Gehen Sie auch auf der Kante? — Kantengang und Kanterverlust in der Schweiz
(reload vom 9.10.06)
Wenn man gute Zähne hat, denn es handelt sich hier um die Norddeutsche Variante des variantenreichen „Brotanschnitts“. Ein Kanten Brot, auch Knust genannt, das ist sowohl ein Stück Brot als auch der Anschnitt des Brotes.
Dann gibt es da noch den „Kanter“, nur unter Pferdefreunden bekannt. Es handelt sich hier um einen langsamen Galopp, und das Wort kommt aus dem Englischen. Viele Fachbegriffe aus dem Pferdesport sind im Deutschen und im Englischen fast gleich. So finden wir z. B. „das Fohlen“ = „the foal“, oder „den Jährling“ (ein einjähriges Pferd) = „the yearling“. Den Pferdgang „the canter“ hat man gar nicht erst übersetzt sondern einfach als „Kanter“ übernommen:
Der Kanter, auch Canter, ist ein leichter, lockerer Galopp, der zum Auflockern und Entspannen dienen kann, aber auch zum Konditionsaufbau junger Pferde. Diese Gangart kann von Pferd und Reiter über lange Strecken durchgehalten werden. Das Wort kommt von englisch „Canter„, Kurzform für „Canterbury Galopp“ hergeleitet von den Pilgern, die nach Canterbury ritten. Im amerikanischen Sprachraum bedeutet „canter“ ein langsamer Galopp im Gegensatz zu „galopp“.
(Quelle: Wikipedia)
Wir Deutschen kennen „Kanther“ als knallharten ehemaligen Innenminister von Helmut Kohl. Für uns war er der die absolute Verkörperung eines echten „Law & Order“ Mannes, umso erstaunlicher, als er später im Zug der CDU- Schwarzgeld-Affäre „Der Untreue für schuldig“ befunden wurde:
(Quelle: Spiegel-Online)
Dann war da noch Christoph Blochers Besuch in der Türkei, über den die NZZ am Sonntag vom 8.10.06 schrieb:
„Christoph Blochers Kantengang in der Türkei“
Diesen „Kantengang“ kanten kannten wir bisher noch nicht. Er scheint eine Schweizer Spezialität zu sein, denn unser Google-CH findet 86 Belege, während es bei Google-DE nur 18 Stellen sind.
Das wird in der Schweiz „Eingeladen zu einem Kantengang“ (Quelle zhwin.ch, oder es heisst in der NZZ:
Was nun aber folgt, ist ein heikler und schwieriger Kantengang zwischen Utopie und Zynismus
(Quelle: nzz.ch)
An anderer Stelle, auch in der NZZ finden wir:
Gleichwohl überwiegt die Auffassung, dass der eingeschlagene Kantengang richtig sei.
(Quelle: nzz.ch)
In der Schweiz, dem Alpenstaat mit seinen steilen Wegen, Graten und Schluchten, läuft man also nicht auf dem Grat, sondern auf der Kante? Wir sind uns nicht sicher, ob der „Kantengang“ wirklich von der „Kante“ kommt, oder nicht doch eine langsame Gangart bezeichnet, wie beim langsamen Galopp der Pilger auf dem Weg nach Canterbury. Oder geht es immer „hart an der Kante“ entlang, kurz vor dem Absturz? Und wir Naivlinge glaubten, die „Kante“ sei mit der „Waterkant“ ein Begriff, den nur Küstenbewohner verwenden.
Wer im langsamen Galopp einen Sieg erlangt, der hat einen „Kantersieg“ errungen, einen einfachen Sieg. Den sollten Sie als gemeindeutschen Begriff kennen, auch wenn Sie keine Ahnung vom Reiten haben. Die „Kanterniederlage“ hingegen bezeichnet nur in der Schweiz als Variante eine „hohe Niederlage“, ein Debakel. Zitat aus unserem Variantenwörterbuch:
„Vor zwölf Jahren wollten die Grünen mit [dem Begehren] „100’000 Franken sind genug“ die Löhne aller bernischen Staatsangestellten einfrieren – und erlitten gegen das vereinte Polit-Establishment eine Kanterniederlage (Facts 11.5.2000, Internet)
(Quelle: Variantenwörterbuch DeGruyter, S. 384)
Sollen wir nun zukünftig weiter auf „Graten wandern“ oder auf „Kanten gehen“? Fragen wir doch einfach den Duden:
Grat, der; -[e]s, -e [mhd. grāt = Bergrücken, Rückgrat; Gräte, Spitze, Stachel, ahd. grāt = Rückgrat, eigtl. = Spitze(s), Hervorstechendes]:
1. oberste Kante eines Bergrückens; [scharfe] Kammlinie: ein schmaler Grat; den Grat eines Berges entlangwandern; Ü auf einem schmalen Grat der Demokratie wandern.
(Quelle: duden.de)
Jetzt ist alles klar. Kante und Grat sind synonym, was wir Flachländer natürlich nicht ahnen konnten.
Oktober 30th, 2009 at 15:07
Zum Ehren des 1. Millionsten Besuchers der Blogwiese wird folgend eine etwas unklare Interpretation geschlachtet.
Die Bezeichnungen „Kanter / Canter“ beim Pferdesport können beim besten Willen und Wissen nicht auf „Canterbury“ zurück geführt werden. Hier spielt uns sicherlich eine fehlgedeutete Volksetymologie einen Streich!
Innerhalb der Fassmacherei werden die unter die Fässer gelegten Vierkanthölzer als Auflagenhölzer auch „Kanter“ genannt. Diese Kanter haben hier die Aufgabe, die Fässer zu sichern und deren Auflagerungskräfte über eine größere Fläche in den Untergrund abzuleiten. Siehe: (1.)
Der Begriff „Kanter“ lässt sich auch sprachhistorisch und funktionell innerhalb der Pferdeanwendung ableiten, und zwar beim „Saumsattel“. Dieser Saumsattel (auch Transport-, Sparren-, Pack-, Lade-, Last- und Schnürsattel uam.) hatte zur Lastaufnahme eine aufgesetzte Konstruktion aus Vierkantholz, „Kanter“ genannt, (sic. „Kanten“!!!), die eine sparrenartige Konstruktion ist. Es hat wie bei den Sparren im Hausdach eine zelt- bzw. sattelförmige Form. Siehe: (2.)
Mit diesem „Kanter“ wurden die aufgeschulterten Lasten gleichmäßig auf den Packsattel verteilt, wobei die hängende Last auf der einen Sattelseite durch diesen „Kanter“ und eine richtige Verzurrung auf der anderen Sattelseite als Auflast auf den Pferderücken wirkt. Eine einfache und geniale Lösung. Siehe: (3.)
Da solche Saum-Pferde bis zu 1,5-fachen (auch 2-fachen) Mannlast tragen mussten, sind sie also nicht in der Lage gewesen, einen schnellen, gestreckten Galopp durchzuführen. Durch diese „Kanter-Sättel“ konnten die Pferde (also alle Schlacht-Rösser und Saum-Pferde gemeinsam) nur einen mäßigen, leichten Galopp durchführen und auch durchhalten, also Reiten „a-la-canter“.
In filmischen Historien-Schinken sieht man bei den Rittern nur die Schlachtrösser, die Saum-Pferde gibt es dort einfach nicht. Vermutlich war der Anteil der mittelalterlichen militärischen Reitereinheiten im Verhältnis Schlachtrösser zu Saum-Pferden 1 zu 3 oder sogar wesentlich mehr!
Das sich in Folge die Ursachen und Namens-Quellen in den ritterlichen Turnieren und späteren modernen militärischen Pferdeeinsätzen und dann beim Herrenreiten verschieben und / oder vergessen werden, ist schon fast ein sprachliches Naturgesetz.
Siehe: (1.) http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Radebeul_Fass.jpg&filetimestamp=20071214131032
Siehe: (2.) http://de.wikipedia.org/wiki/Sparren
Siehe: (3.) http://www.doppeladler.com/oebh/tragtiere.htm
Wenn in England die Pilger nach „Canterbury“ geritten sind, haben sie sicherlich auch „Saum-Pferde“ und dem „Saum-Sattel“ mit dem zugehörigen „Kanter“ mitgeführt. Die sprachliche Quelle für diese Bezeichnung dürfte bei den auf die britischen Inseln zugewanderten germ. Angeln, Sachsen und Friesen zu finden sein.
Ruck-Zuck bildet sich eventuell im Mittelalter solch ein Wortspiel: Auf, mit den „Kanter-Pferden“ und ihren „Kanter-Sätteln“ im „Kanter-Galopp“ nach „Canterbury“.
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Oktober 31st, 2009 at 13:29
Ich muss gestehen: «Kantengang» war mir bisher völlig unbekannt. Ich behaupte mal, dass der Ausdruck in der deutschen Schweiz nur einem kleinen Kreis von Leuten bekannt ist. Scheint sich eher um ein Wort für Snobs – äh, NZZ-Leser bzw. -Schreiber – zu handeln, die zeigen wollen, wie gut sie sind: «Was, du kennst ‹Kantengang› nicht? Ts ts ts! Provinzler! Puuretschumpel!»
Meine Google-Suche ergab 255 Ergebnisse auf deutschsprachigen Seiten, 94 für Seiten aus der Schweiz. Zöge man davon NZZ, NZZ Folio und Blogwiese ab, wäre man wahrscheinlich bald bei null.
Juni 15th, 2010 at 20:39
Ich finde die Kanter-Erklärung von AnFra echt interessant!
Leider finde ich in den angegebenen Links nirgendwo einen Beleg dafür – daher meine Frage: Gibt es Lexikon-Einträge etc., die diese Theorie untermauern?