Die gefährliche Abwertung des Hochdeutschen
Im Tages-Anzeiger vom 16.10.2010 äussert sicher Peter von Matt sehr gelassen über „Dialektwahn und die gefährliche Abwertung des Hochdeutschen“ (Quelle: Tagesanzeiger.ch). Ist Schweizerdeutsch eine „Sprache des Herzens“? Peter von Matt hält als Germanist und emeritierte Professor der Universität Zürich diese Vorstellung für Kitsch:
Alles, was in der deutschen Schweiz geschrieben und gelesen wird, ist Hochdeutsch oder Standardsprache. Standardsprache ist ein so hässliches Wort, dass man seinen Erfinder aus der Sprachgemeinschaft ausschliessen sollte; ich verwende es an dieser Stelle nur, um öffentlich zu erklären, dass ich es nie mehr verwenden werde. Auch wenn viele Leute ihre SMS im Dialekt schreiben oder in irgendeinem Mundartgewurstel, gilt die Regel: Geschrieben und gelesen wird in der deutschen Schweiz das Hochdeutsche mit seinen schweizerhochdeutschen Eigenheiten, also eben etwa den Spargeln, den Türfallen und den Unterbrüchen.
(Quelle für dieses und alle weiteren Zitate: Tagesanzeiger.ch)
Standarddeutsch oder Hochdeutsch?
Ich mag „Standarddeutsch“, weil wir bei diesem Ausdruck nicht immer erklären müssen, dass das „Hoch“ in „Hochdeutsch“ nichts mit hoher Qualität sondern den hohen, und nicht mittleren oder niederen Bereichen des deutschen Sprachraums zu tun haben. Hochdeutsch sollte besser „Süddeutsch“ heissen, oder „Neu-Süddeutsch“, aber die Sprachwissenschaftler haben das anders entschieden.
„Türfallen“ und „Unterbrüche“ sind keine schweizerdeutschen Eigenheiten, sondern Varianten der Standardsprache, die in nördlichen Gebieten zwar verstanden aber nicht aktiv gebraucht werden.
Nun hat sich aber in diesem Lande seit einiger Zeit der Wahn ausgebreitet, der Schweizer Dialekt sei die Muttersprache der Schweizer und das Hochdeutsche die erste Fremdsprache. Das ist Unsinn, führt aber zu einer chronischen Einschüchterung der Deutschen in der Schweiz, denen man unterstellt, dass sie «unsere Sprache» nicht beherrschten. In Wahrheit ist in der Schweiz der Dialekt nur für Analphabeten die ausschliessliche Muttersprache.
Stimmt, sonst würde kein Kind, das im Schweizerdeutschen aufwächst, so rasch beim Ki.Ka alles verstehen, und bei der „Sendung mit der Maus“ sofort abschalten, denn die gibt es noch nicht auf Schweizerdeutsch.
Unsere Muttersprache ist Deutsch in zwei Gestalten: Dialekt und Hochdeutsch, und zwar so selbstverständlich und von früher Kindheit an, wie das Fahrrad zwei Räder hat. Wir wachsen mit beiden Gestalten unserer Muttersprache auf, erfahren und erweitern unsere Welt in beiden Gestalten ein Leben lang, und unsere Autorinnen und Autoren schreiben, wenn sie etwas taugen, ein Hochdeutsch, das dem Ausdrucksreichtum keines deutschen oder österreichischen Autors nachsteht. Ist es doch ihre Muttersprache voll und ganz.
Zweisprachigkeit ist keine Schweizerfähigkeit
Diese Zweisprachigkeit findet sich auch in vielen Gegenden Deutschlands. Jeder Deutsche spricht Dialekt, sei es nun Rheinisch oder Hessisch oder Hanseatisch oder Schwäbisch. Selbst im viel bemühten Hannover wird nicht keine künstliche Bühnensprache gesprochen, sondern es wimmelt von Varianten wie „Berg“ und „Berch“, „Wurst“ und „Wurscht“.
Nur haben sie noch deren zweite Gestalt daneben, in der sie sich mit den Landsleuten unterhalten und vielleicht auch gelegentlich ein Hörspiel schreiben. Der verbreitete Wahn, nur der Dialekt sei die Muttersprache der Deutschschweizer, beruht auf einer Mischung von Denkschwäche, Sentimentalität und Borniertheit. Und er hat bedenkliche Folgen. Er beschädigt die Liebe zum Deutschen und damit die Kulturfähigkeit vieler Schweizer. Denn wer seine Muttersprache nicht liebt, arbeitet auch nicht mit Lust daran sein Leben lang. Wer aber nicht sein Leben lang mit Lust an seiner Muttersprache arbeitet, rutscht langsam weg aus den schöpferischen Zonen seiner Kultur.
Borniertheit ist hart, aber angemessen. „Liebe zum Deutschen“? Um Gotteswillen, das ist doch die Sprache von diesem arroganten Volk aus dem grossen Kanton!
Es leben die Varianten!
Die deutschschweizerischen Dialekte sind eine bunte Wunderwelt, die gerade deshalb so tausendfach blüht und wuchert, weil es keine schriftliche Form für sie gibt. Wer dennoch eine Postkarte, eine SMS oder, was schon viel seltener geschieht, einen ganzen Brief im Dialekt schreibt, kann dabei gegen keine orthografischen Regeln verstossen. Und was den Wortschatz anbelangt, variiert dieser fast von Dorf zu Dorf. Ein berühmtes Beispiel ist die Ameise. Die nennt sich in der Deutschschweiz so:
Ämesse, Omeisele, Äbese,Aweissi, Ameisi, Uweisse,Wurmeissi, Wurmeisle, Wurmasle, Harmäusli, Ambeisse, Umbeisse, Hampeissi, Lombeisse, Empeisele, Ambitzli, Wumbitzgi, Humbetzgi, Ambessgi, Umbasle, Hobäsle,Wurmasle, Wambusle, Bumbeisgi
Sagenhaft, diese Vielfalt! Aber dieses Phänomen der Varianten macht nicht an der Grenze zur Deutschland oder Österreich halt. Peter von Matt zitiert als weiteres Beispiel den „Brotanschnitt“, für den jeder Deutsche auch jeweils zwei Wörter kennt. Eins vom Vater und eins von der Mutter gelernt, z. B. „Knust“ oder „Knäuschen“ oder „Kanten“ oder „Knäusel“ oder „Ranft“ (vgl. Blogwiese)
Aus der Schweiz listet Peter von Matt diese Varianten:
Aaschnitt, Aahau, Aahäulig,Aahäueli, Obenäbli, Deckel,Gupf, Güpfi, Änggel, Münggel, Mürrgi, Mutsch, Bode, Chäppli,Aamündli, Gruschte, Chropf, Wegge, Zipfel, Scherbitz, Reifteli, Mugerli, Houdi, Gutsch, Götsch, Fux, Fuudi
Angesichts der zwei lautmalerischen Litaneien wird auch deutlich, dass niemand je imstande sein wird, den deutschschweizerischen Dialekt als solchen zu lernen. Es gibt ihn als feste Grösse gar nicht, es gibt ihn nur als ungeheure, durcheinander wogende sprachliche Wolkenmasse. In dieser findet jeder Deutschschweizer seinen Winkel, in dem er besonders zu Hause ist, aus dem seine eigene Variante und Abschattierung der schweizerdeutschen Mundart stammt. Dass er diesen Winkel, diese Variante liebt, ist verständlich, und nichts ist dagegen einzuwenden. Aber wenn er deshalb jene Gestalt seiner Muttersprache abwertet, über die er mit der ganzen deutschen Sprachkultur verbunden ist und über die der geistige Austausch, das Geben und Nehmen denkender Köpfe wesentlich geschieht, verfehlt er sich gegenüber einem unersetzlichen Stück seiner Heimat.
Traurig, aber wahr. Wer sich nicht öffnet für seine „zweite Muttersprache“ wird rasch abgetrennt von der ganzen deutschen Sprachkultur. Da hilft es auch nicht, fleissig Stefan Raab zu schauen.
Die Sprachfertigkeit schwindet
Der Wahn, der Dialekt sei die einzige und eigentliche Muttersprache, hat zur Folge, dass sich manch ein Deutschschweizer das Recht herausnimmt, auch mit Deutschen und Österreichern sofort und ausschliesslich im Dialekt zu sprechen. Das ist ungehobelt, bäurisch und stillos. Noch schlimmer aber ist, dass dieses Verhalten den blitzschnellen Wechsel zwischen den zwei Gestalten der Muttersprache, der in der Schweiz lange Zeit ganz selbstverständlich praktiziert wurde und die Sprachfertigkeit des Deutschschweizers ebenso bewies wie seine Sprachfreude, zusehends zum Verschwinden bringt.
Dafür nimmt aber die Fähigkeit der zugewanderten Deutschen zu, die unterschiedlichsten Dialektvarianten zu verstehen. Ein Geben und Nehmen eben.
Wenn zwei Schweizer miteinander plaudern, tun sie dies im Dialekt. Das ist gut so und richtig. Tritt ein Deutscher hinzu, schalten sie um ins Hochdeutsche. Auch das wäre gut so und richtig. Nur tun sie es heute immer weniger, die Jungen fast überhaupt nicht mehr. Der Deutsche soll bitte sehr die Mundart verstehen. Das ist schlicht arrogant. Und einfältig, weil es unterstellt, dass das Hochdeutsche nicht unsere Sprache sei. Die Folge ist eine schleichende Provinzialisierung, die man als solche nicht erkennen will, auf die man sich vielmehr noch etwas einbildet. Hier liegt ein echtes nationales Problem vor, auch wenn es nur für die Deutschschweiz gilt.
Für mich ist diese Verhalten nicht „arrogant“, sondern es gibt mir das angenehme Gefühl, nicht anders als andere sprachlich behandelt zu werden und damit integriert zu sein. Traurig und arrogant wird es nur, wenn die Fähigkeit in der Standardsprache zu sprechen tatsächlich schwindet. Meist ist sie ja da, im Verborgenen zwar, doch leider oft ein bisschen eingerostet. Ich freue mich, wenn ein Schweizer Spass daran hat, souverän und ohne Mühe und Komplex mal kurz auf das Standarddeutsche umzuschalten, in jeder Situation des Alltags, nicht nur wenn er einem etwas verkaufen will oder wenn ich als deutscher Tourist hilflos durch die Landschaft irre.
Bedenklich ist dabei nicht so sehr das schlechte Benehmen. Mangelnder Anstand bestraft sich ja in der Regel selbst. Bedenklich ist der Rückgang der sprachlichen Beweglichkeit, der Ausdrucksfreude und syntaktischen Eleganz. Der hochdeutsche Wortschatz friert auf dem Volksschulniveau ein. Und die Medien tun nichts dagegen, obwohl sie selbst immer noch ein sehr passables Deutsch schreiben und reden. Sie fürchten sich vor der Volksseele, vor den Leserbriefen, vor den Kitschgefühlen, wonach der Dialekt die Sprache des Herzens sei, das Hochdeutsche aber kalt und fremd.
Trösten kann man auch auf Norddeutsch
Ja, und keine Mutter in Niedersachsen vermag ihr Kind in dieser kalten Sprache zu trösten, keine Liebeslyrik funktioniert auf Hochdeutsch, und Bettgeflüster? Na, da schalten wir doch lieber gleich ganz auf stumm.
Dass der Deutschschweizer gleichwohl rasch bereit ist, sich über den Dialekt schon des Nachbarkantons lustig zu machen und bestimmte Mundartfärbungen sogar offen zu verachten, passt da allerdings schon weniger ins Bild. Eine gefühlsmässige Abwertung der Sprache, in der Gottfried Keller und Robert Walser, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt geschrieben haben, ist heute weithin festzustellen. Natürlich führt dabei niemand gerade diese Beispiele an. Sie sind aber mitbetroffen. Würde man auch diese Konsequenz aussprechen, läge der Blödsinn sofort zutage.
Ich denke da stets an die berühmte „Rangfolge“ der Dialekte, von sehr beliebt (Graubünden und Wallis) bis absolut unbeliebt. Am unteren Ende der Skala wird meist die Ostschweiz genannt, noch hinter Züridütsch (vgl. Blogwiese) Eine ähnliche Abstufung ist mir bei deutschen Dialekten noch nie vorgekommen.