Wie oft wird man dies als Deutscher in der Schweiz gefragt? In fast jeder Situation ist das der 2. oder 3. Satz. Sobald ein Schweizer merkt, dass man selbst nicht auf Schweizerdeutsch spricht, kommt die Frage:
„Verstehen Sie Schwyzerdütsch? Oder muss ich Hochdeutsch sprechen?“
Ich versichere dann stets, dass ich bereits seit 5 Jahren im Land lebe und leidlich gut Schwyzerdütsch verstehe. Falls mein Gesprächspartner allerdings aus St. Gallen kommt, bitte ich darum, dass wir auf eine Berndeutscher Variante ausweichen, da fällt mir das Verständnis leichter.
Tatsächlich sind St. Gallen und das deutschsprachige Wallis die Gegenden, mit deren Mundarten ich die meisten Verständnisprobleme habe. Dann warte ich eine weitere Minute, bevor ich mein Gegenüber abrupt frage:
„Ach Entschuldigung, verstehen Sie Hochdeutsch? Oder soll ich Schwyzerdütsch reden?“
Meist kommt dann ein fragendes Schweigen, bis ich die Spannung auflöse mit „War nur ein Scherz, ich kann gar kein Schwyzerdütsch“. Die Schweizer sind ein absolut höfliches Volk. Die Deutschen stellen die grösste Ausländergruppe im Kanton Zürich und haben damit seit kurzem sogar die Italiener überrundet. Immer noch geht der Schweizer in seiner höflichen Art davon aus, dass ihn der Deutsche nicht oder kaum versteht, wenn er mit ihm Schwyzerdütsch redet.
Gefragt wird man jedoch immer weniger, wenn man permanent im Land lebt. Aber es gibt Ausnahmen: So waren wir im letzen Sommer als Touristen unterwegs, mit Fahrrädern und Gepäck, auf einer Tour vom Bodensee zum Genfersee, quer durch das Mittelland, und auf einmal sprach jeder ausschliesslich Hochdeutsch mit uns! Gefragt, ob auch Schwyzerdütsch ok ist, wurde niemals. Es wurde nicht mal ein Versuch gestartet in dieser Sprache. Das sind Touristen, die sprechen Deutsch, also passt man sich an, um einen guten Eindruck zu machen. Die können es ja eh nicht anders.
Die Schweizer sprechen äusserst ungern Hochdeutsch. Schon allein der Name! Das kling so hochtrabend, nach „hoher Qualität“. Lieber sagen sie „Schriftdeutsch“, nicht ahnend, dass das Adjektiv „hoch“ in „Hochdeutsch“ eigentlich eine geographische Komponente bezeichnet: „Neu-Hoch-Deutsch“ nennen Sprachwissenschaftler das, was wir Deutschen seit dem 17. Jahrhundert reden, wobei „Neu“ für die Zeit steht (im Gegensatz zu Mittel-Hoch-Deutsch im Mittelalter und Alt-Deutsch davor) und „hoch“ für den südlichen Süddeutschen Raum, im Unterschied zu Mitteldeutsch und Niederdeutsch, auch Plattdeutsch genannt.
Doch Schluss mit dem Klugscheissergequatsche. Die Deutschen in der Schweiz haben ganz andere Probleme, als den Unterschied der Sprachen zu erklären. Es sind die Standard- Kommunikationssituationen, die einfach ganz anders ablaufen und am Anfang für viel Missverständnisse sorgen. Beispiel:
Eröffnen einer Gesprächssituation:
Ein Deutscher möchte den Weg zum Bahnhof wissen. Er sieht einen Polizisten in einer deutschen Fussgängerzone und fragt ihn: „Entschuldigen Sie, wo geht es hier zum Bahnhof“.
Die gleiche Szene läuft in der Schweiz ganz anders ab:
Gruezi wohl.. – warten auf die Entgegnung – Darf ich ihnen vielleicht eine Frage stellen? — warten auf die Entgegnung — Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie ich zum Bahnhof komme? — warten auf die Entgegnung usw.
Wir lernen daraus: Für die Gesprächseröffnungssequenz muss man sich als Deutscher einfach viel mehr Zeit nehmen. Am Ende des Gesprächs in Deutschland würde der Passant sagen: „Danke und Tschüss“, in der Schweiz wäre das absolut unmöglich und unhöflich. „Tschüss“ ist ein Gruss und eine Verabschiedung nur unter guten Freunden, mit denen man Pferde stehlen kann. Das Gesprächsende braucht einfach viel mehr Zeit in der Schweiz:
„Dann danke ich Ihnen vielmals für die Information! Ja, ich habe alles genau verstanden. Ja, ich wünsche ihnen auch noch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank!“
Die Schweizer pflegen ein Ritual der kontrollierten Gesprächsbeendigung. Dazu gehört auch, dass man sich mehrfach versichert, ob das „nun so gut sei“, und alles verstanden ist.
Wenn wir als Deutsche diese Spielregeln des Rückfragens und langsam aus der Gesprächssituation Herausgehens nicht einhalten, festigen wir nur unseren Ruf, arrogant und unhöflich zu sein.
Gespräch am Telefon:
Das gilt natürlich auch für das Telefon. Es ist unmöglich und unhöflich gleich zu Beginn eines Gesprächs auf das eigentliche Anliegen zu sprechen zu kommen. Smalltalk über das Befinden, das Wetter und die allgemeine weltpolitische Lage müssen zuvor bewältigt werden. Zugegeben, das mit der „weltpolitischen Lage“ war ein Scherz. Die Schweiz ist schliesslich neutral, was interessiert sie da die Welt. Aber der Smalltalk muss sein, und wehe man nimmt sich nicht die nötige Zeit dazu.
Kommt dann der Moment, an dem ihr Gesprächspartner etwas holen geht, und er nimmt nach 30 Sekunden den Hörer wieder auf, werden sie unweigerlich gefragt: „Sind sie noch da?“
Es wäre ganz falsch, nun auf diese Frage: „Nein, ich bin geplatzt“ oder „nein, sie sprechen mit meinem Anrufbeantworter (Schweizerdeutsch ist hier kurz und knapp: „Beantworter“).
„Ja, ich bin noch da“ lautet die korrekte Antwort. Diese Satz fällt ruhig auch mehrmals, wenn ihr Gesprächspartner das Gespräch häufig unterbrechen muss.
Der „Jööö-Effekt“ und die Wirkung von Hochdeutsch in der Schweiz:
Eins muss man ganz klar betonen, und die wenigsten Schweizer wissen das: Wenn sie in Deutschland mit leichtem Schweizerdeutschen Dialekteinschlag reden, können sie vom „Jööö-Effekt“ profitieren. (Erklärung für die Deutschen Leser: „Jööö“ ist ein Ausruf des freudigen Erstaunens in der Schweiz)
Die Deutschen finden ihren Dialekt süss, sie möchten sie am liebsten in den Arm nehmen, man kann ihnen einfach nicht böse sein. Sehr praktisch für Besuche auf dem Finanzamt oder Begegnungen mit der Deutschen Polizei. Das ist eine Trumpfkarte, die man als Schweizer in Deutschland ruhig ausspielen kann. Emil Steinberger ist bekannt und beliebt in Deutschland. Sein „Hochdeutsch“ mit Luzerner Einschlag wird von den Deutschen als „Original Schweizerdeutsch“ empfunden. Auch Ursus & Nadeschkin haben einen Riesenerfolg in Deutschland mit ihrem Schweizer-Hochdeutschen Programm „HAILIGHTS“. Das Ding ist übrigens für Sprachwissenschaftler hoch interessant: Es existiert eine Aufnahme auf Hochdeutsch und eine Aufnahme auf Schwyzerdütsch. Wenn man beide anhört und vergleicht, kann man viel lernen über das Wesen der Sprache. Wer glaubt, dass sich Schweizerdeutsch einfach durch erhöhte Langsamkeit im Sprachfluss auszeichnet, muss sich diese CDs anhören. Das mit der Langsamkeit gilt vielleicht für Bern. Bei Ursus & Nadeschkin geht es in der Schweizerdeutschen Version viel schneller zur Sache. Klar, die beiden müssen sich auch nicht mehr in einer Fremdsprache ausdrücken (was sie natürlich ganz vorzüglich können).
Besonders rasend schnelles Schwyzerdütsch kann man bei dem ausgezeichneten Kabarettisten (= Neudeutsch „Comedian“) Lorenz Keiser erleben. Der spricht Züridütsch mit einer Geschwindigkeit, da haben untrainierte Deutsche garantiert Hörverständnis- schwierigkeiten.
Was dem Schweizer sein „Jööö-Effekt“, ist dem Deutschen sein unbewusst unterstellter Kompetenz-Vorsprung nur allein deswegen, weil er Hochdeutsch spricht. Ganz klar, wenn ein Schweizer Hochdeutsch hört, dann hört er „Lehrer-Sprech“, dann hört er „Nachrichtensprache“, dann muss das, was gesagt wird, zunächst einfach mal wahr sein.
Das ist der Vorteil für die Deutschen: Wenn sie nur klar und deutlich Hochdeutsch reden, wird das was sie sagen ganz einfach mal als richtig und wahr aufgenommen. Hochdeutsch an sich bedeutet für den Schweizer: „Es ist was Offizielles, es kann nicht falsch sein“.
Es ist nicht umsonst die Sprache für die Katastrophenmeldungen im Radio. Jeder Dialekt-Sender schaltet um auf Hochdeutsch, wenn es einen Stau oder eine Explosion im Gotthard-Tunnel zu berichten gibt. Die Schweizer Kinder assoziieren mit dem Klang von Hochdeutsch automatisch „Katastrophenmeldung„.
Anders ausgedrückt: Sie könnten als Deutscher in der Schweiz im geschliffenen Hochdeutsch einfach auch den grössten Schwachsinn erzählen, jeder wird ihnen zunächst nur zuhören und Glauben schenken, einfach weil sie so gut Hochdeutsch sprechen. In dieser Sprache werden Fakten vermittelt, keine Unwahrheiten.
Besonders heikel ist das dann mit der Ironie: Schweizer Zuhörer haben genug damit zu tun, ihren Hochdeutschen Sprachfluss in Windeseile im Kopf zu übersetzen. Da bleibt keine Zeit für Nuancen oder ironische Anspielungen. Seien sie also nicht frustriert, wenn ihre beissende Ironie nicht gleich oder gar nicht verstanden wird. Das kommt dann vielleicht später noch.