Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz ? —Imaginärer Offener Brief an den „Deutschschweizer an sich“
(reload vom 4.5.07)
Der folgende Artikel ist nicht von mir. Er erreichte mich per Mail, und da ich ihn ausgezeichnet recherchiert und zusammengestellt finde, kommt er auf die Blogwiese. Er ist etwas länger und wird daher auf heute und morgen verteilt.
Liebe eidgenössische Nachbarn!
Ich kenne die Schweiz nur als Gelegenheitstourist, nicht aber ihr Innenleben. Als der Schweiz wohlgesonnener Nachbar unternehme ich den Versuch, mit provokanten, polemischen und bissigen Worten den Animositäten „des Schweizers an sich“ gegenüber „dem Deutschen an sich“ auf den Grund zu gehen. Dies sollte unter guten Nachbarn erlaubt sein.
Die heutige Schweiz ist nicht dafür bekannt, fremdenfeindlich zu sein. Das weitgehend problemlose Zusammenleben mit 300.000 Italienern, 350.000 Ex-Jugoslawen oder 160.000 Portugiesen bestätigt dies. 170.000 Deutsche aber sind ein „Reizthema“, das in der Frage eines gewissen Zürcher Massen-mediums kulminiert: „Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz?“ Nun könnte man nach dem Motto verfahren ‚Was kümmert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt?’ und zur Tagesordnung übergehen. Aber ich nehme Euch ernst, denn ich bin besorgt um Euren Gemütszustand, und auch Eure alemannischen Stammesgenossen direkt jenseits des Rheins scheinen irritiert zu sein und fragen sich „Goht’s no?“, wie der Bürgermeister der Basler Nachbarstadt Weil am Rhein im Badischen.
War es der Rat eines keine drei Kilometer von mir entfernt wohnenden deutschen Ex-Bundeskanzlers an den Ringier-Verlag, einen eidgenössischen Nerv zur Steigerung der Auflage zu treffen? Bei den Deutschen handelt es sich immerhin um Leute, mit deren Land Ihr soviel Aussenhandel abwickelt wie mit Italien, Frankreich, den Niederlanden und England zusammen; aus deren Land so viele Touristen zu Euch kommen, wie aus England, den USA, Frankreich und Italien zusammen. (Natürlich liegt es nur am Wetter und nicht am Image, dass Ihr dagegen Euer nördliches Nachbarland vergleichsweise selten touristisch beehrt.)
670 km von Eurer Nordgrenze entfernt vernehme ich, dass die Deutschen arrogant und unsympathisch seien. Keine Frage, es gibt solche Zeitgenossen; keine Frage auch, dass sich unter diesen einige in die Schweiz verirren. Probates Mittel dagegen: schickt sie nach Hause! Aber die Deutschen? Ich lese, dass Ihr den Deutschen gegenüber einen Minderwertigkeitskomplex hättet. Eine wirtschaftliche Weltmacht, deren BIP so hoch wie das Russlands ist – habt Ihr sie noch alle? Es liegt wohl in der Natur von Komplexen, keine sachlichen, dafür um so mehr seelische Ursachen zu haben. Ich lese weiter, dass Ihr Euch in Situationen der mündlichen Kommunikation Deutschen gegenüber unterlegen fühltet, dass gar „deutschfeindliche Reflexe (…) zu dieser Deutschschweizer Sprachneurose geführt (hätten)“ (Mathieu von Rohr) und Ihr „Hochdeutsch“ als Import aus Deutschland empfändet (wieso nicht aus Österreich?); und schliesslich: für die Deutschschweizer stelle der Dialekt ein wesentliches Identitätsmerkmal dar, um sich von den Deutschen zu unterscheiden. Alles Euer gutes Recht, aber warum um alles in der Welt wollt Ihr Euch so unbedingt von den Deutschen unterscheiden???
Ich brauche Euch nicht zu sagen, dass Ihr Bärndütsch, Baselditsch, Züritüütsch und andere Varianten des Alemannischen sprecht, ganz zu schweigen vom Walliserdeutschen mit seiner einzigartigen althochdeutschen Flexion und seinem ausgebildeten Genitiv. Ich muss Euch nichts vom Dialektkontinuum erzählen, nichts davon, dass Eure Sprache ein parler transfrontalier ist; dass, von der „Dienschdaa“-Insel Strassburg abgesehen, die „Ziischtig (Zyschtig)“ – Isoglosse bis Hagenau im Elsass, bis kurz vor Baden-Baden, bis in den Hochschwarzwald, bis ins Allgäu und nach Vorarlberg reicht, die „gsii“– Isoglosse bis zum Kamm der Schwäbischen Alb, um erst dort von „gwää“ (gewesen) abgelöst zu werden. Kurzum, das „Schweizerdeutsche“ ist eine Chimäre. Wollt Ihr mit dieser unsinnigen Bezeichnung ein Exklusivrecht auf das Alemannische beanspruchen? Euer Bevölkerungsanteil an Alemannien beträgt 33%, der badisch-württembergisch-bayrische 56%, der elsässische 9%, der vorarlbergische 2,2% (inkl. eines kleinen Stückchens von Tirol), der liechtensteinische 0,1% und der walseritalienische unter 0%. In TV-Auftritten, so weit ich sie gesehen habe, spricht der Schriftsteller Adolf Muschg nicht ohne Grund ausschliesslich von „Mundart“. Es wäre ein Akt der intellektuellen Redlichkeit, wenn Ihr den Begriff „Schweizerdeutsch“ für den Rest der Ewigkeit vergessen würdet.
Wo steht eine der Wiegen des geschriebenen Althochdeutschen? In St. Gallen. Von wo ging die althochdeutsche Lautverschiebung aus, das Kriterium für die Qualifizierung gewisser germanischer Idiome als „hochdeutsch“? Vom hoch über N.N. gelegenen alemannischen (und bairischen) Sprachraum. Welches ist das Gebiet, das als einziges die Lautverschiebung vollständig durchgeführt hat („Kind“ zu „Chind“) und damit allerhöchstes Deutsch spricht? Die Sundgauer Kantone Pfirt, Altkirch, Hirsingen und Hüningen, des weiteren Südbaden, Vorarlberg, Liechtenstein und … die deutsche Schweiz. Wann immer Ihr also Euer Idiom benutzt: ihr sprecht zu 100% hochdeutsch. Ein höheres Deutsch gibt es nicht. „Hochdeutsch“, wer hat’s erfunden …? Die Alemannen – nicht nur, aber auch! Wer spricht das Gegenteil, Niederdeutsch (vulgo: „Plattdeutsch“)? Wi Neddersassen sprekt (kört/snakt/pråtet) nedderdüütsch. Åber Ji Switzerlänners, ji Alemannschen deit jümmers hoochdüütsch spreken. (Wir Niedersachsen sprechen niederdeutsch. Aber Ihr Schweizer, Ihr Alemannen sprecht immer hochdeutsch.)
(zweiter Teil folgt morgen: Wie die Berner Patrizier im 17. Jahrhundert den Predigern befohlen haben, „sich des affektierten neuen Deutsch zu müßigen“)
März 26th, 2011 at 20:39
Der offene Brief des Königs von Deutschland hat mir beim ersten Mal schon gut gefallen ;-). Kleine Anmerkung noch: Der Deutsche meint mit „Hochdeutsch“, was für den Schweizer „Schriftdeutsch“ ist.
März 28th, 2011 at 16:08
DANKE! Den NAGEL irgendwie genau „auf den Kopf getroffen“!
März 28th, 2011 at 16:20
Gut gebrüllt, Löwe.
Über die Animositäten der Schweizer gegenüber den Deutschen wurde in letzter Zeit ausführlich diskutiert, selbstverständlich auch in diesem Blog. Es ist daher sicher nicht notwendig, noch einmal bei Adam und Eva zu beginnen. Ich vermute, dass es, allen angeführten Argumenten zum Trotz, einen nicht erklärbaren Rest gibt.
Ich weiss nicht, ob das Folgende in diesem Forum schon erwähnt wurde: Manche Schweizer sind im Umgang mit Deutschen nicht in der Lage, vielleicht auch nicht gewillt, zu unterscheiden, ob eine Verhaltensweise, welche man hierzulande nicht schätzt, in Deutschland akzeptiert wird oder nicht. Anders gesagt, sie können nicht erkennen, ob sie es in einem konkreten Fall mit einem Durchschnittsdeutschen oder aber mit einem arroganten Individuum zu tun haben. Die Bereitschaft, diesen Unterschied zu machen, lassen besonders jene Schweizer vermissen, die stets nur auf eine Gelegenheit warten, sich über einen Deutschen aufzuregen.
Es ist eigentlich nicht einzusehen, warum es immer wieder zu Spannungen kommt. Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm und es wird, wie so oft, vorwiegend von negativen Vorkommnissen geredet, das Positive dagegen verschwiegen. Mit Ausnahme vielleicht der Spezialfälle Spital (Hierarchiedenken, autoritäres Gehabe) und Hochschule (deutsche Professoren bringen ganze Assistentenstäbe mit), ist eigentlich nicht einzusehen, warum es für Angehörige beider Nationen unzumutbar sein sollte, miteinander zu arbeiten und auch auszukommen.
Der Hinweis auf die Besonderheiten des Alemannischen ist gut gemeint und für den einen oder anderen Leser möglicherweise auch interessant. Die überwiegende Mehrheit der (Deutsch-)Schweizer kann damit nicht das Geringste anfangen. Wenn das ein Versuch sein soll, das Selbstbewusstsein der Eidgenossen zu stärken und ihnen die Verwandtschaft mit ihren nördlichen Nachbarn schmackhaft zu machen, dann ist dieser Versuch misslungen. Das liegt nur schon daran, dass diese Bezeichnung den Schweizern unbekannt ist. Sie nennen ihre Umgangssprache Schwyzerdütsch; daneben kennen einige noch das Elsässische. Eigentlich schade, denn es ist in der Tat erstaunlich, dass ein Dialekt in sechs verschiedenen europäischen Ländern von Einheimischen gesprochen wird. Wie der Autor antönt, sind allerdings die Sprachinseln südlich des Matterhorns und im Pomat (Val Formazza), am Verschwinden.
Die meisten Schweizer wissen über die Verbreitung dieser Dialekte so gut wie nichts. Lassen wir uns also von einem Deutschen auf die Sprünge helfen!
Noch etwas ist erstaunlich: Unter Bayrisch oder Schwäbisch kann man sich etwas vorstellen. Die beiden Dialektgruppen haben eine Identität, eine eigene Geschichte und Kultur, natürlich gibt es auch ein paar Klischees. Alemannisch dagegen ist ein absoluter Nonvaleur. Der Schriftsteller Martin Walser hat sich auch schon in diesem Sinne geäussert. Wie er einmal erklärte, sprach seine Mutter zu Hause ausschliesslich Alemannisch. Heute dagegen soll es nördlich des Bodensees höchstens noch von Handwerkern benutzt werden. Selbst das SWR Fernsehen Baden-Württemberg scheint nichts davon zu wissen. Jedenfalls nicht soviel ich mitbekommen habe.
Nicht immer äussern sich Schweizer abfällig über die Deutschen, es gibt auch die umgekehrte Reaktion. So soll Martin Luther 1529 in Marburg nach seiner Disputation mit Ulrich Zwingli, dem Schweizer Reformator, gesagt haben: „Er redet ein verdorben’ Deutsch“. Vielleicht war das der Anfang der ganzen Geschichte …