Ein Schweizer Nummernschild sollte möglichst kurz sein

September 28th, 2007

(aktualisierter reload vom 4.11.05)

  • Jetzt können Sie Ihre Wunsch-Nummer ersteigern
  • So titelte eine halbseitige Anzeige im Tages-Anzeiger im Oktober 2005. Ähnliche Aktionen werden alle paar Monate wiederholt und umworben. Angeboten wurden traumhaft schöne Zulassungsnummern für das Auto:
    Beispiele:

    ZH 2261
    ZH 5028
    ZH 6260
    ZH 7723

    Was ist an diesen Nummern nur so schön, dass ich deswegen zur Versteigerung am 3. und 4. November zur Messe „Auto Zürich“ gehen sollte? Etwa, dass diese Nummern nur 4 Stellen haben???

    Damit ich sie mir leichter merken kann, wenn ich nicht mehr weiss, wie mein Auto aussieht und ich mit den Zulassungspapieren in der Hand, sukzessive die Ebenen des Parkhauses im Glattzentrums (4.750 Parkplätze) absuche, um mein Auto zu finden? Wenn man das Glattzentrum betritt, kann man beim Verlassen des Parkdecks eine Nummer ziehen. Am Anfang fragte ich mich auch warum, doch nachdem ich einmal 30 Minuten auf dem falschen Deck suchen musste, bin ich nun ganz kleinlaut und ziehe immer brav meine Nummer (es gibt 18 Parkdecks).

  • Je kürzer, desto wertvoller
  • In der Tat ist in der Schweiz eine Autonummer umso wertvoller, je kürzer sie ist. Kurze Nummern sind alte Nummern, zeigen praktisch an, dass man als Halter des Fahrzeugs schon sehr lange im Kanton wohnt und zu den ersten Autobesitzern überhaupt zählt. Wahrscheinlich ist man sogar adelig, wenn man eine 3-4stellige Nummer am Auto hängen hat, denn in der Frühzeit des Automobils konnten sich nur reiche Adelige in der Schweiz ein Auto leisten, oder reiche Industrielle.

  • Beim Zoll bevorzugt behandelt dank niedriger Nummer
  • Es wird sogar immer wieder erzählt, dass man mit niedrigen Nummern am Zoll durchgewunken wird, weil die Zöllern sofort wissen: „Obacht, da kommt ein extrem eingesessener Schweizer mit einer extrem tiefen und alten Nummer am Auto, wahrscheinlich ein ehemaliger Graf oder Fürst“. Darum sind die Schweizer bereit, horrende Summen für Autokennzeichnen mit tiefen Nummern zu zahlen. „Werde ein alteingesessener Eidgenosse durch den Kauf einer niedrigen Nummer“.
    Aus einem ähnlichen Motiv kleben sich manche Deutschen den Aufkleber der Polizeigewerkschaft aufs Auto, damit die Verkehrspolizei bei einer Kontrolle denkt: „Ach so, ein Kollege, den wollen wir doch rasch durchwinken“. Nur das dieser Aufkleber billiger ist als ein dreistelliges Nummernschild im Kanton Zürich.

  • Autonummer S-EX und M-AX
  • Ich habe nie verstanden, wie man sich leicht zu merkende Kennzeichen freiwillig aussuchen kann, oder sogar noch extra viel Geld dafür bezahlt. In Stuttgart gibt es z. B. zahlreiche „S-EX“ Kombinationen, und ein Münchener „M-AX“ ist auch nicht billig zu haben. Der Vorteil dieser Nummern? Nun, Sie finden Ihren schwarzen Schlitten in Zürich unter all den anderen schwarzen Schlitten ohne Probleme wieder. Denn in Zürich sind alle Autos schwarz. Oder dunkeldunkelblau, oder blau-schwarz, oder schwarz-dunkelblau. Ob diese Farbe gerade im Angebot war?

    Wenn jemand Ihren Wagen stehlen sollte, und Sie haben so eine tolle, leicht zu merkende Nummer, dann können Sie der Polizei sagen: „Das Kennzeichen lautet S-EX 69 69„, das wird das Vertrauen der Gesetzeshüter in ihre Seriosität sicherlich unmittelbar um 200 % anwachsen lassen und Sie werden bevorzugt behandelt. Dann schon lieber die absolut rattenscharfe Nummer ZH 7156. Für was stand „ZH“ nochmal gleich? Ach ja: „Zart & Heftig„.

    Der ehemalige Schauspieler und TV-Moderator Hans-Joachim „Blacky“ Fuchsberger (früher in den „Ein toller Käfer“ Filmen zu sehen, und in zahlreichen Edgar Wallace Gruselschinken) hatte als Kennzeichen „M-TV 1„, nicht so sehr wegen des Musiksenders, sondern dazumal als „Mister TiVi One“ zu lesen, der erste Mann im Fernsehen wahrscheinlich, weil die Jobs des ersten Menschens auf der Welt (Adam), oder des ersten Mannes auf dem Mond (Armstrong) schon vergeben waren.

  • Persönliche Kennzeichen
  • Die Schweizer Kennzeichen sind persönlich, man kann sie von Auto zu Auto mitnehmen. Hat jemand zwei Autos, muss er sie beide zulassen und er bekommt zwei Fahrzeugscheine. Da er nicht mit zwei Autos zugleich fahren kann, besteht die Möglichkeit, nur ein Kennzeichen zu erwerben, mit einem Versicherungsschutz, und dann wahlweise mit dem einen oder anderen Auto zu fahren. Er bekommt dann ein „Wechselnummernschild“ für beide Wagen.

  • Diebe in der Tiefgarage?
  • Als wir zum ersten Mal in einer Schweizer Tiefgarage beobachtete, wie sich da plötzlich jemand an den Nummernschildern zu schaffen machte, waren wir kurz davor, die Polizei zu rufen: „Diebe bei uns im Haus!“ Aber das ist hier Gang und gäbe („gäbe“ kommt von „gäbig“!).

  • Umbauaktion in der Tiefgarage
  • Die Nummernschilder werden regelmässig ummontiert. Vom Firmenwagen abschrauben, an den Freizeitwagen anschrauben, und am nächsten Morgen das ganz Kommando wieder zurück: Vom Freizeitwagen abschrauben und an den Firmenwagen anschrauben.
    Ganz clevere Schweizer verwenden „Magnetschilder“ die man nicht mehr zu schrauben braucht. Ob es da auch das James Bond Spezialmodel gibt, bei dem sich die Nummernschilder auf Knopfdruck wegklappen lassen? Mich wundert, dass bei den vielen Scherzen, die in der Halloween Nacht und in der Walpurgisnacht zum 1. Mai sonst so durchgeführt werden, noch niemand auf die Idee kam, einfach spasseshalber alle Magnetnummernschilder in einer Garage zu vertauschen.

    Hier fehlt das Magnetschild

    Am liebsten werden die Nummernschilder bei laufendem Motor in der geschlossenen Tiefgarage umgeschraubt. Einerseits, um sich gleich noch eine tüchtige Dröhnung Kohlenmonoxid zu verpassen, denn das törnt offenbar echt klasse, anderseits um sich vom ordnungsgemässen Betriebszustand der automatisch anspringenden Entlüftungsanlage zu überzeugen. Die verhindert dann zum Glück die Vergiftung. Ich frage in solchen Situationen dann immer höflich nach (wenn ich sehe, wie jemand bei laufendem Motor an den Schildern schraubt), ob vielleicht der Anlasser kaputt sei. Denn irgendeinen Grund muss es ja geben, warum der Motor nicht einfach ausgeschaltet wird.

  • Nummernschilder sind vorne klein und hinten gross
  • Warum? Vermutlich ist das eine reine Schikane, um den Import zu erschweren. Bei Importautos können sie die Halterungen für die alten Nummernschilder gleich demontieren. Sie brauchen neue Halterungen aus der Schweiz. Hinten wird bei den Radarfallen fotografiert, da muss das Nummernschild extra gross sein. Ausserdem passt ja sonst das Kantonswappen nicht mehr drauf. In allen EU-Staaten sind die Nummernschilder vorn und hinten gleich gross.

  • Jeder Kanton hat seine eigene Zulassungsstelle

  • Welch Kantönligeist in der Schweiz, welch geniale Arbeitsbeschaffungsmassnahme liegt darin begründet, dass wirklich jeder der 26 Kantone seine eigene Zulassungsstelle sprich sein eigenes Strassenverkehrsamt hat. Vielleicht ist das ja sogar eine echte Verdienstmöglichkeit? Wenn ich an die happigen Gebühren denke, die damals für das Zurücksenden der alten Nummernschilder an die deutsche Zulassungsstelle verlangt wurden. Wenn die kleinen Kantone mit weniger als 9999 Autos erst mal auf die Idee kämen, so wie in Zürich diese Nummern zu versteigern… da das wären vielleicht Umsätze!

    Wenn alles herzig ist — Variationen im Ausdruck der Schweizer

    September 27th, 2007

    (aktualisierter reload vom 3.11.05)

  • Der Hund ist herzig

  • Wir hatten einen Hund, der war klein und schnuckelig, der war süss, sehr verschmust uns gegenüber, aber sehr knurrig und reserviert gegenüber Fremden. Für die Schweizer war er vor allem eins: herzig.

    Am Anfang haben wir noch gedacht, unsere Schweizer Nachbarn haben wirklich ein Herz für kleine Hund, denn ständig riefen sie aus „jööö, was ist der herzig!„. Dann wurde es irgendwann zur Manie für uns: Wo wir hinkamen, das erste was wir hörten war: „Ist der herzig„. Nein, es war nicht „harzig“ oder „herzlich„, es war „herzig, herzig, herzig„.

    Herzig“ scheint das einzige Adjektiv zu sein, dass die Schweizer für kleine Hunde kennen. So sind kleine Hunde nun mal. Gesteigert noch mit „jööö, soo herzig!„, oder „megaaa herzig!„.

  • Der Killerschnauzer war nicht herzig

  • Ich habe dann versucht, die Situation etwas aufzulockern, in dem ich die Warnung: „Vorsicht, gefährlicher Killerschnauzer im Anmarsch“ rief. Keine Chance, unser Hund konnte knurren was das Zeug hielt, er konnte schnappen, böse drein blicken, oder einfach das Weite suche. Er war immer noch „herzig„.

    Die Wortfolge „so herzig“ findet sich bei Google-Schweiz ca. 34.000 Mal (Beleg)

  • Kleiner Google-Schweiz Vergleich

  • „So süss“ gibt es immerhin noch 30.000 Mal, „so niedlich“nur 2.400 Mal. „so schnuckelig“ nur 13 Mal, „so fein“ nur 9.560 Mal und „so lieb“ 14.000 Mal. Was ich damit sagen will? Die Schweizer finden offensichtlich kleine, süsse, liebe und schnuckelige Hunde vor allem „herzig“, es besteht hier ein erheblicher Mangel an Ausdrucksvariationen.

    Ob wir unseren Hund doch „Horst“ oder „Karl-Heinz“ hätten nennen sollen, damit er ernst genommen wurde? Er hiess übrigens Anton, kam aber nicht aus Tirol, sondern aus einem alten Fernfahrergeschlecht aus Ungarn und ass am liebsten Paprika (auf Deutsch) / Peperoni (auf Schwizerdütsch). Er starb im Mai 2007 an den Folgern einer unheilbaren Infektion, die er sich wahrscheinlich durch einen Zeckenbiss zugezogen hatte. Er hatte ein sehr glückliches Leben und war ein prima Kumpel. Wir vermissen ihn sehr.

    Gefährlicher Killerschnauzer
    (In Memoriam Anton)

    Dabei gibt es noch so schöne andere Adjektive in der Schweiz.

  • Zum Beispiel „gäbig“

  • In einem Artikel des Tages-Anzeigers über das Schweizer Schulwesen heisst es: „Den Blockunterricht finden die Eltern ‚gäbig’.“ Immerhin wird das Wort „gäbig“ durch Anführungszeichen als „nicht-schriftfähig“ gekennzeichnet. Solche Vorsicht beim Umgang mit geschriebenen Dialektwörter findet sich nicht oft. Bei „gäbig“ war sie unnötig, denn das Wort ist im Deutschen Rechtswörterbuch verzeichnet mit den Bedeutungen „brauchbar, tauglich, freigebig, tauglich“ (Quelle).

  • Oder „rässer“

  • Einen „rässer“ Typen gibt es nicht, es sei denn, er hat Stinkefüsse (Hochdeutsch „Käsemauken„).
    Rässer“ ist die Steigerung von „räss„, also mehr als räss. Und „räss“ bedeutet soviel wie pfiffig, interessant, würzig. Das gilt nicht nur für Käse, sondern auch für Alpenschwinger.

    Etwas so Leckeres und Würziges wie Käse wird mit der Zeit nicht schlecht sondern höchstens „rässer„. Nur leider passt das nicht für unseren Hund, den der duftet angenehm „hundisch“, nur wenn er sich mal wieder in einer Jauchepfütze gesuhlt hat, zur Tarnung, damit ihn die Wildschweine nicht wittern können, dann riecht auch er ziemlich „räss„.

    Was treiben die Schweizer in der Freizeit? — Sie verscharren Hunde!

    September 26th, 2007

    (reload vom 02.11.05)

  • Was treiben die Schweizer in der Freizeit?
  • Sie treffen sich alle „im Ausgang“, als wären sie bei der Feuerwehr und müssten die Brandschutzverordnung auf allen angezeigten Fluchtwegen kontrollieren. Sie gehen Billard spielen, oder Golf, alles Tätigkeiten, bei denen etwas „eingelocht“ wird. In Deutschland wird man „eingelocht“, wenn einen die Polizei ins Kittchen steckt (das ist nicht die falsch geschriebene Englische Küche, sondern ein Knast)

  • Hund verscharren als Zeitvertreib
  • Oder sie gehen gemeinsam einen Hund verscharren: „Hundsverlochete“ heisst diese Veranstaltung.
    Was ist das nun wieder für ein merkwürdiges Ding?

    Hundsverlochete„, so bezeichnet man im Berndeutsch eine Veranstaltung, deren Anlass, der „reason why“ des Besuchs uneinsichtig ist. Man kam halt wieder einmal zusammen, sprach, ass und trank etwas zusammen, ging dann wieder nach Hause. Und erinnerte sich nie wieder an den Anlass. Wenn man als Unternehmung einen Anlass plant, so sollte das Ziel sein, dass dieser auf keinen Fall als „Hundsverlochete“ in Erinnerung bleibt bzw. eben nicht bleibt (Quelle)

    Da werden die Basler sich freuen, dass dieser Ausdruck als „Berndeutsch“ bezeichnet wird. Aber Hunde, die es zu beerdigen gilt, gibt es wohl in Basel genau wie in Bern. Ursprünglich kommt der Ausdruck nämlich von „verlochen“ = etwas in einem Loch verscharren, also geht es hier um ein Ereignis, das so unwichtig ist wie die Beerdigung eines Hundes?

    Dieses rituelle Hundeverscharren findet so regelmässig statt, dass man dafür schon eine Website einrichten musste: http://www.hundsverlochete.ch

    Bei den häufigen „Verlochungen“ muss natürlich immer wieder darüber berichtet werden, zum Beispiel in der Basler Zeitung. Die Berichte darüber sind so zahlreich geworden, dass sich ein Leser darüber schon im Internet-Forum der Zeitung beschwert hat:

    Also meine Bitte, keine Berichte über jede «Hundsverlochete» (Quelle)

    Nun, der Anlass ist sehr beliebt, und jeder bringt dann bestimmt auch seinen Spaten mit, um allzeit parat zu sein, bei der nächsten „Hundsverlochete“.

    Wissen die 14 % Leser aus Deutschland jetzt, was eine Hundsverlochete eigentlich ist? Dann nichts wie hin…

    Nichts wie raus hier — Die Schweizer und ihr Schulsystem

    September 25th, 2007

    (reload vom 01.11.05)

  • Einschulung erst mit sieben Jahren
  • Das Schweizer Schulsystem als Deutscher verstehen zu wollen, ist ein schwieriges Unterfangen. Es beginnt mit der Einschulung. Kein Land in Europa schult so spät ein, wie die Schweiz. Erst mit sieben Jahren beginnt hier die Schulpflicht. Die Grundschule heisst Primarschule und geht fast überall 6 Jahre. In Deutschland dauert sie 4 Jahre. Danach kommen die Kinder in der Schweiz auf die dreijährige „Sekundarschule“, kurz „Sek.“

    In Deutschland verteilt sich der Schülerstrom im fünften Jahr auf die Hauptschule, Realschule und das Gymnasium. Viele (ex-)sozialdemokratisch regierten Bundesländer haben zusätzlich die Gesamtschule eingeführt und das vorhandene „dreigliedrige“ Schulsystem teilweise dadurch abgelöst. In der Schweiz gab es die Varianten „Oberstufenschule“, „Realschule“, „Bezirksschule“, die Bedeutungen variieren von Kanton zu Kanton.

  • Kanti, die Schule des Philosophen
  • Das Pendant zum deutsche Gymnasium wird in der Schweiz meist „Kanti“ genannt, nach dem berühmten Deutschen Philosoph Immanuel Kant. Je nach Kanton existiert auch die Bezeichnung „Mittelschule“ oder „Gymi“ (was wie „Gimmi Shelter“, einer Platte der Rolling Stones, ausgesprochen wird). Das Kanti wird vom Kanton finanziert.
    Das Kanti in Bülach

  • Die Hefte und Stifte werden bezahlt
  • Anders als in Deutschland, wo sich die „Lehrmittelfreiheit“ nur auf die vom Staat gestellten Bücher bezieht, werden in der Schweiz auch das Schreibzeug, die Füller und Hefte von der Schule gestellt. In Deutschland müssen die Eltern eines Erstklässlers vor Schulbeginn mit einer detaillierten Einkaufsliste in ein Schreibwarengeschäft gehen und Schreibhefte und Schulmaterial im Wert von locker 80 CHF einkaufen, selbstverständlich aus eigener Tasche zu bezahlen. Die Liste wird von der zukünftigen Klassenlehrerin (in der Grundschule sind männliche Lehrer immer noch die absolute Minderheit) per Post zugeschickt. Schulbücher werden nur ausgeliehen und müssen in Deutschland immer länger verwendet werden. So kann es passieren, dass in Erdkunde Kartenmaterial verwendet wird, auf dem noch das geteilte Deutschland zu bewundern ist. Aber auch in der Schweiz brachte unsere Tochter Schulbücher mit nach Hause, die schon 12 Jahre alt waren und in denen noch die alte Rechtschreibung gelehrt wurde.

  • Schule ist Pflicht
  • Die Schweizer sprechen vom „Schulobligatorium“. Die Deutschen nennen es „Schulpflicht“. Die Pflicht ist also obligatorisch. Wer nicht zur Schule geht, und ihr fernbleibt, hat eine Absenz. Im Zivildienst in Deutschland lernte ich diesen Begriff kennen für den kurzen „Bewusstseins-Aussetzer“ eines Epileptikers, das vorübergehende Wegdämmern auf Grund von zu starker Dosierung von Antiepileptika. Hier haben sie alle Absenzen, sowohl in der Schule als auch bei der Arbeit.

  • Schulhoheit bei den Ländern

  • Es gibt in Deutschland nur ein sehr schwaches „Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur“, denn die wahre Macht über das Schulwesen hat die Kultusminister-Konferenz. Hier wird darüber entschieden, ob das mit nur einer Fremdsprache abgelegte Abitur aus Nordrhein-Westfalen ausreichend ist, um damit an einer Universität in Bayern zu studieren, oder ob und wann die Rechtschreibreform verbindlich wird. Das jeweilige Bundesland zahlt die Gehälter der Lehrer, während die Stadt oder der Kreis für den Unterhalt der Gebäude und Räumlichkeiten aufkommen muss. In Baden-Württemberg werden 52% des Staatshaushaltes für Gehälter von Lehrern, Ministern, Polizisten etc. verwendet.

    Der Bund und die Kantone teilen sich die Verantwortung für das Bildungswesen, wobei die Kantone weitgehend grosse Autonomie haben. Im Bezug auf die obligatorische Schule (Primarstufe und Sekundarstufe I) ist auf nationaler Ebene seit Ende der 1980er-Jahre der Schulbeginn auf Mitte August harmonisiert worden. Die Bundesverfassung garantiert zudem einen freien Grundschulunterricht. Es ist damit durchaus üblich, dass Gymnasiasten die Kosten für ihre Lehrmittel selber tragen müssen. Auch erheben manche Kantone eine Gebühr für den Besuch eines Gymnasiums in Form eines Schulgelds, welches aber bei weitem nicht die wahren Kosten der Ausbildung deckt. Diese trägt das Gemeinwesen. Ausserdem stellt der Bund sicher, dass die Schulen den Qualitätsanforderungen genügen. (Quelle)

  • Die Flucht der Schüler aus der Schule
  • In der Schweiz beobachten wir als Deutsche ein ganz anderes Phänomen, das uns unerklärlich ist: Die hohe Anzahl von Schulabgängern nach der Sek-Stufe, also der 9. Klasse. Ich habe vor einiger Zeit eine solche 9. Klasse unterrichten dürfen. Es waren aufgeweckte und intelligente Jugendliche, sicherlich 25 % von ihnen hätte ohne Probleme die Kantonschule besuchen und die Matura (das Schweizer Abitur) ablegen können. Aber nur einer von 25 Schülern strebte dies an.
    Wie kommen junge Menschen dazu, bereits mit 14-15 Jahren genau zu wissen, dass sie nicht mehr zur Schule gehen wollen und stattdessen einen Berufsausbildung beginnen? Die meisten hatten schon in der 8. Klasse, in Sek 2. also, den Ausbildungsplatz gefunden und zugesagt, und mussten nun das letzte Jahr der Sekundarschule nur noch „absitzen“, dementsprechend gering motiviert.
    Oberstufenschule Mettmenriet Bülach

    Woher kommt dieser für Deutsche so ungewöhnlich frühe Wunsch, die Schule zu verlassen? Ist das System so schlecht, so wenig motivierend, so uninteressant, dass die Kids schulmüde werden und sich sagen: „Nichts wie raus hier“? Sind die Anforderung auf der Kantonsschule wirklich so viel höher als auf einem Gymnasium in Deutschland, dass sich so wenig Jugendliche eines Jahrgangs zutrauen, weiter die Schule zu besuchen? Schliesslich muss man dort ständig Hochdeutsch sprechen, nicht nur im Deutschunterricht. Oder liegt es an der so ganz anderen Sozialisation, die Schweizer Kinder durchlaufen. Bekommen sie unbewusst durch die Gesellschaft, das Elternhaus und das ganze soziale Umfeld beigebracht: „Nur wer schnell einen Beruf hat, zählt etwas im Leben“?

  • In Deutschland wollen alle das Abi machen und studieren
  • Wir können nur aus Deutschland berichten, wo der Abbruch der Schule vor dem von allen angestrebten Abitur immer irgendwie ein Scheitern bedeutet. Niemand hört freiwillig auf mit der Schule, bevor nicht das Abitur erlangt ist. Wenn es denn nicht anders geht, wird eben nur ein „Fachabitur“ daraus, oder die „Fachhochschulreife“ (= ein Jahr kürzer als das Abi). Schule ist cool, denn sie bedeutet viel Freizeit, viele Ferien, und wenn es wegen des verdienten Geldes ist: Einen guten Nebenjob kriegt man als Schüler auch. Dann wird erstmal studiert, egal was, denn wenn die Eltern es nicht finanzieren können, dann gibt es günstig das Ausbildungsdarlehen vom Staat, das „Bafög“ (nach dem Bundes-Ausbildungsförderungs-Gesetz), oder man findet als Student leicht einen Job, weil die Arbeitgeber da keine Sozialabgaben zahlen müssen, solange du an einer Uni eingeschrieben bist. Die zukünftigen Arbeitgeber haben sich darauf eingestellt. Eine Banklehre in Deutschland ist zwar bereits mit der „Mittleren Reife“ möglich (Abschluss nach der 10. Klasse Realschule mit einer zweiten Fremdsprache), in der Praxis werden aber nur Abiturienten genommen.

    Das Resultat ist natürlich eine Studentenschwemme, gefolgt von einer „Akademikerschwemme“. Viele dieser hochqualifizierten Deutschen flüchten dann ins Ausland, z. B. in die Schweiz, wo immer noch ein hoher Bedarf auf dem Arbeitsmarkt vorhanden ist. Oder sie werden Taxifahrer, wie einst der (noch) Aussenminister Joschka Fischer in Frankfurt.

    Natürlich gibt es auch in Deutschland Jugendliche, die nach der 10. Klasse eine Lehre beginnen wollen. Dennoch gibt es einen grossen Ansturm auf die Gymnasien. Jeder versucht es, jeder möchte so lange wie möglich weiter zur Schule gehen. Als eingeführt wurde, dass man nur mit einer „Empfehlung der Grundschule“ (d. h. sehr guten Noten) auf das Gymnasium kommen kann, habe viele Eltern über den Rechtsweg und dem Argument des „Grundrechts auf freie Schulwahl“ versucht, ihre Kinder dennoch in ein Gymnasium unterzubringen.

  • In der Schweiz machen sie am liebsten „das KV“
  • KV steht in Deutschland für „kriegsverwendungsfähig“, so wird man eingestuft, wenn man nicht mehr verletzt genug ist, um zurück an die Front zu müssen.
    Die Musiker kennen es als „Köchel-Verzeichnis“, dem Verzeichnis der Mozart-Werke, und die Ärzte gehören zwangsweise zur Kassenärztlichen Vereinigung um mit den Krankenkassen die Behandlungen der Patienten abrechnen zu können.
    In der Schweiz wollen alle ins KV, das steht für „Kaufmännischer Verband“, um eine KV-Lehre zu absolvieren. Das ist eine solide Ausbildung, vielseitig verwendbar. Man macht sich dabei die Finger nicht schmutzig, holt sich keinen Schnupfen, und an Computern darf man obendrein noch arbeiten.

  • Mit 19 schon erwachsen?
  • Mit 19 sind diese jungen Schweizer dann fertig mit der Ausbildung und beginnen ihr Leben allein zu gestalten. Ein Alter, in dem viele Deutsche gerade mal mit der Schule fertig sind und mit der Bundeswehr beginnen, ein freiwilliges soziales Jahr ablegen, Zivildienst machen oder als Au Pair ins Ausland gehen, bevor sie darüber nachzudenken beginnen, was sie denn eigentlich werden möchten.

    Haben Sie auch einen Puff daheim? — Die französischen Lehnwörter in der Schweiz

    September 24th, 2007

    (reload vom 31.10.05)

    Ich bekam Post aus Obwalden und las den Satz:

  • Ich habe einen Puff daheim!
  • Was will uns diese Schweizer Schreiberin damit sagen?
    Wohnt sie im Vergnügungsviertel, womöglich direkt im Rotlichtmilieu?
    Ist sie selbst im „horizontalen Gewerbe“ tätig?
    Oder beherbergt sie so etwas womöglich im eigenen Haus?
    Ausser beim Blutspenden gibt es bekanntlich nicht viele weitere Möglichkeiten, bei denen sich sonst im Liegen bequem Geld verdienen lässt. Nein, sie hat lediglich daheim nicht aufgeräumt. Die Schweizer sagen dann „einen Puff haben„. Wie kommt es dazu? Nun, wie so oft, ist es ein Lehnwort aus dem Französischen. In Frankreich und somit auch in der Westschweiz sagt man „quel bordel„, wenn eine Situation besonders unübersichtlich oder verwirrend anmutet. Das wurde von den Schweizern irgendwann clever übersetzt. In Fremdsprachen sind sie bekanntlich gut, die Schweizer. Sie sprechen zum Beispiel oft ziemlich gut Hochdeutsch.

    Die Textverarbeitung Word für Windows in der Uraltversion 6.0 lieferte als Synonym für das Word „Puff“ übrigens den Begriff „Frauenhaus„. Es gab noch andere Scherze in dieser Version. So wurde das Wort „Unternehmer“ als Synonym für „Ausbeuter“ ausgegeben, und die Überprüfung von „Realitätsverlust“ führte absolut jederzeit reproduzierbar zu selbigem, nämlich zum Absturz des Systems.

  • Wir foutieren diese Regelung einfach
  • Im August 2003 veranlasst der Chef des BAZL (= Bundesamt für Zivilluftfahrt), den Flugbetrieb des Tessiner Flughafens Lugano-Agno aus Sicherheitsgründen empfindlich einzuschränken. Die Tessiner Behörden beschliessen jedoch, die Regelung zu foutieren.
    Oups, was war das denn wieder für ein Wort?

    „Foutieren“ kommt aus dem Französischen, von „foutre„, das wiederum von Latein „futuere“, und das bedeutet eine ganze Menge, was Wörter, die mit „f“ beginnen, in den Europäischen Sprachen eben so alles bedeuten. Unter anderem auch „egal sein“. Wenn der Franzose ausruft „je m’en fous!“ meint er damit: „ist mir doch egal“. Wahrscheinlich haben die Suisse-Totos dies oft genug bei Ihren welschen Nachbarn gehört und daraus abgeleitet: „der foutiert das einfach„.

  • Könnten sie das denn wenigstens goutieren?
  • Bitte nicht verwechseln mit „guillotinieren„, es ist noch so ein Lehnwort aus dem Französischen. „Le goût“ = der Geschmack. „Goûter“ ist eigentlich schmecken. „Le goûter“ ist das „z’Vieri„, der kleine Imbiss am Nachmittag, das süsse Stückchen oder Kuchenteil für die spät von der Schule heimkehrenden französischen Kinder. In Frankreich schmeckt ja nichts, sondern es riecht: „Ca sent bon“ heisst „es riecht gut„, und für „es schmeckt gut“ müsste man „cela a un bon goût“ sagen, es hat einen guten Geschmack. Nicht so in der Schweiz. Da wird alles abgeschmeckt: „Das goutieren wir gleich“. Und wenn es gut schmeckt, hat man „Geschmack daran gefunden“. So ist das Wort zu verstehen: Es wurde begrüsst, oder für gut empfunden, es wurde „goutiert„.

    Interview mit Christoph Blocher vom 25.10.2001 „Die Steuerzahler werden das Crossair-Engagement nicht goutieren„. Der Mann spricht übrigens fliessend Französisch und in allen noch so zu kritisierbaren Parteitagsreden stets Hochdeutsch.

  • Haben Sie auch ein Depot?
  • Um ein Depot zu hinterlassen, muss man in der Schweiz keinen geheimen Stollen graben, um dort seine Waffen oder Konservendosen für den Notfall zu „deponieren“. Es reicht aus, einfach nur ein Pfand zu bezahlen. In Deutschland fährt die Strassenbahn (ja, ich weiss, dass die in der Schweiz „Tram“ heisst) am Abend ins Depot. Und das war’s auch schon, wo die Deutschen dieses Wort verwenden. Sonst bleiben sie lieber bei ihren „Pfänderspielen“ und hinterlassen ein Pfand.
    Le dépôt“ schreibt sich auf Französisch tierisch kompliziert mit zwei Akzenten und hat etliche Bedeutungen:

    das Depot
    dépôt m. [tech.] die Ablage
    dépôt m. die Ablagerung
    dépôt m. das Absetzen
    dépôt m. die Abstellung
    dépôt d’armes das Arsenal
    dépôt m. der Aufbewahrungsort
    dépôt m. der Bodensatz
    dépôt m. das Depositum
    dépôt m. die Einlage
    dépôt m. [admin.] [jur.] die Einreichung
    dépôt m. die Hinterlassung
    dépôt m. die Hinterlegung
    dépôt m. das Lager
    dépôt m. die Lagerhalle
    dépôt m. das Lagerhaus
    dépôt m. der Lagerraum
    dépôt m. die Postablage

  • Heben und nicht lupfen
  • Wenn ein Norddeutscher in den Süden kommt und auf einer Baustelle als Zimmermann zu arbeiten beginnt, muss er einiges dazulernen. „Heb mal den Balken“ heisst nicht, dass er ihn nun hochheben soll, sondern er möge ihn einfach nur festhalten. „Heben, nicht lupfen habe ich gesagt„. Schon kapiert. „Hochheben“ = „lupfen„. Da sind sich für einmal die Schweizer und Süddeutschen einig.

  • Il y a = Es hat noch, solange es etwas gibt
  • Auch bei „geben“ und „haben“ besteht nahe sprachliche Verwandtschaft zwischen der Schweiz und dem süddeutschen Raum. Sie fallen in Norddeutschland sofort auf, wenn sie an der Kaffeetafel die Frage stellen: „Hat’s noch Kaffee?“ Hier wäre „gibt’s noch Kaffee“ angebracht. Natürlich ist die Formulierung „es hat solange es hat“ etwas, dass man nur in der Schweiz und in Süddeutschland zu hören bekommt. Die Konstruktion erinnert an romanische Sprachen, wie im Französischen „Il y a“ (=es davon/dort hat).

    Ehrlich gesagt, wer lange genug im Süden lebt, übernimmt „Es hat noch Kaffee“ total automatisch, denn es ist eine durch und durch praktische Erweiterung des Sprachschatzes, nicht mit „es gibt“ zu vergleichen. Dennoch die Warnung: Sie ernten ein Lächeln, wenn sie „hat’s noch..?“ in Norddeutschland fragen und werden gleich in die Kategorie „Almöhi“ einsortiert.