Die Schweiz ist kein Ausland — Denken alle Deutsche so?
November 2nd, 2007Am 1. November ging auf der Blogwiese ein sehr ausführliche Kommentar zu dem alten Artikel „Wieviele Deutsche verträgt die Schweiz“ ein, den ich hier ausführlich zitieren und besprechen möchte. Ein User mit dem Pseudonym „Bola“ schreibt:
In Deutschland müsste es mal im Verhältnis so viel Schweizer geben, wie es hier Deutsche gibt, die sich dann im Allgemeinen aber auch so benehmen-das Geschrei in D wäre gross.
(Quelle: Kommentar von Bola)
71 000 Schweizer verteilt auf 82 Millionen Bewohner in Deutschland sind natürlich etwas anderes als 188 000 Deutsche auf 7 Millionen in der Schweiz. Aber die Schweiz hat ja nicht nur Deutsche zu Gast, gleichauf mit den Deutschen liegen die Portugiesen, die Italiener sind bei 311 000 (Stand 2003) noch erheblich zahlreicher vertreten. Nur übertroffen durch die Bewohner aus dem ehemaligen Jugoslawien (Serben, Kroaten, Bosnier usw.), die zusammengefasst 368 000 zählen (Quelle: zahlenspiegel.ch ) .
Die Deutschen werden den Ruf, den sie haben, nicht los, da im Prinzip hausgemacht. Der Rest von Europa kann nicht unter kollektiver Wahrnehmungsstörung leiden.
Was ist ein Ruf? Was ist ein Klischee? Die europäischen Gäste während der WM in Deutschland haben sich sehr wohl gefühlt. Viele blieben freiwillig länger oder kamen im nächsten Urlaub wieder. Berlin ist eine der angesagtesten Städte in Europa und hat Paris oder London den Rang abgelaufen. Leiden die alle unter „kollektiver Wahrnehmungsstörung“, oder ist es nicht wieder der Blickwinkel einiger südlicher Nachbarn, die noch nie für länger in einer Deutschen Stadt lebten und die Deutschen von Nahen kennenlernten? „Wir kennen Euch Deutsche gut, aus dem Fernsehen“, sagte der Autor Thomas Küng (Gebrauchsanweisung für die Schweiz) in der Sendung Quer . Kann man ein Land und seine Menschen wirklich über das Fernsehen kennenlernen?
Auffällig, dass in Firmen, in denen der Anteil an Deutschen steigt, besonders bei Kaderjobs, moniert wird, der Ton werde kühler, ab heute heisst es “Sie” anstatt “Du”, “ich habe nicht 6 Jahre studiert, um jedem vom Pflegepersonal meine Entscheidungen zu erklären” usw. Da verliert sich Schweizer Firmenkultur, wenn das die Leute so wollen, bitte, wundert euch nicht, wenn hier immer mehr “eingedeutscht” wird.
Was versteht man eigentlich unter „Schweizer Firmenkultur“, wenn ein Unternehmen wie die UBS mit 81 000 Mitarbeitern in 50 Ländern agiert? Gibt es dort Apéros mit Fendant und Greyerzer Käsehäppchen? Wird nicht sowieso in diesen Firmen nur „you may say you to me“ üblich? Der beschriebene ruppige Ton unter Deutschen Ärzten wird oft als „Kasernenhof-Ton“ bezeichnet. Kommen denn die freundlichen, flauschig weichen deutschen Mediziner nirgends zu Wort?
Vielleicht will man die in einem Schweizer Spital in der Notaufnahme als Unfall-Chirurg überhaupt nicht sehen. „Du, ich bin übrigens der Detlef, und diese Aorta müsste unbedingt mal geklammert werden, wenn es Dir recht ist bitte schön, sonst läuft der Kerl noch aus“.
Jedes dritte Telefonat ein Deutscher, weiterverbunden, ein Deutscher und alles schön in deutscher Manier:”Anrufer, du bist ein Bittbesteller. Es ist so weil ich das sage….”. Gute Tag – sagen, wieso das denn ?
Definitiv gibt es eine andere Kommunikation am Telefon in Deutschland und in der Schweiz. Wer als Deutscher die Schweizer Variante nicht lernt, wird schnell überall auf Granit beissen und nie zum Ziel kommen. „Es ist so weil ich das sage“ ist ein klasse Begründung. Darauf kann man nur antworten: „Aber ich glaube das nicht weil ich das nicht glaube“.
Solange Deutsche das Gefühl haben, die CH sei kein “Ausland”, solange geht das so weiter. Es ist nicht selbstverständlich, sich woanders aufhalten zu können und sei es noch so verbrieft durch Verträge.
Ach, ist die Schweiz wirklich Ausland? Die Deutschen haben da sehr gute geschichtliche Erfahrungen wie wenig selbstverständlich es ist, sich woanders aufhalten zu können. Auch wenn es durch Verträge verbrieft ist. Wir brauchen da gar nicht weiter ins Detail gehen. 40 Jahre Mauer und Stacheldraht reichen vollkommen. Wenn Schweizer da ein Problem haben mit Ausländern, die sich hier zu sehr wie zu Hause fühlen, dann empfehle ich wie immer „Baut Zugbrücken“, und das Problem ist bald gelöst.
Eine Portion schweizerische Bescheidenheit täte diesen Leuten ganz gut und ein gewisses Mass an Loyalität zum eigenen Land und dem Land, in dem sie sich aufhalten dürfen, wäre ebenfalls hilfreich.
Wie weit es mit der schweizerischen Bescheidenheit zu mindestens in der belegbaren Internet-Öffentlichkeit beim Begriff und bei der Häufigkeit von „Swiss Quality“ zugeht, ist hier nachzulesen: Swiss Quality regiert die Welt! — Einfach immer nur der Beste sein
Aber Loyalität müssen so gewisse Deutsche erstmal erlernen, denn dass, was sie mit ihrem eigenen Land gemacht haben, ist in Europa beispiellos. Wie höhle ich mein Sozialsystem komplett aus, wie zersäge ich den Einzelhandel, wie komme ich meinem eigenen dreckigen Vorteil am nächsten. Wenn Einfältigkeit und “Hauptsache-Ich” regieren, sowie Raffinesse mit Klugheit/Besonnenheit verwechselt wird, dann gibt es für ein Volk nur eine Richtung, nämlich abwärts. Strukturellen Wandel gibt‘s in D nicht, dafür fehlt die Identität, welche ein Volkstamm normalerweise hat und der Wille sich selbst in Frage zu stellen.
Auch mit „Loyalität“ haben die Deutschen ihre ganz spezielle Erfahrung. „Führer befiehlt, wir folgen“ und so. Loyalität bis in den Tod, das soll mal reichen für ein paar Jahrhunderte. Das sind sehr viele Aspekte, die einzeln besprochen gehören. Das deutsche Sozialsystem braucht eine Reform, durchläuft eine Reform, ist reformiert, je nach Sichtweise. Immerhin existiert ein Sozialsystem, gibt es bezahlbare Kindergartenplätze und Erziehungsurlaub. Ob das in DE oder CH besser organisiert ist, darüber streiten die Experten.
„Hauptsache-Ich“ ist einer der Hauptgründe in der Schweiz dafür, dass so wenig Kinder geboren werden, und Paare freiwillig kinderlos bleiben um die Karriere und die Freizeit auszuleben. Und da nicht nur in der Schweiz.
Ob Deutschland wirklich so weit „unten“ steht und gleichzeitig immer noch Exportweltmeister ist, auch darüber liesse sich lange streiten. Das mit der Identität ist allerdings ein heikler Punkt, historisch gewachsen, denn während Frankreich schon Jahrhunderte Früher zur „Grande Nation“ verschmolzen wurde, blieben die drei deutschen „Reiche“ zum Glück nicht lange bestehen. Plurizentrismus wird im Deutschen nicht nur in der Sprache gelebt. Föderalismus bedeutet viele Zentren, und viele Identitäten. Wir haben da so unsere Probleme mit der einen „Deutschen Identität“ auf Grund gewisser historischer Erfahrungen.
Auf die Bemerkung hin, dass gemäss Statistik (wenn sie denn stimmt), die Deutschen die Italiener als ausländische Bevölkerungsgruppe in Zürich überholt haben sollen, die Bemerkung kommt:”Das ist ja nu auch kein Nachteil”, sowas kann nur von Deutschen kommen, die sich grundsätzlich für was besseres halten. Nach wie vor scheint es wirklich so zu sein, dass man mit Deutschen nur einen Zugewinn als Arbeitsressource verbindet, ansonsten scheint da Ebbe zu sein. Glücklicherweise sind sich da fast alle einig, dass Italiener kulturell viel mehr Zugewinn der CH gebracht haben als eben Deutsche, da hilft auch noch so stoisches aufzählen von Goethe etc. nicht viel.
Diese Diskussion hatten wir schon mal ausführlich hier: Pack den Schiller wieder ein — Wahre Kultur lernt man bei den Italienern
Die Hauptproblematik steckt in der Frage: „Gibt es eine Schweizer Kultur getrennt von der Deutschen, oder sind Deutsche und Schweizer nicht Teil der gleichen deutschsprachigen Kultur?“ Dieses ständige Ablehnen der „Deutschen Kultur“ ist damit eine nicht unwichtige Verdrängung der eigenen Identität. Und löst tatsächlich ungute Gefühle aus. Was wäre, wenn ich als Schweizer im wesentlichen gar nicht so anders als ein Deutscher denken würde, oder umgekehrt? Bricht dann eine Welt zusammen? Doch ich musst aufhören, die Lasagne im Ofen brennt sonst an, und die Vivaldi-CD läuft auch schon zum dritten Mal in der Wiederholungsschleife.

