Da kommt der Zügelmann, der sich nicht zügeln kann — Umziehen in die Schweiz

September 20th, 2005
  • Zügeln in die Schweiz
  • In die Schweiz „ziehen Sie nicht um“, sondern sie zügeln dorthin. Das erinnert an Pferdefuhrwerke mit einem Kutscher und Zügel, aber diese merkwürdige Assoziation haben sie nur, wenn sie aus Deutschland stammen. Die Schweizer verbinden unser deutsches Wort „umziehen“ zum Ausgleich eher mit etwas, dass man in einer Umkleidekabine allein tut, und nicht am hellichten Tag in aller Öffentlichkeit.

    Die Männer, die Ihnen dabei tatkräftig zur Seite stehen (jetzt beim Orts- und nicht beim Kleiderwechsel), sind die „Zügelmänner„.
    Da kommt der Zügelmann, der sich nicht zügeln kann… sollten sie allerdings nicht vor sich hinträllern, denn die Jungs haben Muskeln und verstehen überhaupt keinen Spass, schon gar nicht bei ihrer Berufsbezeichnung.

  • Provisorisches Verzollen möglich
  • Falls Sie beim Umzug in die Schweiz für diese noch keine Dauer-Aufenthaltsbewilligung vorweisen können (Schweizerdeutsch „B-Bewilligung„. Warum „B„? Na, wegen „Be-willigung), sind sie dennoch berechtigt, ihren Hausrat über die Grenze zu transportieren. Sie müssen ihn nur „provisorisch verzollen„. Das darf leider kein Privatmensch, das darf nur eine Spedition, und die hocken im Zollamt an der Grenze in kleinen Büros und Verschlägen wie die Spinnen im Netz und warten darauf, dass Sie da mit ihrer Ladungsliste vorbeikommen, um sich die Einfuhr ihres Umzugsgutes für 120 CHF vorläufig provisorisch verzollen zu lassen.

  • Küche und Waschmaschine in Deutschland lassen
  • Kommen Sie bloss nicht auf die Idee, wie in Deutschland üblich, ihre eigene Küche oder Waschmaschine mit in die Schweiz umzuziehen. In der Schweiz mietet man die Küche gleich mit, sie bleibt in der Wohnung, und ein Schweizer würde nie auf die abstruse Idee kommen, sich eine eigene Küche zu kaufen, so wie ein Deutscher.
    In Deutschland lebt eine ganz Branche vom Handel mit der „weissen Ware“, das sind Kühlschränke, Küchenherde und Waschmaschinen, die von Endkunden in riesigen Supermärkten wie Media-Markt oder Saturn gekauft werden.

    In der Schweiz gibt es diese Märkte zwar auch, jedoch verkaufen die keine Waschmaschinen. Die werden nur von Bauunternehmen oder Liegenschaftsverwaltungen en gros geordnet, schnell mal 6 x 6 Maschinen für ein Block mit Neubauwohnungen. Privatmenschen kaufen das kaum in der Schweiz. Es sei denn, sie besitzen ein Eigenheim, und das haben wesentlich weniger Leute hier als in Deutschland, weil die Grundstückspreise so horrende hoch sind, das man schon gut geerbt haben muss, um sich sowas leisten zu können. Auch relativ gut verdienende Ärzte oder Rechtsanwälte wohnen zur Miete statt im Eigenheim.

    Also keine Waschmaschine aus Deutschland mit in die Schweiz bringen! Denn wenn sie dann mit ihrer 60 cm breiten „Miele Softtronic“ in der neuen Wohnung anrücken, werden sie eine kleine Überraschung erleben:

    Die Badezimmertür ist als einzige Tür in der Wohnung schmaler als 60 cm, und sie kriegen die Maschine gar nicht da durch.

    Badezimmertür nur 58 cm breit

    Abgesehen davon, dass im Bad sowieso kein Platz dafür vorhanden ist. Höchstens für ein Mini-Maschinchen, das sich ein Schweizer nur kauft, wenn er mit dem örtlichen „Waschküchen-Reglement“ nicht einverstanden ist, also trotz all der grossen und tollen Luxusmaschinen in der gemeinsam genutzten Waschküche doch lieber seine eigene Wäsche im eigenen Bad waschen will.

  • Wäsche für 4 Wochen bunkern
  • Die Schweizer Häuser haben gemeinsam genutzte Waschküchen, meistens abgeschlossen, und der Schlüssel zu dieser Waschküche wird von Mieter zu Mieter nach einem strengen „Waschküchenschlüssel-Übergabereglement“ weitergereicht. So kann es passieren, dass sie nur einmal alle 4 Wochen waschen dürfen, wenn nämlich ihr Waschtag ist. Also am besten gleich losgehen und Socken und Unterwäsche für die 4 Wochen einkaufen, die sie überstehen müssen ohne Zwischendurchwäsche, und alle Termine am grossen Waschtag verschieben. Da müssen sie waschen, da können sie nicht arbeiten oder ausgehen oder Urlaub machen, es sei denn, sie haben meinen Rat beherzigt und sich gleich für 8 Wochen Vorräte an frischer Wäsche angeschafft. Kommen Sie auch nicht auf die Idee, ihren Waschtag mit anderen zu tauschen, oder dies anderen vorzuschlagen. Dazu wäre Kommunikation im Hause von Nöten (siehe nächster Abschnitt).

  • Kommunizieren in der Waschküche
  • Die Pinwand in der Waschküche dient übrigens in vielen schweizer Häusern auch als Kommunikationsplattform für alle Mietparteien. Man teilt sich mit, wer wann welchen bunten Socken wo gefunden hat, und dass in das Buntwaschmittel, was jemand beim letzten Waschtag absichtlich stehen gelassen hat, feine bunte Farbkügelchen untergemischt wurden, nur so als Warnung. Nehmen Sie also stets Zettel und Stift mit in die Waschküche, nebst genügend Heftzwecken, um auch an der allgemeinen Kommunikation teilhaben zu können. Und fangen Sie bloss nicht an, bei einer Frage direkt die betroffen Mieter an ihrer Wohnungstür aufzusuchen und sie in eine direkte mündliche Kommunikation zu verwickeln! Wozu gibt es denn schliesslich Zettel?

    Der Schweizer Autor Hugo Loetscher hat zum Thema „Waschküchenschlüssel“ ein eigenes Buch verfasst, dass sie unbedingt mal lesen sollten, wenn sie am Waschtag in der Waschküche sitzen und auf das Ende vom letzten Schleudergang warten:

    Hugo Loetscher: Der Waschküchenschlüssel

    Laut Statistik geht es in 60 % aller Mietstreitereien vor Gericht in der Schweiz um die Waschküche und ihre Nutzung. Also nehmen Sie am besten gleich Ihren Fürsprecher mit, wenn sie die Waschküche das nächste Mal betreten wollen.

  • Türen die nicht ins Schloss fallen können:
  • Schweizer Wohnungstüren haben zum gemeinsamen Treppenflur hin keinen unpersönlichen Türknauf:

    Kein Türknauf in der Schweiz

    sondern eine Klinke. Die Türen können also nicht plötzlich durch einen Luftzug zu fallen und man steht im Bademantel ohne Schlüssel draussen und bibbert.

    Wohnungstür mit Klinke aussen

    Damit erübrigt sich auch ihre Geschäftsidee, in der Schweiz einen 24Stunden Schlüsseldienst anzubieten, er wird schlichtweg nicht benötigt.

  • Briefkästen mit praktischem Einlegefach:
  • Dieses Fach unterhalb des Briefkastens dient eigentlich zur Aufnahme der Zeitung. Es kann aber auch als Ablage für Nachrichten gebraucht werden, oder als Depot für ihre Hundeleine.

    Schweizer Briefkasten mit Fach

    Ich habe es auch schon erlebt, dass über dieses Fach Ware ausgetauscht wurde. Der Verkäufer legt seinen Artikel dort bereit (Schweizerdeutsch „parat„), der Kunde kommt – zeitversetzt-, entnimmt die Ware und wirft das Geld in einem Umschlag in den Briefschlitz. Ich möchte nicht wissen wieviel Drogendealer in der Schweiz so illegal und offen ihre Geschäfte abwickeln. (Siehe hierzu auch die beiden sehr informativen Kommentare am Ende des Artikels von Klaus! Vielen Dank dafür!)

  • Wo ist denn hier die Rauhfasertapete?
  • Tapezieren müssen Sie ihre Wohnung beim Auszug nicht. Wie denn auch, wenn es gar keine Tapete gibt, sondern nur einen haltbaren Rauhputz, unter Umständen sogar abwaschbar.

    Einmal in was warmes Weiches fassen — Mit Hund unter Hündelern in der Schweiz

    September 19th, 2005

    Richtig angekommen sind Sie als deutscher Hundebesitzer in der Schweiz erst, wenn Sie zum ersten Mal, vielleicht gleich am Morgen nach ihrem Umzug, ihrer „Aufhebepflicht“ nachgekommen sind: Einmal in was warmes Weiches fassen, mit dem über die Hand gestülpten braunen Plastiksack,
    Der Robidog Beutel für das warme Weiche
    das Häufchen aufheben, den Sack sauber verknoten, und dann ab damit in den grünen Hundebriefkasten:

    Hundebriefkasten?
    Hier ist es richtig.

    Briefkasten mit Hund
    Hier ist es falsch.

    Dann sind sie ein waschechter „Hündeler“, dann haben Sie ihre Feuerprobe bestanden und können wie alle anderen Hündeler in Zukunft mit Stolz ihren braunen Sack als Abzeichen an die Hundeleine geknotet spazieren führen.

    Das braune Ehrenzeichen am roten Bande:
    Hundeleine mit Abzeichen

    Das System ist perfekt. Die Schweiz ist ein angenehm Hundekot freies Land, sieht man einmal ab von den eigensinnigen Welschen in Genf. Dort behilft man sich an Stelle der Aufhebepflicht mit Mosaiken von Hunden, die schwören, nicht auf den Gehweg zu kacken zu wollen.
    Ich kacke nicht auf den Gehweg
    Ob das funktioniert und die Hunde das entziffern können?

    Die Nachbarländer haben begonnen, dieses Erfolgsmodel der Aufhebepflicht fleissig zu imitieren. Anders als in Berlin oder Paris muss man bei Spaziergängen durch eine schweizer Stadt nicht permanent den Gehweg (Schweizerdeutsch „Trottoir“) im Auge behalten, um nur ja nicht in eine Tretmine zu tappen.

    Bisweilen findet man auch speziel abgezäunte kleine Grundstücke mit einem einladenden Schild: „Hundeversäuberungsplatz“. Hier können sich also Hunde „versäubern“, aber warum liegen dann nicht Handtuch und Seife bereit?

    Eine Steuer müssen Sie selbstverständlich auch zahlen für ihren Hund, nur hat die in der Schweiz einen viel schöneren Namen. Sie wird „Hundeverabgabung“ genannt. Welch geniale Sprachschöpfung eines deutschen Wortes! Jede Gemeinde hat hierzu ihre eigenen Vorschriften, wie ein Blick in Google zu dem Wort „Hundeverabgabung“ beweist: (301 Treffer dazu!)

    Zitat:

    Es sind alle Hunde im Alter von über sechs Monaten zu verabgaben.

    Das Wort ist scheints so schwer, dass es nicht immer gleich geschrieben wird, so wie in der Gemeinde Grüningen, denn dort wird „Hundevergabung“ daraus. Vergibt man hier den Hunden? Oder werden Hunde vergeben? Oder geschah dies vielleicht alles früher einmal, den „Vergabung“ ist doch offensichtlich die Vergangenheit?

    Übrigens nehmen die meisten schweizer Gemeinden mit der Hundeverabgabung mehr Geld ein, als das Aufstellen und Leeren der Hundebriefkästen kostet, und die Mehreinnahmen werden dem Stadtsäckel stillschweigend als „Zustupf“ (Schweizerdeutsch für „Hilfsgelder, Stütze“) zugesteckt. Also keine Rückzahlung an die Hündeler in Form von Hundekuchen oder so. Denn merke: Hündeler haben keine Lobby, die haben Hunde.

    Als Hündeler in der Schweiz werden Sie schnell Kontakt finden zu anderen Hündelern, sie werden die Hundenamen und Rassen kennenlernen und beim Griff ins warme Weiche werden sie uneingeschränkte Solidarität empfinden!

    Pinkeln erlaubt auf der Hunde-Versäuberungsstrecke:
    Hier ist das Pinkeln offiziell erlaubt

    Zieh nii uff Bärn — Erlebnisse in der Hauptstadt der Schweiz

    September 18th, 2005
  • Busfahren in Bern
  • Einmal muss ich in einem Berner Vorort mit einem Linienbus fahren. Er verkehrt angenehm häufig, alle 15 Minuten und ist natürlich auf die Minute pünktlich. Ich steige ein, nehme Platz und beobachte, wie sich der Busfahrer mit riesigem Walrossbart auf seinem Fahrersitz umdreht, die eingestiegenen Fahrgäste betrachtet und laut und deutlich artikuliert:
    „Grüüezaaach miteinand“.

    Dann dreht er sich zurück nach vorn, schliesst die Türen und fährt los. An der nächsten Haltestelle hält der Bus, die Türen öffnen sich, der Fahrer dreht sich erneut um zum Fahrgastraum und sagt langsam, laut und deutlich:
    „Auf Wiederluegge miteinad“.

    Es steigen neue Fahgäste ein. Der Busfahrer schaut sie an und sagt:
    „Grüüüezaaach miteinand“.
    Umdrehen nach vorn, weiterfahren.
    So geht das an jeder Haltestelle.
    Ich bin erstaunt, dass ich trotzdem pünktlich ankomme.
    Sie haben Zeit, die Berner.

  • Massimo Rocchi
  • Der aus Italien stammende Comedian Massimo Rocchi hat in seinem Soloprogramm «äuä» ausgiebig geschildert, wie er, aus Frankreich kommend, in Bern versucht hat, erst Hochdeutsch und später Berndeutsch zu lernen.
    Zitate:

    „Wo lernt man besten Hoch-Deutsch? In Nieder-Sachsen. (…)
    „Nehmen sie den Aufzug und fahren Sie hinunter in den Keller. (…) „

    Sein Programm enthält eine Fülle von Sprachwitzen und ist als Einstieg ins Berndeutsche sehr zu empfehlen:

    „In Bern waren alle erkältet. Sie kamen zu mir und sie sagten immer ‚Ttschuuldigung’“.
    „In Bern gibt es überall Ecken und Plätze, die man für die Tiere gebaut hat. Es gibt Bärengraben, Hirschengraben, Rossfeld, Ratthaus…“

  • Berndeutsch mit Mani Matter
  • Wir haben Berndeutsch lieben gelernt durch die Lieder und Texte von Mani Matter , der leider schon 1972 durch einen Autounfall ums Leben gekommene Schweizer Liedermacher, dessen Lieder die schweizer Kinder in der Schule lernen, und dessen Platten man heute noch kaufen oder in jeder Stadtbibliothek der Schweiz ausleihen kann.
    Mani Matter ist Kult

    Dene wos guet geit
    Giengs besser
    Giengs dene besser
    Wos weniger guet geit
    Was aber nid geit
    Ohni dass’s dene
    Weniger guet geit
    Wos guet geit

    Drum geit weni
    Für dass es dene
    Besser geit
    Wos weniger guet geit
    Und drum geits o
    Dene nid besser
    Wos guet geit

  • Warnung eines Berners

  • Bei meinem ersten Besuch 1999 in Bern suchte ich am Abend ein Internetcafé mit Zugang zum Word-Wide-Web in der Altstadt. Ich fand auch nach langem Suchen keins und fragte schliesslich einen jungen Berner auf der Strasse. Der fasste mich sogleich fest am Arm, schaute mir dann tief in die Augen und sagte: Zieh niii uff Bärn, denn hier gibt es kein Internetcafé und auch sonst ist hier am Abend der Hund begraben.

    Ich konnte später nicht mehr überprüfen, ob er die Wahrheit gesagt hat. Berner Freunde versicherten mir: „Kann schon sein, dass es kein Internetcafé in Bern gibt. Wozu auch, es hat doch fast jeder einen Zugang zu Hause“.

    Tut Busse und seid unfehlbar — Schweizerdeutsch für Anfänger

    September 17th, 2005
  • Tut Busse und nehmt die Polizeibusse
  • Busse tun ist eine Christenpflicht, zu büssen und durch die Busse dann Vergebung zu erlangen, sei unser Lebensziel. Nicht so in der Schweiz, denn hier ist Busse etwas sehr Profanes, Weltliches. Die Busse wird von der Polizei auferlegt und kostet 200 CHF:
    Polizeibusse wird angedroht

    Wer genau hinschaut, kann noch ein wunderbares schweizerdeutsches Wort lernen. Eines mit drei M, drei N und vier A: Das Stadtammannamt. Dazu passend gehört dann auch der Stadtammann, gleichbedeutend mit „Gemeindepräsident„, der in Engelberg auch als „Talammann“ bezeichnet wird (bitte nicht aussprechen wie „Ballermann„, sondern wie „Tal-Ammann„!)

    Polizeibusse in Deutschland hingegen sind etwas ganz anderes:
    Polizeibus

    Dennoch kann es passieren, das man in der Schweiz etwas falsch macht, dass man es nicht schafft, unfehlbar zu bleiben, zum Beispiel beim heimlichen Deponieren von Müll.
    Fehlbare werden verzeigt
    Die nette junge Damen links im Bild kommt aus Japan, heisst Nahoko und freut sich über grandiose Wörter der Deutschen Sprache, die alle im Duden stehen.

    Während wir in Deutschland „angezeigt“ werden können, müssen wir in der Schweiz nicht verzweifeln, wenn wir „verzeigt“ werden. Unser Schicksal ist dann noch nicht „vergeigt„. Kommt es dann zur polizeilichen Untersuchung, werden wir auch nicht „vernommen“ durch den Polizisten, sondern „einvernommen„. DieEinvernahme“ ist demzufolge in der Schweiz die polizeiliche Befragung, das Verhör. Ein ziemlich einnehmendes Unterfangen.

    Sind Sie in einer solchen Situation allein bei der Polizei, sollten Sie sich nicht versprechen, sondern jemanden haben, der für sie spricht. In der Schweiz heisst so jemand daher: Der Fürsprecher, das ist ein Rechtsanwalt. Immer dran denken: Wir bewegen uns hier in einem sehr deutschen Sprachraum!

    Falls sie nun als Deutscher belustigt sind über diese merkwürdige Ausdruckweise der Schweizer, seien Sie versichert: Der humoristische Ersteindruck verblasst mit den Jahren, und Sie fangen auch an, von „Fehlbaren„, „Einvernahmen“ und „Fürsprechern“ zu sprechen. Es kann auch passieren, dass man plötzlich anfängt, über den Sinn und Unsinn hochdeutscher Wörter nachzudenken:

    Warum wird in Deutschland das Aufeinandertreffen von zwei Autobahnen ein „Autobahndreieck“ genannt, obwohl man ja auch sagen könnte, dass eine Autobahn sich in zwei Strecken „verzweigt“ und damit eine „Verzweigung“ bildet? Wo ist jetzt der Joke? Die Schweizer empfinden „Autobahndreieck“ genauso lustig, wie wir Deutschen die Bezeichnung „Verzweigung“ amüsant finden. Alles eine Sache der Gewohnheit.
    Verzweigung oder Autobahndreieck?

    Wenn der Lehrer krank ist, bleiben die Kinder daheim: Alltag in einer Schweizer Primarschule

    September 16th, 2005

    Die Schweizer Grundschule heisst „Primarschule„, beginnt mit dem 7. Lebensjahr und geht sechs Jahre, nicht nur 4 Jahre wie in Deutschland. Auch sonst ist einiges anders in der Schweiz:

  • Ganztagsschule?

  • In Deutschland gehen die Kinder von 8.00 – 13.00 Uhr in die Schule, es wird eine „Kernzeitbetreuung“ garantiert, auch wenn ein Lehrer krank ist. In der Schweiz herrschen im Prinzip Verhältnisse wie in Frankreich, d. h. jeden Tag Schule bis 16.00 Uhr, ausser Mittwoch nachmittags. Anders als in Frankreich ist der Unterricht jedoch nicht durchgängig. Die Kinder müssen mal schon um 8:00 Uhr, mal erst um 9:30 Uhr zur Schule, oder kommen schon um 11.00 Uhr heim, um dann um 13:30 Uhr nochmals loszuziehen. Der Lehrer macht in der ersten Zeit etwas pädagogisch sehr Löbliches: Er teilt die schrecklich grossen Klassen von fast 16-20 Schülern in zwei Gruppen auf, und unterrichtet immer nur eine Hälfte. Die andere Hälfte geht derweil wieder nach Hause. So ist intensives Arbeiten mit den Lerngruppen möglich.
    Gibt es in einer Familie 2-3 Kinder im schulpflichtigen Alter, kommt daheim für die Mutter nie Langeweile auf, denn es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Eine Betreuung durch die Schule über die Mittagszeit wird nicht angeboten.

  • Telefonalarm bei Krankheit

  • Ist der Lehrer krank, wird morgens um 7.00 Uhr über einen „Telefonalarm“ der Unterricht abgesagt und die Kinder bleiben daheim. Erst nach 3 Tagen wird eine Vertretung an der Schule organisiert. Im Stellenplan ist keine Vertretung oder Bereitschaft eingeplant.

    Die Schweizer Primarschullehrer haben bisher kein pädagisches Hochschulstudium vorzuweisen, es genügt ein 2 jährige Seminarausbildung. Dies soll sich aber ändern, in Zukunft ist auch für Primarlehrer ein Universitätsausbildung notwendig.

    Der Unterricht ist gut, die Klassen sind ja klein und überschaubar. Anders als in Deutschland, wo erst bei 32 Schülern eine Klasse geteilt wird. Der Lärmpegel ist gering, es geht „lieslich“ (Schweizerdeutsch für leise) zu, die Schüler huschen in ihren Finken durch die Klasse, machen viel Gruppenarbeit und „Stationen“. Die Ausbildung legt einen Schwerpunkt aufs Rechnen, und weniger auf das Erlernen des Schriftdeutschen.

  • Hochdeutsch im Unterricht? Fehlanzeige…

  • Schriftdeutsch ist eine Fremdsprache, auch für die Lehrkräfte, die eigentlich angehalten sind, ab der 1. Klasse mit den Kindern auf Hochdeutsch zu sprechen. Allein, sie tun es nicht, oder nur die wenigsten.
    Hochdeutsch ist unangenehm, darin lassen sich keine Gefühle ausdrücken, Hochdeutsch ist sperrig. Die kleinen Kinder kennen Hochdeutsch aus dem Fernsehen, von der Sendung mit der Maus und von Peter Lustig, sie ahmen diese Sprechweise spielerisch und gekonnt nach… bis sie in die Schule kommen und von nun an lernen, das man in dieser Sprache keine Gefühle ausdrücken kann. Damit sie bloss nicht ihr Schweizerdeutsch verlernen, werden in der Schweiz erfolgreiche Zeichentrickfilm in einer Schweizerdeutschen Fassung angeboten. Aus „Der kleine Eisbär“ wird dann „dr Chliine Iisbär „. Märchen auf Hochdeutsch den Kindern vorzulesen ist angeblich unmöglich, sie würden nichts verstehen und bevorzugen die Schweizer „Märlis„, und Hörkassetten mit Kinderbuchklassikern von Astrid Lindgren werden extra mit Schweizerdeutschen Sprechern neu synchronisiert, so spricht Emil Steinberger den „Karlson vom Dach„, selbstverständlich auf Schwyzerdütsch.

    Gesungen wird auch, zumeist auf Schwyzerdütsch, denn das ist leichter. Und Theater wird gespielt! Leider auch wieder nur auf Schwyzerdütsch. So lernen die Kinder gleich, dass es ihren Dialekt auch geschrieben gibt und fangen früh an, ihn beim SMS schreiben praktisch zu üben. Simsen auf Hochdeutsch? Niemals.

  • Hochdeutsch schon im Kindergarten?

  • Immer wieder werden Forderungen laut „Hochdeutsch schon im Kindergarten“ (Tagblatt 18.08.05) einzuführen. Unserer persönlichen Erfahrung nach kommen diese Pläne zu spät. Wer die Gelegenheit nutzt und einmal den Primarschulunterricht seines Kindes besucht (in der Schweiz gibt es diese „Besuchswochen“, an denen die Eltern sich den Untericht anschauen können), wird rasch feststellen: Schwyzerdütsch ist das vorherrschende Idiom, die Lehrer kümmern sich nicht darum, ob Eltern dabei zuschauen oder nicht.

  • Können wir diese Elternversammlung auf Hochdeutsch abhalten?

  • Eine Elternversammlung mit Eltern aus ca. 20 verschiedenen Ländern, auch einige „Welschschweizer“ (so nennt man die Schweizer aus den französischsprachigen Kantonen) darunter, fast 400 Menschen im Saal. Es wird gebeten, aus Rücksicht auf die vielen Nicht-Schweizer auf Hochdeutsch zu sprechen. Es dauert genau 2 Minuten, da geht die Vorstellung und Diskussion auf Schweizerdeutsch weiter. Die Romands neben mir schütteln den Kopf und würden am liebsten aufstehen, sie verstehen nichts mehr. Sie schauen auch die Abendnachrichtensendung 10 vor 10 nicht mehr, weil darin permanent Interviews auf Schwyzerdütsch geführt werden.

  • Die Fachkompetenz der Schulpflege

  • In der Schweiz wird die Verwaltung der Schulen, die Anstellung von Lehrern, die Betreuung der Eltern im Konfliktfall mit den Lehrer etc. durch die „Schulpflege“ bewältig. Das ist eine Organisation von gewählten Laien, also „Nicht-Profis“ ohne fachlicher Ausbildung, die diesen Job ehrenamtlich für eine geringer Aufwandsentschädigung erledigen. So kann man Kosten sparen, und so wird Basisdemokratie praktiziert!
    Eine deutsche Schulbehörde mit ihren undurchsichtigen Entscheidungen, wer wann warum wo Lehrer oder Schuldirektor wird, ist „Kafkas Schloss“ dagegen. Die Sache hat nur einen Haken: Kommt es tatsächlich zum Streit zwischen Eltern und Lehrern über den Schulunterricht, wird der Lehrer mehrfach von einem Vertreter der Schulpflege im Unterricht besucht und beurteilt.

    Dieser Vertreter hat seine Fachkompetenz in schulischen Dingen dadurch bewiesen, dass er selbst vier Kinder auf der Schule hat. Ansonsten ist er vielleicht Verkäufer oder Bankangestellter, und muss plötzlich über die methodisch-didaktischen Fähigkeiten einer Lehrperson mit zweijähriger Ausbildung Urteil ablegen. Die Situation ist absurd und entbehrt nicht einer gewissen Komik: „Der Lehrer folgt einer Linie, wenn er unterrichtet“. Das Zitieren weiterer „Fachargumente“ erspare ich mir.

  • Die Foto von uns ist schön

  • Dann war der noch der erfahrene Primarlehrer, der für die Kinder am Computer ein „Übungsprogramm Deutsche Grammatik 4. Klasse“ geschrieben hatte. Darin mussten sie entscheiden, welcher Artikel zu welchem deutschen Nomen gehört:
    Auto? Das Auto.
    Garten? Der Garten.
    Foto? Die Foto….
    Als unsere Tochter monierte und sagte, „das heisst doch ‚Das Foto““ wurde sie eines Besseren belehrt: In der Schweiz heisst es „die Foto„, von „die Fotografie

    Zum Schluss:
    Was wir hier schildern, ist natürlich unsere ganz persönliche Erfahrung. Die Primarschulen und ihre Lehrer sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich, sicherlich gibt es auch sehr gute Schulen und engagierte Lehrer die nur Hochdeutsch sprechen. Leider durften wir solche in 4 Jahren nicht kennenlernen.