Gehen Sie auch auf der Kante? — Kantengang und Kanterverlust in der Schweiz

Oktober 30th, 2009

(reload vom 9.10.06)

  • Einen Kanten kann man essen
  • Wenn man gute Zähne hat, denn es handelt sich hier um die Norddeutsche Variante des variantenreichen „Brotanschnitts“. Ein Kanten Brot, auch Knust genannt, das ist sowohl ein Stück Brot als auch der Anschnitt des Brotes.

  • Kanter ist Englisch für Galopp
  • Dann gibt es da noch den „Kanter“, nur unter Pferdefreunden bekannt. Es handelt sich hier um einen langsamen Galopp, und das Wort kommt aus dem Englischen. Viele Fachbegriffe aus dem Pferdesport sind im Deutschen und im Englischen fast gleich. So finden wir z. B. „das Fohlen“ = „the foal“, oder „den Jährling“ (ein einjähriges Pferd) = „the yearling“. Den Pferdgang „the canter“ hat man gar nicht erst übersetzt sondern einfach als „Kanter“ übernommen:

    Der Kanter, auch Canter, ist ein leichter, lockerer Galopp, der zum Auflockern und Entspannen dienen kann, aber auch zum Konditionsaufbau junger Pferde. Diese Gangart kann von Pferd und Reiter über lange Strecken durchgehalten werden. Das Wort kommt von englisch „Canter„, Kurzform für „Canterbury Galopp“ hergeleitet von den Pilgern, die nach Canterbury ritten. Im amerikanischen Sprachraum bedeutet „canter“ ein langsamer Galopp im Gegensatz zu „galopp“.
    (Quelle: Wikipedia)

  • In Deutschland ist war Kanther ein Politiker
  • Wir Deutschen kennen „Kanther“ als knallharten ehemaligen Innenminister von Helmut Kohl. Für uns war er der die absolute Verkörperung eines echten „Law & Order“ Mannes, umso erstaunlicher, als er später im Zug der CDU- Schwarzgeld-Affäre „Der Untreue für schuldig“ befunden wurde:
    Kanther veurteilt
    (Quelle: Spiegel-Online)

    Dann war da noch Christoph Blochers Besuch in der Türkei, über den die NZZ am Sonntag vom 8.10.06 schrieb:

    „Christoph Blochers Kantengang in der Türkei“

    Kantengang Christoph Blochers

    Diesen „Kantengang“ kanten kannten wir bisher noch nicht. Er scheint eine Schweizer Spezialität zu sein, denn unser Google-CH findet 86 Belege, während es bei Google-DE nur 18 Stellen sind.

    Das wird in der Schweiz „Eingeladen zu einem Kantengang“ (Quelle zhwin.ch, oder es heisst in der NZZ:

    Was nun aber folgt, ist ein heikler und schwieriger Kantengang zwischen Utopie und Zynismus
    (Quelle: nzz.ch)

    An anderer Stelle, auch in der NZZ finden wir:

    Gleichwohl überwiegt die Auffassung, dass der eingeschlagene Kantengang richtig sei.
    (Quelle: nzz.ch)

  • Ist ein Kantengang eine Gratwanderung?
  • In der Schweiz, dem Alpenstaat mit seinen steilen Wegen, Graten und Schluchten, läuft man also nicht auf dem Grat, sondern auf der Kante? Wir sind uns nicht sicher, ob der „Kantengang“ wirklich von der „Kante“ kommt, oder nicht doch eine langsame Gangart bezeichnet, wie beim langsamen Galopp der Pilger auf dem Weg nach Canterbury. Oder geht es immer „hart an der Kante“ entlang, kurz vor dem Absturz? Und wir Naivlinge glaubten, die „Kante“ sei mit der „Waterkant“ ein Begriff, den nur Küstenbewohner verwenden.

  • Kantersieg und Kanterniederlage
  • Wer im langsamen Galopp einen Sieg erlangt, der hat einen „Kantersieg“ errungen, einen einfachen Sieg. Den sollten Sie als gemeindeutschen Begriff kennen, auch wenn Sie keine Ahnung vom Reiten haben. Die „Kanterniederlage“ hingegen bezeichnet nur in der Schweiz als Variante eine „hohe Niederlage“, ein Debakel. Zitat aus unserem Variantenwörterbuch:

    „Vor zwölf Jahren wollten die Grünen mit [dem Begehren] „100’000 Franken sind genug“ die Löhne aller bernischen Staatsangestellten einfrieren – und erlitten gegen das vereinte Polit-Establishment eine Kanterniederlage (Facts 11.5.2000, Internet)
    (Quelle: Variantenwörterbuch DeGruyter, S. 384)

    Sollen wir nun zukünftig weiter auf „Graten wandern“ oder auf „Kanten gehen“? Fragen wir doch einfach den Duden:

    Grat, der; -[e]s, -e [mhd. grāt = Bergrücken, Rückgrat; Gräte, Spitze, Stachel, ahd. grāt = Rückgrat, eigtl. = Spitze(s), Hervorstechendes]:
    1. oberste Kante eines Bergrückens; [scharfe] Kammlinie: ein schmaler Grat; den Grat eines Berges entlangwandern; Ü auf einem schmalen Grat der Demokratie wandern.
    (Quelle: duden.de)

    Jetzt ist alles klar. Kante und Grat sind synonym, was wir Flachländer natürlich nicht ahnen konnten.

    Eine Millionen Besucher auf der Blogwiese — Mir wird ganz sturm

    Oktober 29th, 2009
  • Irgendwann heute vormittag…
  • Die Blogwiese.ch ist seit dem 1. September 2005 online. In der Zeit wurden bis heute 1’176 Postings freigeschaltet und und 21.975 Kommentare abgegeben. Aber richtig rund ist heute im Laufe des Tages (wahrscheinlich gegen Mittag) die Zahl der Besucher, wenn sie die 1’000’000 Marke überschreitet.

    Hier der Stand von gestern abend, ca. 21.15 Uhr:

    kurz vor einer Millionen visits

  • Wer wird der Millionste Besucher?
  • Über diesen Sitemeter-Link können Sie es selbst überwachen. Viel Glück! Heute müssen wir feiern, morgen geht es dann wie gewohnt weiter.

  • Wird ihnen auch manchmal sturm?
  • Einen neuen alten, dazu passenden Schweizerausdruck haben wir erst neulich gelernt: Mir wird ganz „sturm„, bei den vielen Besuchern. Das passt zum Herbst und zu den nahenden Winterstürmen, wenn es einem „sturm“ wird. Bei Wikipedia finden wir die Erklärung:

    sturm: im Schweizerdeutsch ein Synonym für Schwindel (man sagt z. B. „mir ist sturm“)
    (Quelle Wikipedia)

    Wie man das wohl steigert? Sturm, sturmer am stürmischsten?

  • Nachtrag: Der Millionste Besucher war ein Dolphin aus Zürich
  • Um 8:17 Uhr war es bereits soweit. Der Millionste Besucher kam aus Zürich. Das wissen wir über ihn oder sie:

    Der millionste Besucher der Blogwiese

    … dann mal weiter zur zweiten Millionen. Kann sich nur noch um 3-4 Jahre handeln.

    Wann ist endlich Schluss mit endlich? —- Schlussendlich in der Schweiz

    Oktober 28th, 2009

    (reload vom 5.10.06)

  • Wann ist endlich Schluss mit endlich
  • Seit wir in der Schweiz leben, lernen wir wunderbare Wörter der Deutschen Sprache kennen, von deren Existenz wir bislang nicht einmal etwas ahnten. Manche Wörter hörten wir allerdings so oft, dass sie dann doch irgendwann anfingen uns zu nerven. Es sind Modewörter, allerdings ausgesprochen Schweizerische Modewörter. Eins davon ist „schlussendlich“.

    Google-CH findet „schlussendlich“ 420´000 Mal. Nichts Besonderes, bei Google-DE wird es sogar 1‘200’000 Mal gefunden, es ist ein normales Wort der Deutschen Sprache. Aber ist es wirklich Standarddeutsch?

    Wir befragen den Duden und finden bestätigt, dass es sich hier um einen typisch Schweizerischen Begriff handelt:

    schlussendlich (Adv.) (bes. schweiz.):
    schließlich, endlich, am Ende, zum Schluss:
    Schwer zu sagen, welches Motiv die Dora Flinner schlussendlich dazu bestimmte, diesen Kampf für sich zu wagen (natur 4, 1987, 32).
    (Quelle: duden.de)

  • Schliesslich ist doch auch sehr schön
  • Also liebe Schweizer, um mal zum Schluss ein bisschen Varianz und Abwechslung in Euer perfektes Schweizer Hochdeutsch zu bringen, tut uns endlich den Gefallen, und verwendet am Ende etwas anderes als immer nur schlussendlich. Obwohl, am Ende wird das nie verwendet, und am Schluss eines Satzes haben wir es auch nie gesehen. Nein, es steht ausschliesslich auf dem beliebten ersten Platz, dem „Vorfeld“ des Satzes, und führt eine „Vorfeldbesetzung“ durch.
    Tages-Anzeiger 19.09.06:

    Schlussendlich werden sich die Diplomanden noch der mündlichen Prüfung stellen müssen.
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Tages-Anzeiger 03.10.06:

    «Schlussendlich geht es aber um die Inhalte, nicht um die Anzahl Hörer», denkt hingegen Gustavo Salami.
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Tages-Anzeiger 7.1.2005:

    Schlussendlich muss die Ausbildung sowohl als Instrument der Strategieumsetzung wirken, als auch dazu beitragen, dass Mitarbeiter sich entwickeln und ihr volles Potential zur Geltung bringen können.
    (Quelle: Tages-Anzeiger

    Dies zwingenden Schlussfolgerungen mit „schlussendlich“ am Satzanfang beginnen uns tatsächlich auf die Nerven zu gehen. Wann ist endlich Schluss mit endlich? Oder kann man sich auch daran gewöhnen? Schlussendlich redet doch jeder wie er/sie es für richtig hält. Wir denken dann einfach nicht hin, wenn wir es beim nächsten Mal hören müssen.

    Was alles so passiert beim Tempelbau — Neues aus der Schweizer Politiksprache

    Oktober 27th, 2009

    (reload vom 4.10.06)

  • Was passiert? Was geht?
  • “Qu’est-ce qui se passe?“ fragen die Westschweizer, wenn Sie wissen wollen, was abgeht. Wörtlich: „Was ist das was sich passiert?„. Kommen Sie dann nach Zürich oder Deutschland, wird schnell die Frage „Was passiert?“ daraus. Ein korrekter Satz des Deutschen, der doch so nie gesagt werden würde: „Was IST passiert?“ oder „Ist was passiert?“ sind okay, Letzteres dann meinetwegen auch in Kurzform „ (ist) was passiert?

  • Was in der Schweiz passiert

  • Anders in der Schweiz. Da passiert eine ganze Menge. Für uns war das nur möglich in der Kombination mit „ist passiert“. Bisher kannten wir „passieren“ an sich nur noch aus der Küche, wenn wir in Frankreich erleben durften, wie das leckerste Gemüse gnadenlos gleich gemacht wurde, in dem es der „chef de cuisine“ durch ein Sieb „passierte“, so dass nur noch Babybrei und grüner Gemüseschleim unten dabei heraus kam.

    Die Franzosen kaufen sich solch „passiertes Gemüse“ auch in Dosen, fertig gekocht, muss man nur noch aufwärmen. An sich lecker, wenn da nicht diese grüne Farbe und die sämige Konsistenz zu bemängeln wären.

  • Bau mir noch ne Säule
  • Wir hörten in der Nachrichtensendung „10 vor 10“ im Schweizer Fernsehen am 19.09.06 einen Bericht über die „dritte Säule“. Die Schweizer sind nämlich passionierte Tempelbauern, und so ein richtiger Tempel wäre nicht vollständig ohne ein paar anständige Säulen. Zwei Säulen hat jeder, für die „dritte Säule“ muss man selbst Vorsorge tragen, in der Schweiz gern als „Sorge heben“ bezeichnet. Nicht „Säule(n) heben“, das können nur Gewichtsheber oder Schweinezüchter. Die drei Säulen meinen die Altersvorsorge:

    Drei Säulen braucht der Mensch
    (Quelle Grafik: bankcoop.ch)

    Wikipedia meint dazu:

    Die Vorsorge in der Schweiz basiert auf drei Säulen, dem sogenannten „Drei-Säulen-System“. Die Darstellung des 3-Säulenprinzips erfolgt in der Praxis unterschiedlich, insbesondere können die Meinungen betreffend der unter der 2. Säule zu erwähnenden Versicherungen divergieren. In der Bundesverfassung Art. 111 wird bei der Verwendung des Ausdruckes „…drei Säulen…“ für eine der Säulen nur die „Berufliche Vorsorge“ (Pensionskasse) erwähnt. Vielfach werden jedoch bei der Darstellung eines umfassenden Drei-Säulensystems alle Versicherungen im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit (obligatorische und freiwillige) als 2. Säule bezeichnet, resp. dargestellt
    (Quelle: Wikipedia)

    Und jetzt wurde die dritte Säule Thema im Ständerat. Erika Forster aus St. Gallen hatte den Vorstoss beigebracht, eine Säule „3C“ einzuführen. Im dem Beitrag auf „10 vor 10“ hiess es dann:


    „Forsters Idee
    passierte im Ständerat mit grossem Mehr“

    Es geht uns hier nicht um das „Mehr“, die Schweizer Variante von „Mehrheit“ (vgl. Blogwiese). Es geht ums „passieren“.
    Da ist „es passiert“, genauer gesagt „passierte die Idee“. Kennen wir vom Schachspielen, dort gibt es den besonderen Zug „en passant“ = „im Vorbeigehen“.

    Mal schauen, ob das öfters passiert in der Schweiz:

    Der Gestaltungsplan passierte in der Schlussabstimmung mit 201:3 Stimmen.
    (Quelle: www.zuonline.ch)

    Es sind also Pläne, Vorschläge oder Motionen die durch eine Abstimmung müssen, wenn sie „passieren“.

    Kennt der Duden das eigentlich?

    passieren (aus gleichbed. fr. passer, dies über das Roman. zu lat. passus „Schritt, Tritt“, Bed. 2 aus fr. se passer):
    1.
    a) durchreisen, durch-, überqueren; vorüber-, durchgehen;
    b) durchlaufen (z. B. von einem Schriftstück).

  • Ja wo laufen sie denn durch, die Schriftstücke?
  • Aber es durchläuft doch nicht, sondern es wird in einer Abstimmung besprochen. Egal, wir sind grundsätzlich gern dabei, wenn irgendwo was los ist. Und hier passiert ganz offensichtlich häufig mal was. Wieder ein kleines Stückchen Schweizer Politiksprache gelernt.

    Fleisch oder Käse? — Verwirrungen beim Probewochenende

    Oktober 26th, 2009

    Probewochenende mit Fleisch
    Am letzten Wochenende waren wir auf einem Probenwochenende mit der Neuen Bülacher Kantorei zu Gast in Dietikon. Nein, nicht Dintikon oder Dietlikon, sondern „Dietikon“. Die Welschen haben ihren Spass daran, dass man in der Deutschschweiz gern Orte bewohnt, die auf „-kon“ enden, was wie „con“ klingt und auf Französisch so viel wie „Depp“ heisst. In ihren Ohren klingt das dann wie „Deppenhausen“ (einem hübschen Ort im Schwäbischen).

  • Was ist ein Fleischteller?
  • Es wurde fleissig geprobt, und anders als der Name des Probenortes vermuten lässt, wurde bei den Mahlzeiten nicht auf „Diät“ geachtet. Wir durften vorab wählen, ob wir zum Mittag einen Fleisch- oder einen Käseteller essen wollten. Ein Fleischteller, das klingt wie ein Berg Fleisch mit Speck und Würsten, ist aber in der Deutschschweiz nichts anderes als ein Teller mit „Aufschnitt“.

    Fleischteller mit Käse
    (Quelle Foto: brotmacher.ch)

    Eine Sangesschwester, die aus Lyon stammt, mit einem Ostfriesen verheiratet ist und schon lange in Dietikon lebt, zeigte deutlich ihre Enttäuschung, denn das was da vor ihr stand und als „Fleisch“ angekündigt war, hatte sie sich als „de la viande“ übersetzt. Bei genauer Betrachtung konnte es für sie aber allenfalls als eine „assiette de charcuterie“ durchgehen, also als einen „Wurst- und Aufschnittteller“ mit drei „t“.

  • Bitte immer ohne Butter
  • Nicht so bei den „Suisse-Toto“. Da ist das „Fleisch“, wenn Wurst auf den Tisch kommt. Kredenzt mit Brot, aber ohne Butter, Verzeihung „Anker“ wollte ich schreiben. Wurst aufs Brot geht auch ohne Butter, so wie Gipfeli am Morgen auch ohne Konfitüre oder Anker genossen wird, ganz puristisch. „Ist ja schon Butter drin im Gipfeli“, lautet die Begründung, und wahrscheinlich Fett genug in den Wurstwaren. Nun, es hat uns gleichwohl geschmeckt.

    Kaffee Complet und Fleischteller als Abend Menü
    (Quelle Foto: sunnewies.ch)

  • Kaffee Complet und du bist vollständig
  • Am Abend gab es dann nach dem warmen „Nachtessen“, das wir Deutsche „Abendbrot“ nennen, auch wenn es kein Brot gibt, noch Kaffee. Auch dies ist eine typisch Schweizerische Erfindung und wird als „Kaffee Complet“ bezeichnet, d. h. sogar Milch und Zucker sind dabei, muss man nicht extra bestellen, selbst mitbringen oder bezahlen, alles komplett! Wir fragen uns immer, wie Menschen am Abend nach einer Portion Kaffee noch einschlafen können. Entweder ist das für sie Gewohnheitssache, oder der Kaffee ist so dünn, dass jeder Schweizer danach perfekt träumen kann. Träumen konnten wir gut nach dem Chorwochenende, und die ganze Nacht probten wir weiter fleissig im Schlaf A. Vivaldis Magnificat und Gloria, permanent und ohne Unterbruch, quasi in der Endlosschleife. Barockmusik klebt schön im Ohr.

    Die Aufführung ist am Sonntag den 13.12.09 um 17:00 Uhr in der Ref. Kirche Bülach. Der Vorverkauf beginnt am Freitag, 30.10.09, in der Altstadtbuchhandlung Bülach.