Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 2) — Raus auf die Äste
(Reload vom 16.11.05)
Wir lasen im Tages-Anzeiger, unserem täglichen Lehrwerk für das korrekte Schweizer Schriftdeutsch:
„In dem sich Blocher von der Haltung des Bundesrates distanziert, strapaziert er das Kollegialprinzip. Mit seiner Kritik am Roadpricing lässt er sich ebenfalls auf die Äste hinaus. (Tages-Anzeiger 5.11.2005)“
Verstehen Sie noch etwas? Auf welche Äste klettert hier der Bundesrat Christoph Blocher hinaus? Ich dachte, Bern und der Bundsrat seien ein durchaus zivilisierter Ort. Die Schweizer haben die Bäume doch schon lange verlassen und wohnen jetzt zu ebener Erde in Häusern mit Fenstern, und nur noch äusserst selten in Krisenzeiten in tiefen Stollen in den Bergen, genannt „réduit“ oder gemütlichen eigenen Atomschutzbunkern mit Wanderschuhen und Chemieklo. Warum muss sich dann jemand „auf die Äste hinaus“ lassen?
Doch es ist ja nur so eine Redewendung: 697 Mal lässt man sich laut Google in der Schwez „auf die Äste hinaus“. Ich stelle mir vor, dass das noch aus der Zeit stammt, als Äpfel und Kirschen von Kindern gepflückt wurden, die hoch in die Bäume stiegen, und sich manchmal, auf der Suche nach den besten Früchten, weit auf die immer dünner werdenen Äste hinaus gewagt haben. So lange, bis der Ast krachte, oder sich nach unten bog.
Wer lässt sich auf diesen Ast hinaus?
(Quelle Foto: singerhuette.at)
Die Deutschen sind da etwas zivilisierter. Sie lehnen sich mitunter zu weit hinaus, allerdings dann nur aus dem Fenster. Doch sich aus einem Fenster hinauszulehnen wird auch immer schwieriger, da sich kaum mehr ein Fenster öffnen lässt, bei den klimatisierten Wagen der SBB oder DB schon gar nicht. „Ne pas se pencher“ war sicherlich der erste Satz in meinem Leben, den ich auf Französisch lernte. Oder doch der zweite, nach „Voulez-vous coucher avec moi ce soir“.
Sich auf’s Eis wagen dürfte als Redewendung ebenfalls vom Aussterben bedroht sein, weil kaum ein Kind noch zugefrorene Seen oder sogar Flüsse erleben darf in Zeiten der globalen Klimaerwärmung.
Einen Ast, auf dem sie sitzen, pflegen sie auch manchmal abzusägen, oder sie befinden uns ganz einfach auf einem absteigenden Ast. Aber niemand lässt sie auf die Äste hinaus, nicht einmal sie selbst. Dazu braucht es wohl erst einen Schweizerpass.
November 1st, 2007 at 1:34
Vielleicht lässt sich unser studierter Blogwiese-Französisch-Spezialist auch etwas weit auf die Äste raus, indem er couchez anstatt coucher schreibt…oder hab ich da was verpasst?
[Anmerkung Admin: Wow! Danke für den Hinweis. Im gleichen Satz stand „avec“ mit „v“ am Ende, und keiner hat es gesehen. Schon korrigiert!]
November 1st, 2007 at 13:34
Wer sich gern einmal ein bisschen aus dem Fenster lehnen möchte ohne auf Bäumen herumzuklettern, dem sei dieses kleine Buch empfohlen:
http://www.amazon.de/Hinauslehnen-Iso-Camartin/dp/3518395718/ref=sr_1_2/303-0065989-5428258?ie=UTF8&s=books&qid=1193920007&sr=8-2
Allein die wunderbare Glosse über die Schweizeridentität lohnt die Anschaffung. 🙂
November 1st, 2007 at 15:10
Und hier noch ein Beitrag zum Thema hinauslehnen, auf den Ast lassen, unters Eis geraten und Storch braten
http://www.20min.ch/news/zuerich/story/14190932
und vielleicht auch zum voulez vous cou… wie ist da eigentlich der Stand der Dinge
November 1st, 2007 at 21:54
Aha, das ist also auch ein Helvetismus? Wieder was dazu gelernt! Und hallo Schnägge und Neuromat, nach mehrmonatiger blogwiese-Pause.
November 8th, 2007 at 15:52
Ich habe mich eben gefragt, ob ich die Französisch-Fehler vor zwei Jahren bei der Ersausstrahlung des Artikels nicht gesehen habe. Aber uff, ich bin erleichtert, das stand dort damals gar nicht: http://www.blogwiese.ch/archives/88 . Was mir wieder beweist, dass ich auch die Reloads lesen sollte. Da kann durchaus auch Neues drin stehen.