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Haben Sie auch eine Schere im Kopf? — Wie erkenne ich Schriftsprache?

(reload vom 3.5.07)

  • Hasse-kannze-musse-bisse
  • Als Kind sprach ich daheim Hochdeutsch. Na ja, das was man im Ruhrgebiet so unter „Hochdeutsch“ versteht. „Hasse-kannze- musse-bisse“ (Hast Du, kannst Du, musst Du, Bist Du) wurde gesprochen, aber nicht geschrieben. Automatisch schrieb ich „bist Du“ an Stelle von „bisse“. Die unterschiedliche Verwendung von „Schriftdeutsch“ und „gesprochenem Deutsch“ war mir nicht bewusst. Nur bei einem Tätigkeitswort fiel es auf. Das war durchaus üblich in der gesprochenen Sprache, durfte aber nie geschrieben werden. Die Rede ist vom „kriegen“.

  • Bekommen und nicht kriegen
  • Sei brav, dann kriegst Du was Süsses von mir“ sagt die Mutter zum Kind. Wer das jedoch schrieb, bekam es durchgestrichen und sollte „bekommst Du was Süsses“ schreiben. In einem englischen Restaurant hingegen soll der Satz „I become a fish!“ grössere Irritation beim Personal auslösen, und vorsorglich wird dem Gast der Weg zum nächsten Teich oder Fluss gezeigt, falls er davon schwimmen möchte.

  • Die Schere im Kopf
  • Schweizer Kinder und Deutsche Kinder aus Gegenden, in denen noch stark Mundart gesprochen wird, stehen ständig vor diesem Problem, anders schreiben zu müssen als sie sprechen. Ich beobachtete einen schwäbischen Schuljungen in Stuttgart bei den Hausaufgaben. Er sollte Beispielsätze schreiben, in denen Obstsorten vorkommen, und schrieb: „Ich esse Äpfel. Ich esse Birnen. Ich esse Körschen“. Dann wurde er korrigiert: „Wie heissen diese Früchte richtig? Sprich es nochmals langsam und deutlich aus“. Er antwortete folgsam langsam und überdeutlich: „Kööörschen“. Ein Schweizer Kinde hätte vielleicht noch „ich esse Öpfel“ geschrieben?

    Eine Schweizerin erzählte mir, dass es ihr immer schwer fällt zu unterscheiden, was denn nun geschrieben werden darf, und was nicht. Sie scheue zurück vor „ich finde das gut“ und schreibt lieber „ich halte das für gut“ oder sie schreibt „ich bekomme den Verleider“ an Stelle von „ich erhalte den Verleider“. Gehört die Formulierung „etwas für richtig halten“ eher zum Schriftdeutschen als „etwas richtig finden“? Oder ist „etwas erhalten“ eher Schriftdeutsch als „etwas bekommen“?

  • Diesbezüglich rufe ich sie wieder an
  • Schweizer müssen sich ständig diese Fragen stellen. Ist „ich habe den Verleider bekommen“ nun in der standardisierten Schriftsprache möglich, oder sollten man besser „es wurde mir überdrüssig“ schreiben?
    In einem Büro in Deutschland lernte ich einen Deutschen kennen, der immerzu am Telefon die Formulierung „diesbezüglich“ verwendete. Mir erschien sie absolut nur geschrieben möglich. Wer sie ständig in der gesprochenen Sprache verwendet, pflegt einen ziemlich künstlichen weil manierierten Stil.

  • Wie klingt es, wenn man „es tönt“ schreibt?
  • Was wir bei den Schweizern immer wieder mit grosser Faszination beobachten, ist die permanente Schere im Kopf, die es erlaubt, auf Ausdrücke wie „das tönt gut“ in der geschriebenen Sprache zu verzichten, und automatisch „das klingt gut“ zu schreiben. Ein Erfolgsautor wie Martin Suter schreibt „die Matura“ statt „das Abitur“, oder „das Tram“ statt „die Strassenbahn“, also Helvetismen, die bei Dürrenmatt und Frisch noch radikal vom Lektorat in Deutschland gestrichen wurden. Wenn es aber ans „Umziehen“ geht, ist auch bei Suter nicht mehr vom „Zügeln“ die Rede.

  • Für einmal der Tages-Anzeiger und erst noch die NZZ
  • Während ich im Tages-Anzeiger pro Seite mindestens 2-3 Helvetismen finde, ist es bei der NZZ oder bei unserer Lokalzeitung „Neues Bülacher Tagblatt“ schon um einiges schwieriger, überhaupt ein Beispiel für einen nur in der Schweiz gebräuchlichen Ausdruck zu finden. Dem Tagi ist es offensichtlich egal, oder er gibt sich durch Syntax und Wortwahl absichtlich betont schweizerisch. Jeder zweite Artikel beginnt mit „Für einmal“ und die Formulierung „erst noch“ (= ausserdem) taucht auch sehr regelmässig auf, während andere Zeitungen das radikal und erfolgreich vermeiden.

  • Hat denn nicht jeder Schweizer eine Schere im Kopf?
  • Wir lernen daraus, dass es gewaltige Unterschiede gibt bei der „Schere im Kopf“ der Schweizer. Dem einen fällt es auf, wenn er etwas aus der gesprochenen Sprache schreibt, dem anderen nicht. Der eine verwendet absichtlich den „Unterbruch“, der andere korrigiert beim Aufschreiben automatisch zur „Unterbrechung“. Und uns geht es, je länger wir hier leben, so, dass wir kaum mehr umhin können, auch Helvetismen zu verwenden im Hochdeutschen Sprachfluss, weil sie einfach oft so schön praktisch sind.

    Ja, das ändert von Tag zu Tag. Anfang Jahr war es im Fall besonders schlimm.

    

    4 Responses to “Haben Sie auch eine Schere im Kopf? — Wie erkenne ich Schriftsprache?”

    1. Peter Says:

      Ich finde es immer wieder lustig, wenn manche Schweizer sagen, sie seien von etwas überzogen statt überzeugt, manchmal sehe ich das sogar schriftlich. Ich frage dann häufig: „Ah ja, ist das wirklich Dein Überzug?“ und die Reaktion darauf ist meistens recht unterhaltend 🙂

    2. Brun(o)egg Says:

      Bei uns ist es einfach die Matura und nicht das Abitur. Ganz einfach
      Und das Tram ist die Trambahn. Kennt man ja auch in D.
      Und der Rest sind Überbleibsel aus der Feuerzangebooooole bei der man die Borschen beim Tornen und danach bein ganz kleine Schlock Holunderwoin geniessen konnte.

    3. Brenno Says:

      Die Schere im Kopf der Schweizer – schön wäre es! Einst bestand hierzulande eine einigermassen klare Trennung zwischen Dialekt und „Schriftdeutsch“. Dass den Schweizern dabei immer wieder Irrtümer unterliefen, wenn sie sich in (Schweizer) Hochdeutsch auszudrücken genötigt sahen, konnte man je nach Standpunkt als reizvoll oder aber als unfreiwillig komisch wahrnehmen. Max Frisch hat einmal sinngemäss gesagt: Wenn der Schweizer Hochdeutsch spricht, wirkt er unterwürfig und grämlich. Nebenbei gesagt, liegt hier vermutlich einer der Gründe für die Abwehrhaltung mancher Schweizer gegenüber Deutschen. Sie fühlen sich von den Teutonen in sprachlicher Hinsicht gnadenlos deklassiert. Dies könnte eigentlich ein Anlass sein, die eigenen Sprachkenntnisse zu verbessern, aber da es offenbar ein ungeschriebenes Menschenrecht gibt, so zu reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, überlässt man sich lieber dem Abwehrreflex.

      Die erwähnte Trennung wurde im Laufe der Zeit immer mehr abgebaut. Anscheinend gilt es in diesem Land als Zeichen von Menschenfreundlichkeit und sozialer Gerechtigkeit, sich sprachlich nach jenen zu richten, die sich, aus was für Gründen auch immer, am liebsten gehen lassen. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hatte dabei das Schweizer Fernsehen, das irgendeinmal beschloss, verschiedene Sendungen, die bis dahin Hochdeutsch moderiert worden waren, im Dialekt zu präsentieren (z. B. Sport). Dies führte zu einer Verwässerung der Mundart und auch zu einer unangebrachten Vermengung mit schriftsprachlichen Elementen. Kurz gesagt, die Sprachkompetenz bezüglich beider Sprachen nahm ab. Um nicht immer wieder auf dem Fernsehen herumzuhacken, sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass auch die Schule, nicht nur auf Primarstufe, die flächendeckende Verwendung des Dialekts zu praktizieren begann. Im Moment schlägt das Pendel jedoch wieder auf die andere Seite aus: Kindergartenschüler sollen nur noch Hochdeutsch sprechen (!).

      Die Verwendung von Dialektausdrücken in einem schriftsprachlichen Text kann durchaus angebracht sein, nämlich als Stilmittel oder aber dann, wenn es keine vollwertige Entsprechung in der Hochsprache gibt oder etwa als humoristische Einlage. Dies setzt allerdings sehr gute Kenntnisse beider Sprachen voraus, und um diese ist es bei den Eidgenossen nicht so gut bestellt. Wörter wie z.B. „Verleider“, „aufgestellt“, ablöschen“ und viele andere können als Dialekt durchgehen, in einer schriftsprachlichen Umgebung ist es bloss Slang.

      P. S.

      1. Ich weiss erst seit wenigen Jahren, dass die Wendung „das tönt gut“ ein Helvetismus ist.
      2. Matura für Abitur ist meines Wissens auch in Österreich gebräuchlich

    4. AnFra Says:

      R.I.P.