelle: nzzfolio.ch)

    Unser Duden nennt es eindeutig „schweizerisch“:

    1. vermöglich ( landsch. und schweiz. für wohlhabend)
    (Quelle: duden.de)

  • Vermögliche Menschen gibt es auch in Österreich
  • Wir fanden einen Beleg für das Wort auf einer Österreichischen Webseite, die die Geschichte des Wiener Praters erzählt:

    Der Kaiser fragte, was er für eine Entschädigung begehre. „Ich bin selbst vermöglich„, antwortete der Bürger, „und verlange bloß, daß der Übermütige einen derben Denkzettel in öffentlicher Beschämung erhalte, damit andere seinesgleichen den Bürger besser schonen.“
    (Quelle: prater.at)

    Wahrscheinlich war mit „landschaftlich“ die Wiener Luft gemeint.
    Doch das Wort wird offenbar auch als Variante zu „wohlmöglich“ verwendet:

    Wenn Du die Dinge jetzt überstürzt, wirst du sie vermöglich vergraulen.
    (Quelle: f24.parsimony.net)

  • Was heisst „vermöglich“ sonst noch?
  • Dann doch lieber Gotthelf:

    Das ist ein eigen Kapitel über diese Krankheit, die alle mehr oder weniger ergreift, die zu einigen eigenen Kronen kommen und denen der Gedanke geboren worden ist, vermöglich zu werden.
    (Quelle: Jeremias Gotthelf – Wie Uli der Knecht glücklich wird / 11. Kapitel – 1)

    Das Wort überlebte offensichtlich in der Bedeutung „vermögend sein“ am besten in der Schweiz. Bei Grimm Grimm steht es noch so erklärt:

    VERMÖGLICH, adj. fähig fertig zu bringen, zu vollenden. in der ältern sprache nicht nachgewiesen, jedoch in den frühesten zeiten des nhd. nicht selten vorkömmlich. (…)
    active bedeutung ‚der etwas vermag‘, daher körperlich kräftig, rüstig: die schwarze nieszwurz soll nur allein starken und vermöglichen personen eingegeben werden. TABERNAEMONT. kräuterb. 1099; es war unmöglich genug, vermögliche säugammen für ihn auszzutreten, inn betrachtung der groszen quantität milch, so zu seiner narung auffgieng. Garg. 210 (1590). übertragen auf dinge und zustände: der mensch war gemacht mit gsundem und vermöglichem leibe.
    (Quelle: Grimms Wörterbuch)

    Genug der Wortgrübelei. Wir vermögen uns über vermögliche Menschen und deren Vermöglichkeit unmöglich weiter Gedanken zu machen.

  • Vermögliche Landsauger in Bern
  • Zum Abschluss ein Ausschnitt aus einem wunderbaren Artikel über die Geschichte des Strafvollzugs in Bern, genauer gesagt über das „Schallenwerk“ genannte Zuchthaus:

    Mit dem um 1615 errichteten Zuchthaus zeichnete sich zwar kein Durchbruch im Sinne einer humaneren Justiz ab, aber es gab doch erste Ansätze zu einer etwas verständnisvolleren Haltung gegenüber Tätern, denen nur leichtere Vergehen zur Last gelegt wurden. Neu war vor allem der Versuch, die Häftlinge durch Arbeit und geistlichen Zuspruch zu bessern und sie wieder gemeinschaftsfähig zu machen. Dabei wurde allerdings nach wie vor nicht zimperlich vorgegangen, sondern gemäss den Richtlinien des Rats gehandelt: «(Im Zuchthaus) sollen solche arbeitsfähige, muthwillige, vermöglich fremde und einheimische Landsauger und andere Malefikanten, denen man eben nicht an das Leben greifen kann, zur Arbeit angefesselt, und ihnen dadurch der Rücken weich und gleitig gemacht worden, in der Hoffnung, dass vermittelst dieser schweren und harten Disciplin und Züchtigung Jedermann sich abschrecken lasse und sich ehrlicher Begangenheit und Arbeit befleissen werde.»
    (Quelle: g26.ch)

    Praktisch eingesetzt wurden diese dann in der Strassenreinigung, die bitter notwendig war. Denn während man Rücken „gleitig“ machen wollte, waren die Strassen bereits „gleitig“ genug, auf Grund der dort ausgeleerten Nachttöpfe etc. Die hiessen damals allerdings garantiert „Pot de chambre“, so nahe am Röstigraben, denn das klingt feiner und stinkt gleich ein bisschen weniger.

    Nachttopf mit cooler Inschrift
    (Quelle: freilichtmuseum.de)

    Wir weisen besonders auf die hübsche Inschrift: „Drum drücket und drängend mit aller Kraft für die notleidende Landwirtschaft“. Denn merke: „Urin ist ein Wertstoff“! Mehr zu diesem Thema hier und hier.

    

    8 Responses to “Worüber die Schweizer lieber schweigen — Sind Sie auch vermöglich?”

    1. David Says:

      Hi

      Läsu gäru dini biträg .. wirklich en cooli siitu 🙂

      Wiiter äso, gruess üsum wallis.

      lg

    2. Brenno Says:

      Wenn schon Gotthelf zitiert wird, darf man vielleicht darauf hinweisen, dass in seinen Texten mit Sicherheit auch das Wort „hablich“ vorkommt, ein Synonym von „vermöglich“.

      Zum Schallenwerk: „gleitig“ heisst eigentlich flink, behend, rasch. Die Sträflinge mussten sich bei der Arbeit wohl öfters bücken.

    3. Brun(o)egg Says:

      In und um Basel, vor allem aber im badischen Raum und dem Markgräfler Land ist das Schallenwerk das Schellenwerk. (J.P.Hebel) Daher auch die Handschelle.
      Und Brenno hat recht: hablich ist bedeutend geläufiger als vermöglich.

    4. Beobachterin Says:

      Vermöglich höre und sehe ich hier zum ersten Mal. In der Regel spricht man auch in der Schweiz von vermögenden Leuten. Leute, die etwas vermögen, weil sie eben Geld haben. Auch dies ist ein eher altertümlicher Ausdruck. Selbst wohlhabend schreibt heute nahezu keiner mehr. Heute ist man reich, superreich oder auch mal stinkreich.

    5. Peter Says:

      Vermöglich tönt bzw. klingt nach hochnäsigen alten Tanten und Beamten mit Ärmelschonern, oder eben nach Gotthelf. Hablich ist auch nicht viel besser Wenn schon, dann „vermögend“ oder schlicht und einfach „reich“.

    6. Brenno Says:

      @ Brun(o)egg

      Mir ist noch etwas in den Sinn gekommen: Es betrifft allerdings den Reload vom 02.05.2007, genauer gesagt, Deine Bemerkung zu den Schwierigkeiten beim Schreiben von Texten im Basler Dialekt:

      Der heutzutage etwas in Vergessenheit geratene Johann Peter Hebel wurde meines Wissens in Basel geboren, lebte aber eine Zeitlang im Wiesental. Ich kenne mich da nicht so genau aus, aber ich denke, dass er in seinen Alemannischen Gedichten dem Baseldytsch ziemlich nahe gekommen sein dürfte. Wie angemessen seine Schreibweise ist, kann ich nicht beurteilen. Aber wenn es schon so schwierig ist mit dieser Mundart, wäre es eigentlich interessant zu untersuchen, wie Hebel diese Herausforderung gemeistert hat

    7. Mare Says:

      Bei Wilhelm Buschs „Knopp-Trilogie“ steht
      „Unvermutet, wie zumeist,
      Kommt die Tante zugereist.
      Herzlich hat man sie geküsst,
      Weil sie sehr vermöglich ist.“

      Busch war nicht Schweizer.

    8. Guggeere Says:

      „Hablich“, „vermöglich“ etc. sind doch hoffnungslos veraltet. Wir leben im Zeitalter der Euphemismen, Anglizismen, Abkürzungen. Mit anderen Worten: Weniger angenehme Wahrheiten werden hinter irgendeinem Eindruck schindenden Brimborium aus Fremdsprache und Abkürzungen versteckt. Reiche gibts keine mehr, die heissen jetzt schön bescheiden „Mittelstand“. Die Stink-, Super- oder sonst wie unanständig Reichen nennt man heute UHNWI; das ist die Abkürzung von ultra high net worth individuals, Individuen von ultrahohem Nettowert.
      Wer also täglich schuften muss, um seine Rechnungen bezahlen zu können, ist ein Individuum ohne Nettowert.