Sind Sie auch manchmal auf der Kurve? Oder finden Sie den Rank?

Oktober 27th, 2010
  • Die Affen auf der Kurve
  • Anfang September 2010 waren aus dem Plättli-Zoo in Frauenfeld sechs Berberaffen ausgebrochen. Zwei von Ihnen blieben verschwunden:

    Zwei der aus dem Zoo in Frauenfeld ausgebüxten Berberaffen befinden sich noch immer auf der Kurve. Der Zoo-Besitzer hofft, dass sie bald freiwillig ins Gehege zurückkehren.

    Affe auf der Kurve
    (Quelle: www.thurgauerzeitung.ch)

  • Ausgebüxt oder ausgebüchst?
  • Der Artikel enthält eine interessante sprachliche Mischung: „ausgebüxt“ oder „ausgebüchst“ verzeichnet unser Variantenwörterbuch eindeutig als „D-nord/mittel“, genau wie „stiften gehen“ als Grenzwert des Standards, oder anders ausgedrückt: Ein Teutonismus, der in der Schweiz eher gelesen als geschrieben wird. Die Österreicher sagen dazu auch „abpaschen“. So ein Norddeutsches Wort in der Thurgauer Zeitung?

    Aber richtig stutzig wurden wir denn erst bei der Kurve: „Die Berberaffen befinden sich noch immer auf der Kurve“, was wohl mit „auf der Flucht“ zu erklären ist, vom Kontext. Ist „auf der Kurve sein“ nun speziell Schweizerdeutsch, oder noch ein zweiter versteckter Teutonismus?

  • Kurve kriegen oder Rank finden?
  • Die Kurve, das ist in der Schweiz sonst der „Rank“, und während man in Deutschland versucht „die Kurve zu kriegen“, würde man sich in der Schweiz eher bemühen, den „Rank zu finden“. Aber „auf der Kurve sein“ für „frei sein“? In Nordost und mittewest Deutschland kennt man da noch die „Trebe“, auf der man sein kann, wenn man unterwegs und frei ist. Ein Trebegänger ist der Clochard, Stadtstreicher, Penner oder Tippelbruder.

    Sie merken, so ganz einfach ist das mit den Varianten nicht. Vielleicht ist ja „ausgebüxt“ schon längst kein Grenzfall mehr, sondern Standard geworden, und „auf der Kurve sein“ gibt es überhaupt nicht, sondern sollte eigentlich „hat die Kurve nicht gekriegt“ heissen. Dann doch lieber den Rank finden, oder den Rand halten.

    Wer ist der Kinderschänder Detlef S? — Die Schweizer stimmen über die Ausschaffungsinitiative ab

    Oktober 23rd, 2010
  • Nicht Abschieben sondern Ausschaffen
  • Am 28. November stimmen die Schweizer über die „Ausschaffungsinitiative“. Ausschaffung hilft. Denn wenn Boswichte wie Vergewaltiger und Kinderschänder über die Landesgrenze „geschafft“ werden, was nach einem gehörigen Stück Arbeit klingt, dann sind sie fort, aus dem Sinn, ausser Gefahr und machen keine Arbeit mehr. Denn diese Grenze, die ist so dicht und löcherlos wie ein solides Stück Schweizerkäs. Das beste an der Ausschaffung ist allerdings ihre abschreckende und vorbeugende Wirkung auf alle Straftäter. Wenn so ein Kinderschänder oder Vergewaltiger ausgeschafft wurde, z. B. nach Frankreich oder Deutschland, dann darf er 5 Jahre nicht mehr einreisen. Da steht nun so ein Boswicht an der Grenze, würde gern wieder einreisen um Kinder zu schänden, doch es geht nicht. Einreiseverbot. So ein Mist aber auch. Muss er sich nun ein anderes Land für seine Untaten suchen. So werden Probleme an der Wurzel gepackt und langfristig (für mindestens fünf Jahre jedenfalls) gelöst. Falls er jedoch einfach heimlich einreist und erneut Verbrechen begeht, wird er gleich wieder ausgeschafft. Sowas von praktisch und vorbeugend.

    In Deutschland wird nicht „ausgeschafft„, sondern „abgeschoben„. Ich stell mir dann immer so ein paar Pusher vor, wie bei der U-Bahn in Tokio, die mit vereinten Kräften einen Kriminellen über die Grenze schieben.

    Auf dem Plakat der Ausschaffungsinitiative fanden wir auch den Kinderschänder Detlef S.
    Detlef?

    Detlef S Kinderschänder
    (Quelle: Ausschaffungsinitiave.ch)

    Der Name kommt uns sehr bekannt vor. Es kann sich ja eigentlich nur um Detlef Soost handeln, der in der Schweiz negativ beim MusicStar Projekt auffiel, weil er Schweizer Jungstars so brutal schleifte. Sogar das Schweizer Fernsehen berichtet ausführlich über ihn. Zugegeben, etwas weniger Haare hat er heute, und auf im Bräunungsstudio wird er auch viel Zeit verbracht haben, wie man im Vergleich der beiden Bilder ersehen kann.

    Detlef Soost – ein
    Deutscher Popstarmacher schleift die Schweizer MusicStars

    Aber muss man das gleich als Kinderschändung bezeichnen? Gut zu wissen wo so Kinderschänder herkommen. An ihrem Namen sollt ihr sie erkennen! Heissen Sie Detlef? Raus!

  • Faruk B, Ismir K und Hansruedi M.
  • Ausser Delef S. wird von der Initiative auch Faruk B, Mörder, und Ismir K., Sozialbetrüger mit Bild und Balken vorgestellt. Wir vermissen Hansruedi M., Familienmörder.

    Think positiv! — Die lateinische Schweiz und ihre Dispositive

    Oktober 21st, 2010

    (reload vom 21.03.07)

  • Wer spricht eigentlich Latein in der lateinischen Schweiz?
  • Die Schweiz ist offiziell ein viersprachiges Land. Der Einfachheit halber werden drei dieser vier Teile der Schweiz oft zusammengefasst und als die „lateinische Schweiz“ bezeichnet. Eine durchaus gängige Wortkombination, die sich bei Google-CH 3’650 Mal belegt findet:

    In der lateinischen Schweiz war man sich einig: Was die Schweiz verbindet, ist nicht das Militär, sondern die AHV. Darum wollte die lateinische Schweiz die Armee halbieren und mit dem Eingesparten das Rentenalter auf 62 senken.
    (Quelle: uvek.admin.ch)

    Sprechen die Schweizer dort denn alle Latein? Nein, aber sie sprechen Sprachen, die auf das gesprochene Latein der Römer zurückgehen. Schon zu Zeiten Julius Cäsars sprachen in Rom nur die die gebildeten Senatoren und Schriftsteller das „klassische Latein“, wie wir es heute aus der Schule und durch die Asterix-Lektüre kennen. Es existierte in Rom eine ähnliche Zweisprachigkeit, wie sie heute in der deutschsprachigen Schweiz üblich ist. Für die öffentlichen Anlässe, für Reden im Senat, für Theateraufführungen und jede Art von offiziellem Schriftverkehr wurde das klassische Latein gesprochen und geschrieben, im Alltag sprachen die Menschen aber das sogenannte „Vulgärlatein“, eine Sprache, die sich vom klassischen Latein bereits früh unterschied:

    Mit Vulgärlatein wird das gesprochene im Unterschied zum literarischen Latein bezeichnet. Die Bezeichnung geht auf das lateinische Adjektiv vulgaris („zum Volke gehörig, gemein“) zurück (sermo vulgaris „Volkssprache“) und steht in klassischer Zeit im Gegensatz zum sermo urbanus, der literarisch kultivierten Hochsprache der römischen Oberschicht. Aufgrund der negativen Bedeutungsaspekte des Ausdrucks vulgär ist der neutralere Ausdruck Volkslatein oder gesprochenes Latein oder Sprechlatein vorzuziehen. Das Vulgärlatein ist nicht einfach mit „spätem“ Latein gleichzusetzen und als historische Sprachstufe aufzufassen, da es als Varietät des Lateinischen schon in den frühen Komödien des Plautus und des Terentius bezeugt ist und somit von einer frühen, bereits in altlateinischer Zeit einsetzenden Trennung von gesprochenem und geschriebenem Latein auszugehen ist, (…)
    (Quelle: Wikipedia)

    Ab dem Zeitpunkt, an dem das klassische Latein festgelegt und zur Schriftsprache wurde, entwickelte sich die gesprochene Volkssprache von diesem Sprachstand weg. Die heutigen romanischen Sprachen, darunter auch das Rätoromanische in der Schweiz, gehen alle auf Varianten dieses Vulgärlateins zurück, und damit nur indirekt auf das klassische Latein der Römerzeit.

  • Wir sistieren den Sukkurs
  • Dennoch finden sich in der Schweiz lateinische Begriffe in der Alltagssprache, die hier jeder zu kennen scheint. Wir hatten uns schon früher über die Begriffe „sistieren“ , „rekurrieren“ und den „Sukkurs“ gewundert, die in der Schweiz gängiges Alltagsvokabular sind. Jetzt stiessen wir bei der Lektüre der NZZ am Sonntag gleich zweimal auf das „Dispostiv“. Eine kleine Google-CH Suche brachte weitere Fundstellen:

    Die Gründe dafür sind noch nicht bekannt, da der Entscheid erst im Dispositiv vorliegt.
    (Quelle: www.tagesanzeiger.ch)

    «Unsere Polizei schützt die Wahllokale, die Amerikaner werden unsichtbar bleiben und nur auf unsere Anfrage hin einschreiten», erklärte Abdulrahman Mustafa Fatah, der Gouverneur von Kirkuk, im Gespräch sein Dispositiv.
    (Quelle: www.tagesanzeiger.ch)

    Ich würde mich nie wie die Fussballer getrauen, mich auf das Dispositiv anderer zu verlassen.
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

  • Think postiv, äussere ein Dispositiv
  • Nun, wir müssen zugeben, dass uns aus dem Lateinunterricht vor etlichen Jahren zwar noch ein „Dia-Postiv“ in Erinnerung ist, uns auch gelegentlich nicht alle Mittel zur „Dispostion“ stehen, aber was zum Geier ist ein Dispositiv?
    Der Duden hilft verlässlich weiter:

    Dispositiv das; -s, -e : (besonders schweizerisch)
    a) Absichts-, Willenserklärung;
    b) Gesamtheit aller Personen und Mittel, die für eine bestimmte Aufgabe eingesetzt werden können, zur Disposition stehen.
    (Quelle: Duden.de)

  • Verlassen sie sich auch auf das Dispostiv anderer?
  • Gleich morgen werden wir die freundlichen Schweizer in der S-Bahn befragen, ob sie sich eigentlich grundsätzlich auf das Dispostiv anderer verlassen würden oder eher nicht. Wenn der Ausdruck, wie im Duden bezeugt, wirklich so schweizerisch ist, dass ihn jeder versteht, müssen wir ihn uns als Bereicherung unser (Schweizer)-Weltwissens hinter die Ohren schreiben.

    Dialekt als „Sprache des Herzens“ zu sehen ist Kitsch — Peter von Matt im Tagesanzeiger

    Oktober 16th, 2010
  • Die gefährliche Abwertung des Hochdeutschen
  • Im Tages-Anzeiger vom 16.10.2010 äussert sicher Peter von Matt sehr gelassen über „Dialektwahn und die gefährliche Abwertung des Hochdeutschen“ (Quelle: Tagesanzeiger.ch). Ist Schweizerdeutsch eine „Sprache des Herzens“? Peter von Matt hält als Germanist und emeritierte Professor der Universität Zürich diese Vorstellung für Kitsch:

    Alles, was in der deutschen Schweiz geschrieben und gelesen wird, ist Hochdeutsch oder Standardsprache. Standardsprache ist ein so hässliches Wort, dass man seinen Erfinder aus der Sprachgemeinschaft ausschliessen sollte; ich verwende es an dieser Stelle nur, um öffentlich zu erklären, dass ich es nie mehr verwenden werde. Auch wenn viele Leute ihre SMS im Dialekt schreiben oder in irgendeinem Mundartgewurstel, gilt die Regel: Geschrieben und gelesen wird in der deutschen Schweiz das Hochdeutsche mit seinen schweizerhochdeutschen Eigenheiten, also eben etwa den Spargeln, den Türfallen und den Unterbrüchen.
    (Quelle für dieses und alle weiteren Zitate: Tagesanzeiger.ch)

  • Standarddeutsch oder Hochdeutsch?
  • Ich mag „Standarddeutsch“, weil wir bei diesem Ausdruck nicht immer erklären müssen, dass das „Hoch“ in „Hochdeutsch“ nichts mit hoher Qualität sondern den hohen, und nicht mittleren oder niederen Bereichen des deutschen Sprachraums zu tun haben. Hochdeutsch sollte besser „Süddeutsch“ heissen, oder „Neu-Süddeutsch“, aber die Sprachwissenschaftler haben das anders entschieden.

    „Türfallen“ und „Unterbrüche“ sind keine schweizerdeutschen Eigenheiten, sondern Varianten der Standardsprache, die in nördlichen Gebieten zwar verstanden aber nicht aktiv gebraucht werden.
    Nun hat sich aber in diesem Lande seit einiger Zeit der Wahn ausgebreitet, der Schweizer Dialekt sei die Muttersprache der Schweizer und das Hochdeutsche die erste Fremdsprache. Das ist Unsinn, führt aber zu einer chronischen Einschüchterung der Deutschen in der Schweiz, denen man unterstellt, dass sie «unsere Sprache» nicht beherrschten. In Wahrheit ist in der Schweiz der Dialekt nur für Analphabeten die ausschliessliche Muttersprache.

    Stimmt, sonst würde kein Kind, das im Schweizerdeutschen aufwächst, so rasch beim Ki.Ka alles verstehen, und bei der „Sendung mit der Maus“ sofort abschalten, denn die gibt es noch nicht auf Schweizerdeutsch.

    Unsere Muttersprache ist Deutsch in zwei Gestalten: Dialekt und Hochdeutsch, und zwar so selbstverständlich und von früher Kindheit an, wie das Fahrrad zwei Räder hat. Wir wachsen mit beiden Gestalten unserer Muttersprache auf, erfahren und erweitern unsere Welt in beiden Gestalten ein Leben lang, und unsere Autorinnen und Autoren schreiben, wenn sie etwas taugen, ein Hochdeutsch, das dem Ausdrucksreichtum keines deutschen oder österreichischen Autors nachsteht. Ist es doch ihre Muttersprache voll und ganz.

  • Zweisprachigkeit ist keine Schweizerfähigkeit
  • Diese Zweisprachigkeit findet sich auch in vielen Gegenden Deutschlands. Jeder Deutsche spricht Dialekt, sei es nun Rheinisch oder Hessisch oder Hanseatisch oder Schwäbisch. Selbst im viel bemühten Hannover wird nicht keine künstliche Bühnensprache gesprochen, sondern es wimmelt von Varianten wie „Berg“ und „Berch“, „Wurst“ und „Wurscht“.

    Nur haben sie noch deren zweite Gestalt daneben, in der sie sich mit den Landsleuten unterhalten und vielleicht auch gelegentlich ein Hörspiel schreiben. Der verbreitete Wahn, nur der Dialekt sei die Muttersprache der Deutschschweizer, beruht auf einer Mischung von Denkschwäche, Sentimentalität und Borniertheit. Und er hat bedenkliche Folgen. Er beschädigt die Liebe zum Deutschen und damit die Kulturfähigkeit vieler Schweizer. Denn wer seine Muttersprache nicht liebt, arbeitet auch nicht mit Lust daran sein Leben lang. Wer aber nicht sein Leben lang mit Lust an seiner Muttersprache arbeitet, rutscht langsam weg aus den schöpferischen Zonen seiner Kultur.

    Borniertheit ist hart, aber angemessen. „Liebe zum Deutschen“? Um Gotteswillen, das ist doch die Sprache von diesem arroganten Volk aus dem grossen Kanton!

  • Es leben die Varianten!
  • Die deutschschweizerischen Dialekte sind eine bunte Wunderwelt, die gerade deshalb so tausendfach blüht und wuchert, weil es keine schriftliche Form für sie gibt. Wer dennoch eine Postkarte, eine SMS oder, was schon viel seltener geschieht, einen ganzen Brief im Dialekt schreibt, kann dabei gegen keine orthografischen Regeln verstossen. Und was den Wortschatz anbelangt, variiert dieser fast von Dorf zu Dorf. Ein berühmtes Beispiel ist die Ameise. Die nennt sich in der Deutschschweiz so:
    Ämesse, Omeisele, Äbese,Aweissi, Ameisi, Uweisse,Wurmeissi, Wurmeisle, Wurmasle, Harmäusli, Ambeisse, Umbeisse, Hampeissi, Lombeisse, Empeisele, Ambitzli, Wumbitzgi, Humbetzgi, Ambessgi, Umbasle, Hobäsle,Wurmasle, Wambusle, Bumbeisgi

    Sagenhaft, diese Vielfalt! Aber dieses Phänomen der Varianten macht nicht an der Grenze zur Deutschland oder Österreich halt. Peter von Matt zitiert als weiteres Beispiel den „Brotanschnitt“, für den jeder Deutsche auch jeweils zwei Wörter kennt. Eins vom Vater und eins von der Mutter gelernt, z. B. „Knust“ oder „Knäuschen“ oder „Kanten“ oder „Knäusel“ oder „Ranft“ (vgl. Blogwiese)
    Wie sagen Sie zum Brotanschnitt?
    Aus der Schweiz listet Peter von Matt diese Varianten:

    Aaschnitt, Aahau, Aahäulig,Aahäueli, Obenäbli, Deckel,Gupf, Güpfi, Änggel, Münggel, Mürrgi, Mutsch, Bode, Chäppli,Aamündli, Gruschte, Chropf, Wegge, Zipfel, Scherbitz, Reifteli, Mugerli, Houdi, Gutsch, Götsch, Fux, Fuudi
    Angesichts der zwei lautmalerischen Litaneien wird auch deutlich, dass niemand je imstande sein wird, den deutschschweizerischen Dialekt als solchen zu lernen. Es gibt ihn als feste Grösse gar nicht, es gibt ihn nur als ungeheure, durcheinander wogende sprachliche Wolkenmasse. In dieser findet jeder Deutschschweizer seinen Winkel, in dem er besonders zu Hause ist, aus dem seine eigene Variante und Abschattierung der schweizerdeutschen Mundart stammt. Dass er diesen Winkel, diese Variante liebt, ist verständlich, und nichts ist dagegen einzuwenden. Aber wenn er deshalb jene Gestalt seiner Muttersprache abwertet, über die er mit der ganzen deutschen Sprachkultur verbunden ist und über die der geistige Austausch, das Geben und Nehmen denkender Köpfe wesentlich geschieht, verfehlt er sich gegenüber einem unersetzlichen Stück seiner Heimat.

    Traurig, aber wahr. Wer sich nicht öffnet für seine „zweite Muttersprache“ wird rasch abgetrennt von der ganzen deutschen Sprachkultur. Da hilft es auch nicht, fleissig Stefan Raab zu schauen.

  • Die Sprachfertigkeit schwindet
  • Der Wahn, der Dialekt sei die einzige und eigentliche Muttersprache, hat zur Folge, dass sich manch ein Deutschschweizer das Recht herausnimmt, auch mit Deutschen und Österreichern sofort und ausschliesslich im Dialekt zu sprechen. Das ist ungehobelt, bäurisch und stillos. Noch schlimmer aber ist, dass dieses Verhalten den blitzschnellen Wechsel zwischen den zwei Gestalten der Muttersprache, der in der Schweiz lange Zeit ganz selbstverständlich praktiziert wurde und die Sprachfertigkeit des Deutschschweizers ebenso bewies wie seine Sprachfreude, zusehends zum Verschwinden bringt.

    Dafür nimmt aber die Fähigkeit der zugewanderten Deutschen zu, die unterschiedlichsten Dialektvarianten zu verstehen. Ein Geben und Nehmen eben.

    Wenn zwei Schweizer miteinander plaudern, tun sie dies im Dialekt. Das ist gut so und richtig. Tritt ein Deutscher hinzu, schalten sie um ins Hochdeutsche. Auch das wäre gut so und richtig. Nur tun sie es heute immer weniger, die Jungen fast überhaupt nicht mehr. Der Deutsche soll bitte sehr die Mundart verstehen. Das ist schlicht arrogant. Und einfältig, weil es unterstellt, dass das Hochdeutsche nicht unsere Sprache sei. Die Folge ist eine schleichende Provinzialisierung, die man als solche nicht erkennen will, auf die man sich vielmehr noch etwas einbildet. Hier liegt ein echtes nationales Problem vor, auch wenn es nur für die Deutschschweiz gilt.

    Für mich ist diese Verhalten nicht „arrogant“, sondern es gibt mir das angenehme Gefühl, nicht anders als andere sprachlich behandelt zu werden und damit integriert zu sein. Traurig und arrogant wird es nur, wenn die Fähigkeit in der Standardsprache zu sprechen tatsächlich schwindet. Meist ist sie ja da, im Verborgenen zwar, doch leider oft ein bisschen eingerostet. Ich freue mich, wenn ein Schweizer Spass daran hat, souverän und ohne Mühe und Komplex mal kurz auf das Standarddeutsche umzuschalten, in jeder Situation des Alltags, nicht nur wenn er einem etwas verkaufen will oder wenn ich als deutscher Tourist hilflos durch die Landschaft irre.

    Bedenklich ist dabei nicht so sehr das schlechte Benehmen. Mangelnder Anstand bestraft sich ja in der Regel selbst. Bedenklich ist der Rückgang der sprachlichen Beweglichkeit, der Ausdrucksfreude und syntaktischen Eleganz. Der hochdeutsche Wortschatz friert auf dem Volksschulniveau ein. Und die Medien tun nichts dagegen, obwohl sie selbst immer noch ein sehr passables Deutsch schreiben und reden. Sie fürchten sich vor der Volksseele, vor den Leserbriefen, vor den Kitschgefühlen, wonach der Dialekt die Sprache des Herzens sei, das Hochdeutsche aber kalt und fremd.

  • Trösten kann man auch auf Norddeutsch
  • Ja, und keine Mutter in Niedersachsen vermag ihr Kind in dieser kalten Sprache zu trösten, keine Liebeslyrik funktioniert auf Hochdeutsch, und Bettgeflüster? Na, da schalten wir doch lieber gleich ganz auf stumm.

    Dass der Deutschschweizer gleichwohl rasch bereit ist, sich über den Dialekt schon des Nachbarkantons lustig zu machen und bestimmte Mundartfärbungen sogar offen zu verachten, passt da allerdings schon weniger ins Bild. Eine gefühlsmässige Abwertung der Sprache, in der Gottfried Keller und Robert Walser, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt geschrieben haben, ist heute weithin festzustellen. Natürlich führt dabei niemand gerade diese Beispiele an. Sie sind aber mitbetroffen. Würde man auch diese Konsequenz aussprechen, läge der Blödsinn sofort zutage.

    Ich denke da stets an die berühmte „Rangfolge“ der Dialekte, von sehr beliebt (Graubünden und Wallis) bis absolut unbeliebt. Am unteren Ende der Skala wird meist die Ostschweiz genannt, noch hinter Züridütsch (vgl. Blogwiese) Eine ähnliche Abstufung ist mir bei deutschen Dialekten noch nie vorgekommen.

    Mein Abenteuer Schweiz — Was der Theatermann Michael Schindhelm bei den Eidgenossen erlebte

    Oktober 15th, 2010

    (reload vom 20.3.07)

  • Schweizerdeutsch klingt wie das Knirschen von Ziegelsteinen
  • Wir lasen in dem wunderbaren Buch „Mein Abenteuer Schweiz“ von Michael Schindhelm:

    Die Inkompatibilität Schweizer Schweizer Kommunikationstechniken ist weder wegzudiskutieren noch wegzuschweigen. Oskar Wilde dazu: „Sie benutzen eine unaussprechliche Sprache, die dem Knirschen von Ziegelsteinen gleicht: falls ein Schweizer in Versuchung kommt zu sprechen, wird ihn niemand verstehen – ausser vielleicht ein Geologe.“

    Es drängt sich uns der Verdacht auf, dass Oskar Wilde in Graubünden oder im Wallis weilte und dort nicht mit charmanten Skilehrer zu tun hatte, sondern mit unwirschen Schankwirten. Michael Schindhelm schreibt weiter:

    Das ist selbst als Satire scharfer Tobak. Bedauerlicherweise leisten die Eidgenossen selbst diesem Klischee Vorschub. Es ist unmöglich, in ihrer Sprache mit ihnen zu kommunizieren. Irgendwie scheint ihnen das unangenehm zu sein, und häufig entschuldigen sie sich Deutschen gegenüber für ihr angeblich „ungeschlachtes Kauderwelsch“
    (Quelle: Michael Schindhelm „Mein Abenteuer Schweiz“ , Echtzeit Verlag, Basel 2007, S. 30)

    Michael Schindhelm Mein Abenteuer Schweiz

    Michael Schindhelm verarbeitet in die Buch seine Erlebnisse als Direktor und Intendant des Theaters in Basel, wo er seit 1996 zehn Jahre lebte. Bis zum 15. Februar 2007 war er Generaldirektor der Oper Berlin.

  • Schriftdeutsch oder Neu-Süd-Deutsch sprechen?
  • Wir lesen weiter:

    Nein, das ist wirklich peinlich! Sobald sie einen Deutschen in der Runde ausgemacht haben, wechseln sie, auch untereinander, in eine auf Hochdeutsch gegründete Alltagskunstsprache mit helvetischem Phonetikflair („Es nimmt mich wunder, ob die Ursi den kaputten Velopneu angetönt hat..“), für die sie den Begriff „Schriftdeutsch“ gefunden haben.
    (Quelle für dieses und alle folgenden Zitate: Michael Schindhelm „Mein Abenteuer Schweiz“ , Basel 2007, S. 30)

    Wie wahr! Es ist eine „Alltagskunstsprache“, die gesprochen wird. Denn eine Schriftsprache kann man nicht sprechen, weil sie ist zum Schreiben da. Die Schweizer tun es dennoch, um bloss das Wort „Hochdeutsch“ nicht in den Mund nehmen zu müssen. Das klingt nach „hochtrabend“, nach „hochgestellt“ und „hochnäsig“. Alles Attribute, die man auch mit den Sprechern des Hochdeutschen verbindet. Doch dabei soll das arme „Hoch“ in „Hochdeutsch“ nicht an „hohe Qualität“ sondern an die „Hohen Berge“ im Neu-Hoch-Deutschen Raum erinnern, der sich vom Mitteldeutschen und Niederdeutschen der tiefergelegenen Küstengegend abgrenzt. „Neu-Süd-Deutsch“ wäre also eigentlich die korrekte Bezeichung für die Deutsche Standardsprache. Aber erklären Sie das mal einem Schweizer. Der hält Sie gleich für „hochnäsig“, wenn sie nur die hohen Berge als Namensgeber für das Standarddeutsche erwähnen.

    Fast jeder Schweizer erinnert an einen Musterschüler, wenn er Schriftdeutsch spricht.

    Klar, denn es wird „hyperkorrekt“ gesprochen, wie in der Schule vom Lehrer beigebracht. Sprechen wie man schreibt, mit vollendetem Perfekt „angetönt hat“ und niemals der einfachen Vergangenheit.

    Es war für den Zuzügler eine langwierige emotionale Einführung in die Gesellschaft der Eidgenossen nötig, um mit Pokerface dem Übersetzungsvorgang zuzuschauen, den der Einheimische mit sich selbst abmachte, wurde er von einem Zuzügler angesprochen. Es dauerte in der Regel eine bange Viertelsekunde, bis die ins Schriftdeutsche übersetzte Antwort kam.

  • Wieviel Viertelsekunden hat eine Sekunde?
  • Das haben wir anders beobachtet. Es dauert nicht „eine“ bange Viertelsekunde, sondern derer vier.

    Die erste Viertelsekunde vergeht, wenn dem Zuzügler zugehört wird. Die zweite, wenn das soeben gehörte „on-the-fly“ übersetzt wird ins heimische Idiom. Die dritte Viertelsekunde ist notwendig, um die Antwort zu formulieren, und die letzte Viertelsekunde wird, wie Michael Schindhelm es richtig beobachtet, gebraucht für die adäquate Übersetzung ins Schriftdeutsche. Die gleiche Zeitverzögerung findet dann umgekehrt noch einmal statt bei einem Deutschen, der einem Schweizer zuhört und antwortet.

    Ich habe es irgendwann aufgegeben, meinen Gesprächspartnern gegenüber „anzutönen“, sie könnten gern auch in ihrer Sprache verweilen, denn ich wusste, sie würden unwillkürlich umschalten, hätte ich erst mal den Mund aufgemacht.

    Lange ist es her, dass wir auch solche Erfahrungen machen durften. Niemand schaltet mehr um, sobald wir den Mund aufmachen. Die Zeiten haben sich geändert. Als der Tessiner TSI Journalist Franco Valchera in Zürich eine Norddeutsche als Lockvogel auf dem Bellevue losschickte, um eine Passantin auf knappen Hochdeutsch nach der richtigen Strassenbahnlinie zum Hauptbahnhof zu fragen, antwortete diese ohne mit der Wimpern zu zucken sofort auf Züridütsch.

  • Sprechen Sie auch Schriftfranzösisch?
  • Für die Deutsche kein Problem, wenn sie schon eine Weile hier ist. Aber woran konnte das die Zürcherin erkennen? Sie ging davon, dass sie verstanden wird, war ihre freundliche Antwort auf die Rückfrage des Journalisten. Wie sich die Westschweizer oder Tessiner fühlen, wenn ihre Hochdeutsche Frage sofort auf Schweizerdeutsch beantwortet wird? Wahrscheinlich schaltet man dann in Zürich direkt um auf Französisch oder Italienisch, alles kein Problem. Ist das dann auch „Schriftfranzösisch“ und „Schriftitalienisch“?

  • Unter Rittern
  • Viele Deutsche empfinden es als „Ritterschlag“, wenn Schweizer im Gespräch mit ihnen nicht umschalten auf Hochdeutsch Schriftdeutsch, sondern in ihrer Sprache weitersprechen. Demnach leben wir in einer äusserst ritterlichen Schweizer Gesellschaft. Es quietscht nur manchmal ein bisschen bei den Rüstungen.

  • Leben im Basler Daig
  • Durch Michael Schindhelms amüsantes Buch lernten wir gleich noch ein neues Schweizerdeutsches Wort: Den Basler „Daig“. Wer meint, dass die Eidgenossenschaft eine Gesellschaft ist, welche die Aristokratie überwunden hat, der lese diese Erklärung von Wikipedia:

    Daig (dt. «Teig»; ausgesprochen [dajg]) ist eine im Raum Basel und in der Deutschschweiz geläufige Bezeichnung für diejenigen Familien der Stadtbasler Oberschicht, die seit Generationen das Bürgerrecht besitzen. Es handelt sich um eine gesellschaftliche Gruppe, die gekennzeichnet ist durch eine ausgeprägte Selbstabgrenzung, sowohl abwärts (gegenüber Mittelstand und Unterschicht) als auch seitwärts (gegenüber «Neureichen»). Die soziale Geschlossenheit und Wirkungsmacht des «Daig» haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark abgenommen.
    (Quelle: Wikipedia)

    Lass mich raten: Daig-Mitglieder erkennt man doch bestimmt an Autokennzeichenen mit 3-4stelligen Nummern?

    Kein Wunder dauerte es nicht lange, bis Schindhelm als Theatermann mit dieser Basler Teigware aneinandergeriet. Mehr darüber in seinem Buch, das wir jedem Zuzügler und Alteingesessenen als Lektüre wärmstens empfehlen können.