Keine Langfassung aber eine Stellungnahme
Ich hatte Nicole gefragt, ob sie aus dem Material, das sie bei der Recherche zum Kopftuch-Artikel gesammelt hatte, nicht eine Langfassung für die Blogwiese erstellen könnte. Für diejenigen, die den Artikel im Tagesanzeiger verpasst haben, hier eine PDF-Version. Da Nicole die Geschichte des Versuchs nicht noch einmal erzählen wollte, nimmt sie stattdessen die Gelegenheit war, zu den vielen Leserbriefen im Tagi und Reaktionen auf der Blogwiese Stellung zu beziehen:
Nicole antwortet
Liebe Blogwiese- und Tagi-Leser!
Ich möchte die Gelegenheit, die Jens Wiese mir freundlicherweise bietet, nützen, zu Euren kritischen Anmerkungen Stellung zu nehmen. Folgende Punkte sind am heftigsten und am häufigsten kritisiert worden:
Punkt 1:
Der Artikel sei generalisierend – vom Verhalten einiger weniger Leute würde auf die Einstellung einer ganzen Bevölkerungsgruppe geschlossen.
Am häufigsten war der Vorwurf, ich würde alle Schweizer pauschal der Fremdenfeindlichkeit bezichtigen (Jonas Ruf, TA-Leserbrief; Christian Coradi, TA-Leserbrief u.a.), es wurde aber auch spezifisch darauf hingewiesen, dass nun alle Uni-Beamten (Brun(o)egg, Blogwiese) und alle Migros-Kassiererinnen als Rassisten gelten würden. Es wurde in diesem Zusammenhang auch angemerkt, dass das Experiment wegen der zu kleinen Stichprobenmenge nicht repräsentativ und deshalb sozialwissenschaftlich unbrauchbar sei (Christian Coradi, TA-Leserbrief). Wenn ich ein solches Experient ernsthaft durchführen wolle, müsse ich das Ganze statistisch aufbauen und Zahlen liefern (Walter Kaufmann, TA-Leserbrief).
Punkt 2
Ich wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass nicht die Schweizer sich den Ausländern gegenüber falsch oder unhöflich oder überheblich oder sogar bösartig verhielten, sondern dass umgekehrt den Ausländer genau dies vorzuwerfen sei – sowohl Schweizern als auch anderen Ausländern gegenüber. Somit seien sie die eigentlich Fremdenfeindlichen (Nica Plüss, TA-Leserbrief).
Punkt 3
Eigentlich keine Kritik, sondern eine Unterstellung: Die ganze Geschichte sei in sich nicht stimmig und wohl gar nicht wahr, sondern „getürkt“ (neuromat, Blogwiese; Tellerrand, Blogwiese) – das Wortspiel ist immerhin gelungen!
Zuerst zu Punkt 1:
Die Implikation, von den drei beschriebenen Erlebnisse auf die ganze Schweizer Bevölkerung oder zumindest auf alle Beamten und Kassiererinnen zu schliessen, stammt nicht von mir und geht meiner Meinung nach auch in keinster Weise aus meinem Artikel hervor. Sollte dieser dies wirklich implizieren, möchte ich mich dafür in aller Form entschuldigen.
Natürlich habe ich dieses Experiment nicht nur eine halbe Stunde lang durchgeführt, sondern über anderthalb Jahre hinweg immer wieder. Natürlich habe ich für diesen Artikel aus unzähligen Beispielen drei ausgewählt. Natürlich haben sich die meisten Leute, die ich angetroffen habe, neutral verhalten. Wie interessant und aufschlussreich wäre aber ein Artikel, der so beginnen würde: Ich ging in die Migros. Im Eingangsfoyer waren etwa fünfzig Menschen. Fünf davon schauten mich ganz normal an, als ich an ihnen vorüber ging. Die anderen fünfundvierzig reagierten nicht. Als ich mich an der Kasse anstellte, sagte sowohl der Kunde vor mir als auch der Kunde hinter mir nichts. Dann müsste man ja, wenn man beispielsweise über einen Ausländer berichtet, der irgend etwas verbrochen hat, auch mit dazu schreiben: Die restlichen 110’959 Einwohner der Stadt Zürich ohne Schweizer Pass haben sich gestern nichts zu Schulden kommen lassen. Das ist nun einmal nicht üblich. Über das Nicht-Ereignis, über neutrales Verhalten wird nicht berichtet.
Und natürlich war die Prozentzahl der Menschen, die sich mir gegenüber neutral verhalten haben, sehr hoch. Aber, und das ist mein zentrales Anliegen, es gab eben auch immer (und das heisst wirklich: jedes Mal, wenn ich das Experiment gemacht habe) Reaktionen, wie ich sie im Artikel beschrieben habe – an dieser Stelle kurz zu Punkt 3: Ich kann es niemandem beweisen, aber getürkt ist nichts. Und die Tatsache, dass diese Reaktionen vorkommen, ob nun ein Mal pro Tag, ein Mal pro Woche oder ein Mal pro Monat, finde ich doch immerhin erwähnens- und beschreibenswert. Ich weiss, Günter Wallraff hat das alles schon vor 20 Jahren beschrieben und bewiesen (Hat man ihm eigentlich geglaubt? Hat er ein sozialwissenschaftlich-statistisch korrektes Experiment durchgeführt, hat er Zahlen geliefert? Hat ihn niemand verdächtigt, dass alles nur getürkt war?), ich weiss, es ist bekannt, dass es „in keinem Land der Erde lustig [ist], Ausländer zu sein“ (Tellerrand, Blogwiese), aber ist es deshalb wirklich berechtigt, zu sagen: Wir wissen das alles doch schon längst, also ist es sinnlos und redundant, darüber noch weiter zu sprechen?
Ich finde ganz entschieden, es ist von grösster Wichtigkeit, gerade mit diesem Wissen nicht aufzuhören, darüber zu sprechen. Und mal ganz ehrlich: Wenn man einen sozialwissenschaftlich korrekten Weg fände, ein Experiment wie dieses zu verarbeiten, und als Ergebnis präsentieren würde: xx% der Schweizer verhalten sich Ausländern gegenüber anders als Schweizern gegenüber, schön illustriert mit einem zweifarbigem Kuchendiagramm, wer hätte dafür mehr als ein resignierendes Schulterzucken übrig? Würde diese Statistik viele Leute zum Nachdenken anregen? –
Und um nun alle Fragen nach dem Sinn meines Artikels zu beantworten: Genau darum ging es mir, und nur darum – zum Nachdenken anzuregen, zu einer gewissen Selbstreflexion. Und um dieses Ziel zu erreichen, sind Beispielgeschichten meiner Meinung nach weitaus illustrativer als das schönste, korrekteste Kuchendiagramm. Statt illustrativ, wie ich es nenne, wurde der Artikel selbstverständlich auch als plakativ und provokant, als „Stimmungsmache“ und „Benzin ins Feuer“ (Johann Schällibaum, TA-Leserbrief) bezeichnet, aber das ist eigentlich nur ein Streit um Worte. Tatsache ist, dass ich mein Ziel erreicht habe – was verheissen denn die vielen Reaktionen anderes als dass sich die Leserschaft Gedanken über das angesprochene Thema gemacht hat? Viele Vorwürfe und Lobsprüche (ja, die hat es auch gegeben!) lassen sich auf Fragen wie diese zurückführen: Verhalte ich mich Ausländern gegenüber ähnlich wie die Protagonisten in den Beispielgeschichten? Verhält sich die Mehrheit der Schweizer (die Mehrheit der Beamten, die Mehrheit der Kassiererinnen) so? Hat dieses Verhalten eine gewisse Berechtigung? etc.
Ergo: Vielen Dank für Eure Reflexionen!
Bei manchen haben diese sogar noch ein wenig Selbstkritik bzw. Selbsterforschung beinhaltet – ist es denn so verkehrt und so abwägig, sich einmal zu überlegen, wie man sich in bestimmten Situationen verhält und sich darüber bewusst zu werden, warum man sich so verhält? Ist es denn gar nicht erschreckend, dass man sich manchmal von unbewussten Schlussfolgerungen beeinflussen lässt, die, wenn man einmal gezwungen würde, sie explizit auszuformulieren, gar nicht dem entsprächen, was man spontan als seine Meinung bezeichnen würde? – Ich möchte niemandem unterstellen, dass ich seine unbewussten Schlussfolgerungen durchschaue – ich habe, ganz geisteswissenschaftlich, eine These formuliert (kommen die Sozialwissenschaften ohne aus?).
Nun noch etwas zu den Begrifflichkeiten: Ich habe weder den Begriff „Rassismus“ noch den Begriff „Political Correctness“ verwendet, wurde aber in der Kritik ständig mit ihnen konfrontiert. Wenn man noch einmal ganz ehrlich darüber nachdenkt, sind Kommentare wie
* „N.M. spricht es zwar nicht explizit aus, doch impliziert sie es: Die Schweizer sind fremdenfeindlich.“ (Christian Coradi, TA-Leserbrief),
* „Auch der Begriff Rassismus geht mir hier zu weit.“ (neuromat, Blogwiese),
* „ […] dann kann sie es dann doch wieder nicht lassen, den Vorwurf der bewussten Diskriminierung oder gar Rassismus in den Raum zu stellen.“ (giacometti, Blogwiese),
* „Ich kanns nicht mehr hören die PC und Rassismussprüche bei allem was nicht gerade comme il faut läuft!“ (Brun(o)egg, Blogwiese) in Bezug auf meinen Artikel nicht doch etwas übertrieben?
Ich unterstelle niemanden, und schon gar nicht der gesamten Schweizer Bevölkerung, rassistisches Verhalten, nur weitgehend unbewusste Mechanismen, die dazu führen, dass man sich manchmal anders verhält. (Und dies ist doch sehr vorsichtig ausgedrückt: Schlimmer wäre es, wenn ich diese Mechanismen als bewusst betrachten würde!) – „Anders“ heisst übrigens nicht immer bösartig – ich habe eigentlich geglaubt, gerade am Beispiel der Kassiererin gezeigt zu haben, wie sich Leute manchmal bereitwilliger, zuvorkommender, bemühter verhalten als normal und als nötig wäre. Es stellt sich natürlich die Frage, ob das überhaupt zu kritisieren ist, aber meiner Meinung nach kritisiere ich nicht einmal, sondern stelle nur fest – und stelle fest aus einer ungewöhnlichen Perspektive, aus der man erst begreift, dass manchmal eben auch ein solches übertrieben zuvorkommendes Verhalten verletzend sein kann, weil man dadurch immer wieder an seine Andersartigkeit erinnert wird.
Nicht über Extrembeispiele wie das geforderte Minarettverbot oder eine abgebrannte Synagoge wollte ich berichten, sondern ganz im Gegenteil über die kleinen, subtilen Erlebnisse im Alltag einer Fremden, die diese nämlich in ihrem kulturellen Selbstverständnis und in ihrem Integrationsprozess mindestens so beeinträchtigen wie gross angelegte politische Initiativen und Gesetzesänderungen.
Zu Punkt 2:
Mein Artikel war der Versuch, in dieser ganzen Ausländer-Debatte (gut, dieses Wort ist nun wirklich undiffernziert) ein Mal eine andere Perspektive einzunehmen. Es wird so viel über das missliche Verhalten von Ausländern geschrieben, und ich möchte den Grad der Pauschalisierung, den mein Artikel gegen meine Absicht zu enthalten scheint, nicht mit der expliziten Pauschalisierung vergleichen, der von gewissen Parteien und von gewissen Medien in diesem Zusammenhang praktisch tagtäglich praktiziert wird. Es ist schon interessant, was für ein Aufschrei durch die Leserschaft geht, wenn ein Thema, zu dem alle eine Meinung zu haben scheinen, einmal von einer etwas anderen Seite beleuchtet wird. Auch in diesem Punkt scheint mein Artikel etwas zu implizieren, was ich nicht im Geringsten beabsichtigt habe: Ich habe doch mit keinem Wort bestritten, dass es durchaus auch Ausländer gibt, die sich ganz eindeutig unangemessen bis vermessen verhalten. Aber darüber wird so viel und so häufig berichtet, dass, mit Verlaub, ein weiterer Artikel mit dieser Aussage schon eher redundant wäre als ein Artikel, der mit einem anderen Blickwinkel offensichtlich etwas Schwung in die einseitig gewordene Debatte bringt.
Mir ist im Übrigen klar, dass ich gemessen an der Subtilität der Ereignisse, die ich beschreibe, eine sehr starke, durchaus auch provokante Sprache gewählt habe. Auch dies soll gewissermassen die Tatsache repräsentieren, wie grosse Auswirkungen kleine Bemerkungen bei den Betroffenen haben können – auch wenn ein blöder Spruch vielleicht nur achtlos hingeworfen wird, nimmt ihn der oder die Angesprochene oft doch sehr ernst. Auch darüber sollte man meiner Meinung nach nachdenken.
Zu Punkt 3:
Es ist schon erstaunlich, dass sogar bei diesen relativ harmlosen Geschichten Zweifel an deren Wahrheit aufkommen. Ich bin von mehreren Lesern darauf aufmerksam gemacht worden, dass sie – als Ausländer – oft viel Schlimmeres erleben und deshalb meine Erlebnisse den Sachverhalt im Grunde fast verharmlosen. Ich habe aber ganz bewusst nicht über Extrembeispiele berichtet, weil ich eben gerade keine „Stimmungsmache“ zelebrieren, sondern eher auf gewisse subtilere alltägliche Situationen hinweisen wollte. Wenn mir nun sogar auf Grund dieser vergleichsweise harmlosen Beispiele genau dieser Wille zur Stimmungsmache und Provokation vorgeworfen und bereits diese Geschichten offensichtlich als unglaubwürdig betrachtet werden, frage ich mich schon, ob der Vorwurf, ich hätte alles nur „getürkt“, nicht einem radikalen Augenverschliessen vor Tatsachen gleichkommt.
Die kritische Beurteilung von Medienberichten in allen Ehren – aber findet diese auch statt, wenn über das Fehlverhalten von Ausländern berichtet wird, oder zweifelt man den Wahrheitsgehalt eines Berichts nur dann an, wenn man die Meinung des Autors nicht teilt, wenn man an den Inhalt seines Berichts nicht glauben will, wenn er nicht dem Weltbild entspricht, das man gerne hätte, wenn man sich auf irgend eine Weise selbst angegriffen fühlt?
Nun möchte ich noch auf zwei Einzelkommentare aus der Blogwiese eingehen:
@ giacometti, Blogwiese: Ist interessant, aber ein wenig widersprüchlich. Zuerst erklärt sie das Verhalten der Frau mit unbewussten, kulturellen Kodizes – dann kann sie es dann doch wieder nicht lassen, den Vorwurf der bewussten Diskriminierung oder gar Rassismus in den Raum zu stellen. Ja, was denn nun?
Erstens, wie gesagt, spreche ich weder von Diskriminierung noch von Rassismus, vor allem nicht von bewusstem. Ausserdem sehe ich keinen Widerspruch: Meine These lautet: Die Frau empfindet den kurdischen Studenten durch unbewusste Schlussfolgerungen als unhöflich, weil er sprachliche Codices aus Unkenntnis nicht einhält und verhält sich deshalb (sachlich!) ablehnend. Möglicherweise stellen ähnliche Schlussfolgerungen auch die Grundlage für wirklichen Rassismus dar – ich bin überzeugt, dass dieser oft gerade nicht bewusst-rational begründet (und deshalb vermeidbar) ist.
@ Brun(o)egg: Wieso hat die Dame nicht gleich von Anfang an selbst für ihren Begleiter gefragt? Sie kennt ja die Codizes und wusste um seine Sprachschwäche!? Gings einfach wieder einmal um Provokation, um den Beweis wie rasisstisch wir doch alle sind.
In diesem Zusammenhang hat bereits Lieschen Müller (Blogwiese) eine Antwort geliefert:
Es hilft in vielen Situationen des Lebens ungemein, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Mal ganz abgesehen von dem unterschiedlichen Rollenverständnis von Mann und Frau, das dieser Mann aufgrund seiner Herkunft vermutlich haben wird, er würde sicher ganz gerne alles selber hinbekommen und es gar nicht schätzen, wenn ihm ständig jemand anbietet, es für ihn zu erledigen, bevor er es versucht hat. Mir ginge es jedenfalls genauso.
Ich möchte hinzufügen: Es geht hier nicht einmal um Männer- und Frauen-Rollen (auch ein kleines unbewusstes Vorurteil?). Brun(o)egg schlägt genau das Verhalten vor, dass ich in meinem Artikel kritisiere. Wenn ein Ausländer so gut Deutsch kann, dass die Verständigung normalerweise reibungslos abläuft, wäre es doch unerhört, wenn ich ihn derart bevormunden und einfach für ihn sprechen würde. Es würde doch genau wieder implizieren, dass ich seinen sprachlichen oder intellektuellen Fähigkeiten nicht traue. „Ich mach das schon.“ heisst manchmal eben auch „Du kannst das nicht.“
Ich hoffe, ich konnte mit dieser Stellungnahme meinen Standpunkt noch einmal besser erklären, als das vielleicht im Artikel gelungen ist. Nicht, dass ich das Gefühl hätte, irgend jemand würde nun seine Meinung ändern, sondern mehr um zu zeigen: Die Autorin ist nicht tot, sie liest Eure Kommentare und macht sich weiterhin Ihre Gedanken. Die Illusion von neuromat (Blogwiese) („Und Nicole, die läuft morgen den ganzen Tag im Top und im Minirock durch Diyabakir und wir werden sie nie wieder sehen.“) bewahrheitet sich also nicht ganz.
Es grüsst herzlich
Nicole