Die Deutschen. Wo liegt das Problem? — Andreas Durisch in FACTS

Juni 3rd, 2010

(reload vom 8.02.07)

  • Wir bewundern ihre Dichter
  • Im Editorial zur letzten FACTS Ausgabe im Februar 2007 schreibt der damalige Chefredaktor Andreas Durisch über die Deutschen in der Schweiz:

    „Die Deutschen. Wo liegt das Problem? Wir bewundern ihre Dichter, wir achten ihre Denker.“

    Und schon geht das Problem los. Ihre Dichter? Ihre Denker? Sind Goethe, Schiller, Lessing, Fontane, Keller oder Gotthelf nicht als Dichter in der gemeinsamen deutschen Sprache daheim? Gehört Kant, Hegel und Luther den Deutschen und Zwingli oder Calvin den Schweizern? Von Einstein fangen wir lieber gar nicht erst an. Ach ja, und wem gehört eigentlich Hermann Hesse? Der wurde als Deutscher geboren und starb als Schweizer. Etwas, dass Thomas Mann nicht gelang, denn ihn haben die Schweizer zwar als Emigrant geduldet, aber als Bürger nicht gewollt, aus Furcht vor Repressionen durch Nazideutschland. Bleiben wir doch lieber bei der Sprache dieser Dichter, die „gehört“ niemanden, die verwendet jeder der kann und will.

    „Sie bauen unsere bevorzugten Autos, sie haben eine Bundesliga. Berlin ist hip. Günther Jauch der beste Quizmaster“.

    Gefahren wird in der Schweiz alles, auch Renault und Fiat und jede Menge Japaner. Der Automarkt ist international und gleichmässig aufgeteilt in der Schweiz. Auch im Schweizer Fussball wird Geld verdient, und wenn Berlin hip ist, dann ist Zürich angesagt. Und was Günther Jauch angeht, nun, es gibt genügend hochkarätige Schauspieler wie Bruno Ganz oder Showtalente wie Kurt Felix, die da einen gesunden Ausgleich liefern.

    „Mal abgesehen vom Streit um die Nordanflüge auf Zürich-Kloten hat sich unser Verhältnis zu den Nachbarn in den letzten zwei Jahrzenten merklich entspannt. Jetzt ist eine neue Konflikzone am Entstehen. Die deutschen Zuwanderer führen inzwischen die Immigrationsstatistik an — vor den Portugiesen und den Ex-Jugoslawen. Allein im Jahr 2005 zogen gut 20 000 Menschen au dem grossen Kanton in die Schweiz.“

    Tschuldigung, ist das mit dem „grossen Kanton“ eigentlich noch ein Witz in der Schweiz oder bereits eine Tatsache, ein feststehende Redewendung, die man ohne mit der Wimper zu zucken von sich gibt? Für mich ist es ein Selbstläufer wie die berüchtigte Steigerung bei „in keinster Weise“, von der jeder weiss, dass sie falsch ist, die aber durch andauerndes Wiederholen irgendwann im Duden als korrekt aufgeführt sein wird.

    „Ein Problem? Ein Vorteil! Wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben einen ähnlichen Charakter“

    Diesen letzten Satz muss ich mir noch mal ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen. Die „gleiche“ Sprache ist noch lange nicht die „selbe“. Ja, es „gleicht“ sich ein bisschen, was wir sprechen. Und auch „ähnlich“ lässt viel Spielraum für eigenständige Ausformungen. Wir wollen doch fürs Protokoll festhalten, dass Deutsch eine Fremdsprache ist und nicht gesprochen sondern nur geschrieben wird in der Schweiz, hat man uns jedenfalls oft genug versichert, irgendwann müssen wir auch ja auch anfangen es zu glauben.

    „Gerade deshalb sind die Deutschen zu unangenehmen Konkurrenten im eigenen Land geworden, die sich um die gleichen Jobs bewerben wie wir“.

    Noch einmal Tschuldigung: Wer bewirbt sich denn da von den Schweizern auf diese Stellen? Da ist doch niemand, der sich bewirbt, sonst hätten die Pflegedienstleitungen der Schweizer Spitäler oder die Besetzungskommission für eine Professorenstelle an der ETH doch schon längst den hochqualifizierten Schweizer Bewerber eingestellt, oder habe ich da was falsch verstanden. Und wenn die Pflegekräfte nicht aus Deutschland oder anderen EU-Staaten kämen, dann würden eben Betten im Spital stillgelegt, so einfach ist das. Eine eingeschränkte medizinische Grundversorgung hiesse das im Klartext.

    „Gut qualifiziert, aber günstiger als Arbeitskraft“.

    Ein Klischee, das durch häufiges Wiederholen nicht wahrer wird. Als ob Deutsche Job-Bewerber nicht bereits lange wissen würden, was sie hier am Schweizer Markt wert sind. Der Markt reguhttp://www.blogwiese.ch/wp-admin/post.phpliert den Preis. Das ist bei den Stellen genauso wie bei jeder anderen Ware oder Dienstleistung. Wenn es einen Mangel an guten Fachkräften gibt, dann wird mehr gezahlt, gibt es denn nicht mehr, dann gehen die Gehälter runter.

    „Da wird der Deutsche, den wir als Individuum durchaus mögen, zum Teutonen, der schneller und präziser spricht, angriffiger debattiert. Das nervt. Denn wir mögen es auf keinen Fall, wenn Deutsche den Ton angeben. Das ist in Mallorca so und jetzt bei uns zu Hause erst recht“.

    Seltsamer Weise werden von grossen Firmen gern Deutsche Kaderkräfte als „Drahtbesen“ eingestellt, um auszukehren, um unbequeme Entlassungen vorzunehmen, um quasi die „Drecksarbeit“ bei den notwendigen „Umstrukturierungen“ durchzuführen. Da nervt es nicht, wenn ein Deutscher „den Ton angibt“. Auch Herr Mörgeli äusserte im Club den Verdacht, dass Deutsche hier gern auch im Vereinsleben anfangen das Heft in die Hand zu nehmen etc. Möchte wirklich wissen, in welchen Vereinen er verkehrt. Die meisten Deutschen in der Schweiz arbeiten brav, verhalten sich angepasst, freuen sich über das schöne Land und den guten Verdienst, hoffen darauf, auch mal Schweizer kennenzulernen, und haben nach einer 42.5 Stundenwoche garantiert anderes zu tun als sich um den Posten des zweiten Vorsitzenden oder das Amt des Kassenwarts in einem Schweizer Gesangsverein zu streiten.

  • Wer fährt eigentlich zum Ballermann?
  • Apropos Mallorca: Ballermänner sind kein spezifisch deutsches Phänomen, die kommen gleichfalls aus Belgien, England, Holland oder Skandinavien. Vielleicht mischt sich ja auch der eine oder andere Schweizer unter das Volk am Strand von Mallorca um mal richtig die Sau rauszulassen? Ich kenne Zürcher, die gern mal am Wochenende nach Hamburg fliegen und dann auf der Reeperbahn kein Auge zu machen von Freitag bis Sonntag. Billigflieger machen es möglich. Zu Zeiten der Weltmeisterschaft in Deutschland waren die Unterschiede zwischen den grölenden und „tonangebenden“ Fans aller Nationen jedenfalls äusserst „fliessend“, kühl und blond, meist mit Schaumkrone auf der Tulpe.

    Vielleicht besucht Herr Durisch ja demnächst mal im Urlaub die Deutschen in der Provence oder in der Toskana, um dort bei einem Gläschen Pastis oder Chianti darüber zu philosophieren, welche Ferienhäuser dort den Schweizern, Engländern oder Deutschen gehören.

    Robert Gernhardt schrieb:

    Deutscher im Ausland

    Ach nein, ich bin keiner von denen, die kreischend
    das breite Gesäss in in den Korbsessel donnern,
    mit lautem Organ „Bringse birra“ verlangen
    und dann damit prahlen, wie hart doch die Mark sei.

    Ach ja, ich bin einer von jenen, die leidend
    verkniffenen Arschs am Prosecco-Kelch nippen,
    stets in der Furcht, es könnt jemand denken:
    Der da! Gehört nicht auch der da zu denen?

    (Quelle: Gedichte Reim und Zeit, Reclam 2001, S. 54)

    „Auch für Schweizer in Deutschland gibt es Problem“ — Erfahrungen einer Schweizerin in Berlin

    April 29th, 2010
  • Seit 20 Jahren in Deutschland
  • Wir bekamen Post von einer Schweizerin, die seit 20 Jahren in Berlin lebt und über ihre Erfahrungen mit Deutschen schreibt:

    Was mich irritiert: Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland. Ich kann es mir hier weder im Privaten noch im beruflichen Alltag noch auf einer Internet-Plattform erlauben, meine Beobachtungen und manchmal auch kritischen Beobachtungen über die Deutschen kundzutun.

    Wenn ich es doch mal anspreche höre ich stets den deutschen Lehrer.

    Wenn ich z. B. sage ich versteh nicht warum man sich morgens im Büro gar nicht grüsst und warum meine Vorgesetzten nicht sagen können: „Würdest Du bitte das und das für mich erledigen“, sondern nur im preussischen Befehlston mit mir reden können wie z. B. „Meier, mach ma‘ dies mach ma‘ das …“. Wenn ich dann selbst meinen Mitarbeitern gegenüber in meiner höflichen Art begegne um etwas bitte und mich nach getaner Arbeit bedanke, höre ich „na die Kleene hat ja keine Eier (Hahaha)“.

    In was für einen Macho-Laden ist sie da wohl geraten? Idioten gibt es überall, und eine gewisse Form von Anstand gehört auch zur Deutschen Firmenkultur. Nur wird nicht grad jeder Mitarbeiter am Vormittag mit Vornamen und/oder Handschlag begrüsst, wie es bisweilen in der Schweiz geschieht

    Unsere Schweizerin in Berlin berichtet weiter:

    Häufig kriege ich folgende reflektierten Antworten:

    „Das ist doch Dein Problem!“
    „Wir sind tolerant, liberal und weltoffen!“
    „Du schnallst es eben nicht, Puppe.“ (Wohlgemerkt ich bin Akademikerin, Architektin von Beruf)
    „Wo kommst Du nochmals her, ach ja von unserm deutschen Ableger im Süden.“ (Hahahaha, Grööl, Polter, Schulterklopfen)
    „Na wenn´s Dir hier nicht passt dann geh doch!“
    „Wenn es uns nicht gäbe, gäb es Euch gar nicht.“
    „Ihr existiert doch nur wegen dem Bankgeheimnis.“
    „Was ne eigene Kultur? na Du hast sie ja nicht alle. Sei mal froh dass Du hier leben darfst.“
    „Du hast halt kein Selbstbewusstsein, dein Problem.“

  • Schweizer Bescheidenheit vs. Deutsches Selbstbewusstsein
  • Die grösste Ursache für Deutsch-Schweizer Verständnisprobleme sieht sie beim Auftreten Thema „Selbstbewusstsein“ und „Bescheidenheit“:

    Zurückhaltung und etwas Bescheidenheit wir einem hier ja gleich als mangelndes Selbstbewusstsein ausgelegt. Und Selbstkritik scheint mir -mit Verlaub – keine sehr deutsche Eigenschaft zu sein …

    Auch für Schweizer in Deutschland gibt es Probleme.

    Darüber zu reden, ein Verständnis, oder eine Plattform zu finden ist in dem etwas selbstgefälligen Klima hier nicht möglich. Auch ich wundere mich oft über die Deutschen und könnte über skurrile Verhaltensweisen berichten, die z .B. manchmal zwischen devoter Unterwürfigkeit und übertriebenem Selbstbewusstsein schwankt.

    Viele meiner Schweizer Freunde hinterfragen sich, warum sie mit den deutschen Einwanderern Probleme haben und bemühen sich zu verstehn, was dahinter steckt und können sich auch mal kritisieren (selbst kritisieren), und sie können auch mal über sich lachen, dass sie eben Kuhschweizer sind.

    Den Begriff „Kuhschweizer“ kennt meines Wissens niemand in Deutschland. Schweizer werden mit vielem assoziiert. Mit Schokolade, Skifahren, Uhren, Käse, Demokratie und Banken, aber gewiss nicht mit „Rückständigkeit“, wie sie durch „Kuhschweizer“ zum Ausdruck kommt. „Sauschwab“ oder „Saupreuss“ hat man als Deutscher wahrscheinlich eher mal gehört, bei Besuchen im Elsass oder in Bayern.

  • Keine Selbstkritik unter Deutschen?
  • Sie schreibt weiter:

    Ich hab noch keinen Deutschen in Deutschland getroffen der sich selbst hinterfragt, oder der über sich lacht und mir mal zuhört wenn ich kritisiere.
    Das stimmt mich bei aller Selbstkritik nachdenklich.

    Mich auch. Mit was für unmöglichen Berlinern muss diese Schweizerin in 20 Jahren zusammengelebt bzw. gearbeitet haben? Ich glaube nicht, dass Deutsche weniger selbstkritisch oder selbstbewusster als viele andere europäische Nationalitäten wie Frankreich, Italien oder Grossbritannien sind.

    Die Schweizen in Deutschland

    April 23rd, 2010
  • So viele Schweizen, aber keine Deutschlanden
  • Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ bringt im Magazin ihrer aktuellen Ausgabe 17 vom 22.04.2010 eine beeindruckende Karte über all die Landschaften, die in Deutschland den Namen „Schweiz“ tragen. Es gibt derer weitaus mehr als nur die „Sächsische“ oder die „Hosteinische“ Schweiz:
    Oeynhauser Schweiz
    Gohfelder Schweiz
    Spradower Schweiz
    Oldendorfer Schweiz
    Dammer Schweiz
    Niedergrafschafter Schweiz
    Anholter Schweiz
    Sonsbecker Schweiz
    usw. , über 80 Orte in Deutschland tragen den Namen „Schweiz“.
    Schweizen in Deutschland
    (Quelle: Zeit-Magazin Nr. 17 vom 22.04.2010, S. 10)
    Eine grosse Version der Karte gibt es hier:
    Im Begleittext heisst es:

    „Es heißt ja, dass sich Paare in der Krise an ihre glücklichen Zeiten erinnern sollten – wenn sie wenigstens das noch gerne täten, sei vielleicht nicht alles verloren. Deutschland und die Schweiz, gerade in einer akuten Beziehungskrise (es geht um das liebe Thema Geld), sollten sich also an die Romantik erinnern, auch wenn diese Epoche schon mehr als hundertfünfzig Jahre vorüber ist: Damals verehrte Deutschland die Schweiz so sehr, dass es hügelige Landschaften im eigenen Land nach ihr benannte.
    In Ostwestfalen kam es zu einer Schweizhäufung, und auch sonst wurde vor allem nördlich des Mains (man vermisst ja umso mehr, je größer die Distanz zum Vermissten ist) so munter nach der Schweiz getauft, dass schon Theodor Fontane auffiel: „Die Schweizen werden jetzt immer kleiner.“
    (Quelle: Zeit-Magazin Nr. 17 vom 22.04.2010, S. 10)

    Uns fällt auf, dass im Süden Deutschland die Begeisterung für die Schweiz spontan nachlässt. Kein Ort in Bayern oder Baden-Württemberg heisst so, bis auf die „Neuffener Schweiz“ und die „Kleine Schweiz“. So nah dran am Schweizerland hat man es nicht nötig, die eigenen Berge romantisch umzubenennen.

    Weiter heisst es in der Zeit:

    Dabei ist doch nur die Liebe groß, wenn man selbst im kleinsten Hügel noch die Verehrte erkennt. Dass die Schweiz die Geschenke erwidert hätte, indem sie flache Landschaften nach Deutschland benannte, darüber ist nichts bekannt. Man hätte damals schon stutzig werden können.

    Gibt es es kein „Klein Deutschland“ in der Schweiz? Vielleicht sollte man Kreis 4 und 5 in Zürich so umbenennen?

    Der Deutsche wäre eigentlich gerne so wie wir – weil er das nicht schafft, lacht er uns aus — Roger Schawinski über Schweizer und Deutsche

    April 21st, 2010

    (reload vom 15.1.07)

  • Schweizer sind per se keine Respektpersonen
  • In der Beilage „Das Magazin“ des Tages-Anzeigers vom 05.01.07 schreibt der gewesene SAT1-Chef Roger Schawinski über die Schweizer und die Deutschen:

    Schweizer sind per se keine Respektpersonen, aber auch keine Hassvorlagen. Man nimmt sie einfach nicht ganz ernst, auch wenn man die Schweiz heimlich bewundert.
    (Quelle: Alle Zitate nach medienlese.com)

    Eine unglaubliche Erkenntnis. Welche andere Nation ist denn bitte schön „per se“ eine Respektperson bzw. eine Hassvorlage? Bruno Ganz wird wegen seiner schauspielerischen Leistung respektiert, nicht weil er Schweizer ist. Und wenn jemand persönliche Probleme mit DJ BoBo hat, dann eher weil er auf eine andere Musik abfährt und nicht weil er ihn als Schweizer Hassvorlage sieht. Zumal der Künstlername „Bobo“ seine Produkte in manchen Ländern sowieso unverkäuflich machen, weil sie unter „censored“ fallen. Ein Grund, warum die Schreibweise BoBo so wichtig ist.

    Roger Schawinski
    (Quelle Foto: about.ch)

  • In der Schweiz findet man Qualitäten
  • Denn die Schweiz ist, wenn man ein bisschen tiefer bohrt, in vielen Aspekten so, wie man sich das eigene Land wünscht. In der Schweiz findet man Qualitäten, die man früher auch besass und auf die man stolz war, und die man für immer verloren glaubt.

    Bravo! Er zitiert den bekannten Mythos von der „Schweizer Qualität“, die es sonst nirgends gibt. Wir haben das Thema bereits hier diskutiert: Swiss Quality regiert die Welt.

    Was in der Schweiz ganz ausserordentlich gut funktioniert, ist die Vermarktung dieses Mythos. Der Wert „Swiss Quality“ an sich ist nicht subjektiv messbar. Seine Verbreitung und sein Bekanntheitsgrad jedoch sehr wohl. Absolut beeindruckend läuft in diesem Land ausserdem die Marketing-Maschine für die Schweiz als „naturnahes Heidiland“,welche das „Schokoladen&Käse-Heile-Welt“ Image auf Geissenpeters Alm propagiert.

  • Warum die Deutschen in die Schweiz ziehen
  • Deshalb ist es kein Wunder, dass es immer mehr Deutsche in die Schweiz zieht. Zwar besitzen Länder wie Australien, Kanada oder die USA viel mehr Glamour, und in ihrer Fantasie stellen sich Millionen von Deutschen ein neues, spannenderes Leben in einem dieser grossen, weiten Länder vor. Aber wenn sie beginnen, kühl zu analysieren, fällt ihre Wahl immer öfter auf die kleine, nahe Schweiz.

    Auch hier irrt Schawinski gewaltig. Die so häufig als „romantisch“ und ihrem Gefühl folgenden Deutschen werden durch ganz pragmatischen Gründen bewogen, in die Schweiz zu gehen. Zürich liegt von Stuttgart oder Frankfurt einfach weniger weit entfernt als Vancouver oder Chicago. Nach Kanada oder in die USA wandern immer noch Menschen aus, aber der Umzug dorthin ist schlichtweg nicht so einfach wie die kurze Reise in die Schweiz bzw. die Stellensuche übers Internet, erleichtert durch die Freizügigkeit und den baldigen Wegfall der Kontingente.

  • Lieber am Zürichsee als am Wannsee leben
  • Deshalb ist unser Land in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswandererland der Deutschen avanciert. Vor allem Zürich ist zur neuen Traumdestination geworden. Stundenlang hat man mir die Vorzüge dieser Stadt beschrieben und immer wieder betont, dass man sich nichts sehnlicher als ein Haus an diesem einen wunderbaren Ort wünschen würde.

    Ich glaube Schawinski gern, dass ihm dies die Berliner erzählen, die sich im kalten Winter in Ostdeutschland kalte Füsse holen und auch gern einmal 50 Minuten vom nächsten Skigebiet entfernt wohnen möchten. Darum ist auch München immer noch die „heimliche Hauptstadt“ Deutschlands. Wenn in Zürich keine Jobs offeriert würden, sondern wieder in Stuttgart und dem Mittleren Neckarraum, der innerdeutsche „Brain-Drain“ würde sofort wieder in diese Richtung fliessen, wie bereits in den 90ern, als frisch diplomierte Ingenieure nur dort oder im Grossraum München einen Job finden konnten.

  • Was die Deutschen in der Schweiz suchen und finden
  • Hier suchen und finden sie die deutsche Ordnung in Form von funktionierenden Institutionen, hier und nicht mehr in ihrem Heimatland, was sie mit einer gewissen Wehmut zur Kenntnis nehmen.

    Ich zähle mal eine Reihe dieser „funktionierenden Institutionen“ auf, die Deutsche hier finden und vorher in Deutschland mit Wehmut vermisst haben. Als da sind:
    — Kindergärten an 2-3 Stunden am Tag, abwechselnd mal morgens oder nachmittags.
    — Zahnärzte zum selbst bezahlen.
    — Kinderkrippen für Gutbetuchte.
    — Ein traumhaftes Angebot an Wohnungen und Häusern, zu noch traumhafteren Preisen.
    — Behörden die für jeden administrativen Akt Gebühren verlangen, besonders für die x-te Neuauflage einer L-Bewilligung (vgl. Blogwiese).
    — Besondere Behandlung von schwerreichen Exil-Deutschen die deutlich weniger Steuern bezahlen als vergleichbar vermögende Schweizer oder normal arbeitende Deutsche.

  • Deutsche Ordnung in der Schweiz?
  • Nun, wir sind ja für unsere „Motzkultur“ bekannt und haben uns mit diesen Unterschieden gut arrangiert. Aber „deutsche Ordnung in Form von funktionierenden Institutionen“ sind mir in der Schweiz noch nicht als herausragendes Merkmal aufgefallen. Die Institutionen funktionieren gut, da gibt es nix zu meckern, aber auch nichts zu bejubeln.

    Dass ihnen die langsamen, bedächtigen Schweizer in diesen wichtigen Belangen den Rang abgelaufen haben, können sie nur mit einer kapitulierenden Absage an die Reformmöglichkeiten im eigenen Land verargumentieren, dessen sichtbarstes Symbol eine verkrustete grosse Koalition unter der Führung einer zaudernden Angela Merkel ist.

    Die wahren Meister der „grossen Koalition“ sind mit Abstand die Schweizer, die ihre Form der „Konsensdemokratie“ mit der „Zauberformel“ bereits erheblich länger an der Macht haben als es für Deutsche je vorstellbar wäre. In Deutschland folgte auf die erste „Grosse Koalition“ wieder der übliche Wechsel zwischen Regierung und Opposition.

  • Reformen stehen auch in der Schweiz an
  • Auch in der Schweiz stehen Reformen an, auch hier werden „verkrustete“ Strukturen nur mühsam aufgebrochen. Die Probleme beider Ländern sind ähnlich. Die Geschwindigkeit, mit der Lösungen gefunden werden, gleich langsam. Der Hauptunterschied in der Schweiz ist, dass alle grossen Themen vom Volk mit entschieden werden müssen und daher von Anfang an eine breite Unterstützung benötigen, während in Deutschland das Volk sich lieber von oben regieren lässt, bzw. von den Müttern und Vätern der Verfassung und der Bundesrepublik in diese Rolle gesteckt wurden.

  • Der Deutsche Bedarf an Revolution ist noch gestillt
  • Ausserdem sind in der Schweiz noch echte Revolutionen möglich, wie die Gründung des Kanton Juras oder die im Kanton Glarus im Mai 2006 beschlossene Reduktion von 25 auf 3 Gemeinden. In Deutschland haben wir seit dem Herbst 1989 noch unsere letzte Revolution aufzuarbeiten. Föderalismusreform steht nun auf dem Programm.

    „Der Deutsche wäre eigentlich gerne so wie wir – weil er das nicht schafft, lacht er uns aus“
    (Das Magazin 01-2007, S. 25)

    Zu dieser Aussage fällt mir nichts ein. Sie lässt mich sprachlos. Ich wusste überhaupt noch nicht, ob ich wie irgend jemand sein wollte auf der Welt. All die positiven typischen Eigenschaften, die uns gewöhnlich im Zusammenhang mit „typischen Schweizern“ einfallen, als da sind Fleiss, Pünktlichkeit, Disziplin, Beharrlichkeit etc. werden auch häufig im Zusammenhang mit Deutschen zitiert. Und ob nun ausgerechnet die vielzitierte Höflichkeit der Schweizer für Deutsche eine nachahmenswerte Tugend sein muss, darüber lässt sich streiten. Die Deutschen bleiben dafür wesentlich länger beim höflichen „Sie“. Die gleiche Höflichkeit, die sich beim Tür-Aufhalten und beim Betreten eines Fahrstuhls zeigt, ist bei der nicht vorhandenen Begeisterung für das typisch britische Schlangestehen wieder verschwunden.

  • Wer lacht über die Schweizer?
  • „weil er das nicht schafft, lacht er uns aus“
    (Das Magazin 01-2007, S. 25)

    Die Deutschen lachen doch nicht über die Schweizer, sondern über den in ihren Ohren ungewohnten Hoch- und Höchstalemannischen Dialekt, den sie einfach putzig finden. Zunächst, denn nach 2-3 Monaten im Land verliert sich diese komische Effekt ganz von allein. Roger Schawinski hat mit dieser Äusserung Nahrung geliefert über den klassischen Schweizer Minderwertigkeitskomplex:
    Ihr lacht uns aus“. Man muss es oft genug wiederholen, damit es auch jeder glaubt. Die meisten Deutschen nehmen die Schweizer gar nicht als Schweizer war, sind sich der vielen tausend unter ihnen lebenden Schweizern gar nicht bewusst und haben das Schimpfwort „Kuhschweizer“ noch nie gehört.

    Wo der Eindruck durchzogen und das Wetter nie durchwachsen ist

    April 12th, 2010

    (reload vom 10.1.07)

  • Was alles durchgezogen wird
  • Das kleine Wörtchen „durchziehen“ oder „durchgezogen“ lässt sich vielseitig verwenden. Für die Truppen Napoleons auf dem Weg von Frankreich in Richtung Österreich durch die Schweiz ebenso wie für eine grobe Handlung, die einfach „durchgezogen“ wird, ohne Rücksicht auf Verluste. Etwas so durchzuziehen lässt auf Tatkraft und Entschlussfähigkeit schliessen. Das Ergebnis ist in jedem Fall positiv zu werten.

    Lässt man nun das Binnen-„ge“ wegfallen, wird aus „durchgezogen“ das Adjektiv „durchzogen“. Ein Wort, dass in der Schweiz besonders beliebt ist in Zusammenhang mit Leistungen oder Eindrücken, aber auch sonst einer ganzen Reihe von Dingen. So lasen wir in 20Minuten:

    Doch während Andrea Jansen – im Vergleich zu ihrer Vorgängerin Nina Havel war sie ein einziger Lichtblick – die Eröffnungsshow von «MusicStar» solide moderierte, hinterliess ihr Kollege Max Loong am Sonntag einen durchzogenen Eindruck.
    (Quelle: 20Min)

    Falls Sie jetzt nicht wissen, wer Andrea Jansen, Nina Havel oder Max Loong sind, so ist das kein Problem. Die Schweizer lernen diese Namen auch ständig neu. Man spricht hierzulande zärtlich von der „Cervelatprominez„, lecker und beliebt wie Salami-Aufschnitt. (Siehe auch: Die Schweiz und ihre Promis).

    Leider haben wir dieses sensationelle Medienereignis nicht live am Fernsehen verfolgen können. Zur Hebung der Einschaltquote wurde erneut der manierliche und für seine höflich-frische Art bekannte Vorzeigedeutsche Detlef D. eingeladen. Nun warten alle darauf, dass er wieder ausrastet und Blick titeln kann: „So nicht, Herr D. wie Deutschland“.
    Detlef D mit Knopf im Ohr
    (Quelle Foto: Detlef D. auf SF)

    Sie wissen nicht genau, wer das ist? Das ist der Typ mit dem Knopf im Ohr, auf dem Foto zu erkennen, für den extra eine Simultanübersetzung Schwiitzerdütsch-Neuhochdeutsch geschaltet wird bei der Sendung. Jedenfalls war dies so bei der letzten Ausgabe von MusicStar, einer Schweizer Casting-Show. Vielleicht hat er ja inzwischen sein Hörverständnis fürs Höchstalemannische genauso trainiert wie die Teilnehmer ihre Choreographie mit ihm.

  • Der durchzogene Eindruck
  • Was uns an dem 20Minuten Zitat sofort ins Auge stach, war der „durchzogene Eindruck“. Was kann alles „durchzogen“ sein? Vor allem Fleisch mit Speck oder feinen Adern. In Deutschland ist es in diesem Fall eher „durchwachsen“:

    durchwạchsen; [mit Fleisch] durchwachsener Speck; [mit Speck, Fett] durchwachsenes Fleisch; durchwachsenes (ugs. für abwechselnd besseres u. schlechteres) Wetter; die Stimmung ist durchwachsen (ugs. für nicht besonders gut)
    (Quelle: Duden.de)

    Tatsächlich gelten die Wörter „durchwachsen“ und „durchzogen“ als Teilsynonyme. Das Variantenwörterbuch sagt deutlich:

    „durchwachsen, durchzogen, durchsetzt (z. B. Fleisch von Fett) sind gemeindeutsch“ (S. 195)

    Aber ganz so einfach ist das nicht mit diesen Wörtern, denn die Kombination von „durchzogen“ mit dem Wort „Eindruck“ findet sich eindeutig nur in Schweizer Quellen:
    Beispiele:

    „Leider nicht, der Film hinterlässt einen durchzogenen Eindruck.“
    (Quelle: outnow.ch)

    Nach Trybuet, das mit einigen guten Songs und viel Mittelmässigem einen durchzogenen Eindruck hinterliess, schaffen die Jungs mit ihrem neuen Album wieder die Wende zum besseren.
    (Quelle: hitparade.ch )

    Insgesamt fanden 34 Belege bei Google-CH. Aber auch andere Dinge können in der Schweiz „durchzogen“ sein, nicht nur die Täler von Bächen:
    Wir fanden:

    Sarah Meier mit durchzogener Darbietung an EM
    (Quelle: SarahMeier.ch)

    Genauso wie den

    Durchzogener Nachmittag in Porrentruy
    (Quelle: tvmuttenz.ch)

    Auch den „durchzogenen Saisonstart“ konnten wir entdecken.

  • Gerne mal was durchziehen
  • Was lernen wir daraus: Die Schweizer ziehen gern mal was durch, und das ist dann sicher immer etwas Positives. In Deutschland durchziehen Fäden den Stoff, oder Bäche die Landschaft, immer im ursprünglichen Sinne und nie so hübsch übertragen wie in der Schweiz. Dafür ist in Deutschland dann alles zum Ausgleich „durchwachsenen“. Insbesondere der Eindruck:

    Wir fanden 134 Mal den „durchwachsene Eindruck“ bei Google-DE

    Das Adjektiv „durchwachsen“ wird überhaupt nur in Deutschland mit einer besonderes negativen Bedeutung verwendet. Unser Variantenwörterbuch beschreibt:

    durchwachsen D adj.: mittelmässig; abwechselnd besser und schlechter: Trotz durchwachsenem Wetter konnten die Trainer … über zwanzig Jugendliche mit ihren Eltern und Geschwister begrüβen (Landshuter Ztg 14.10.1998, 22)

    In der Schweiz kennt man „durchwachsen“ nur beim Speck (131 Stellen Google-CH). Die Formulierung „durchwachsenes Wetter“ findet sich in der Schweiz 10 Mal weniger als in Deutschland (70 Fundstellen bei Google-CH gegenüber 848 Stellen bei Google-DE.)

    Ob sich der Schweizer Schnellsprecher und Wetterman Jörg Kachelmann (zur Zeit in Untersuchungshaft in DE) diese Top-Formulierung auch schon eingeprägt hat?