Die Bildzeitung und die empfindlichen Schweizer
Juli 22nd, 2006Die Deutsche Bildzeitung ist in der Schweiz an Bahnhofskiosken und in allen grossen Orten erhältlich. Ich würde jedoch wetten, dass von den 200.000 Deutschen in der Schweiz die wenigsten diese Tageszeitung kaufen, geschweige denn lesen. Es ist einfach nicht die Lektüre eines Chirurgen. Blut sieht er am Arbeitsplatz genug. Oder eines studierten Theologen, der genug mit „Schuld und Sühne“ im Berufsalltag zu tun hat, und darüber nicht auch noch in der Zeitung lesen muss.
Sicher gibt es jetzt auch den ein oder anderen Handwerker, der in Zürich arbeitet und der sich die Bildzeitung in Deutschland gekauft hätte, denn sie ist gilt dort als vergleichsweise billige Pausenlektüre. Das ist sie jedoch nicht mehr, wenn sie in die Schweiz importiert wurde. Also lässt er die Finger davon und spart seine hart verdienten Franken, zu denen er niemals auch nur im Traum „Fränkli“ sagen würde, lieber für das Häuschen in Ostdeutschland.
Die Bildzeitung machte sich nach dem Elfmeter-Desaster der Schweizer Nati während der Fifa-WM über diese lustig. Zitat: „Da trifft sogar der Tell besser!“. Kein in der Schweiz lebender Deutsche hätte es überhaupt wahrgenommen, hätte es eines „Blicks“ gewürdigt oder zitiert, was in der Bildzeitung steht.
Damit sich alle ein Bild von der Bild machen können, hier der journalistisch und sprachlich höchst komplexe Text vom Tag nach dem Schweiz-Ukraine Debakel:
DIE TROTTELSCHWEIZER
Der legendäre Wilhelm Tell dürfte sich im Grab umgedreht haben: Seine Erben gehen als schlechteste Schützen aller Zeiten in die WM-Geschichte ein! Noch nie blieb eine Mannschaft im Elfmeterschießen ohne Treffer. Bis die Trottel-Schweizer kamen!
Beim 0:3 gegen die Ukraine versiebten sie alle drei Elfmeter. Jetzt fahren sie nach Hause – übrigens ohne Gegentor in der regulären Spielzeit. Auch ein Rekord, der sie aber nicht trösten wird. Denn sie haben sich zum Gespött der ganzen Fußball-Welt gemacht. 1307, vor 699 Jahren, soll Armbrustschütze Tell den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes getroffen haben– Entfernung: 80 Schritte, ca. 60 Meter! Jetzt treffen die Schweizer aus 11 Metern gar nichts mehr…
Ausgerechnet drei Bundesliga-Profis versagten: Streller (letzte Saison Köln, jetzt VfB) und Cabanas (Köln) scheiterten an Torwart Schowkowski. Barnetta (Leverkusen) traf nur die Latte.
(Quelle: Bildzeitung)
Kann man auch anders sehen: Lernen die denn bei der Bundesliga unter lauter Deutschen Profis nicht, wie man richtig Elfmeterverwandeln? Hätten Sie die Elfmeter verwandelt, hätte die Bild geschrieben „Unsere Kölner / Leverkusener Jungs sind die Torschützen„! Ganz sicher.
An dem peinlichen Aus sollen jetzt auch noch die deutschen Fans schuld sein. Fehlschütze Streller lederte gegen die Fans:
„Es ist unheimlich schwer, wenn man auf dem Feld versucht, ein WM-Spiel zu absolvieren, und die Zuschauer singen ganz unbeteiligt ‚Lukas Podolski’ oder ‚Ohne Holland fahren wir zur WM‘. Wenn bei so einem Spiel drei Viertel deutsche Zuschauer sind und viele Schweizer keine Karte kriegen, dann ist das schwach von der Fifa.“
Fakt ist: Von den 45 000 Zuschauern in Köln waren 20 000 Schweizer. 5000 feuerten die Ukraine an und der Rest hätte gern ein tolles Fußballspiel gefeiert. Die Rufe nach „Prinz Peng“ und die Hohn-Gesänge für unsere holländischen Nachbarn waren gegen die Langeweile auf dem Platz! Wetten, daß die deutschen Fans auch für die Schweiz und Streller gejubelt hätten? Doch dazu fehlte ein Schuß ins Tor. Das müssen Tells Erben bis zur EM 2008 in ihrer Heimat noch üben…
So weit, so schlecht, so Boulevard mit seinen simplen Sichtweisen. Ich habe diesen Bild-Bericht mühsam raussuchen müssen, denn überall wurde zwar „über“ ihn gesprochen, aber die wenigsten hatten das Original gelesen. In der Schweiz wurde er, auf Grund eines Berichts im Blick darüber, mit einer hohen Empfindlichkeit registriert, diskutiert und in der Folge den dort lebenden Deutschen täglich wieder unter die Nase gerieben:
„Gerade fingen wir an, Deutschland wegen seiner Gastfreundschaft während der WM wieder sympathisch zu finden, da passiert das!“
Muss man sich als Deutscher in der Schweiz nun rechtfertigen, wenn ein aggressives Massenblatt, das sowieso täglich massiv die Unwahrheit schreibt (vgl. Bildblog) seine Häme über das Nachbarvolk ausschüttet? Die gleiche Häme und Wut bekam vor wenigen Monaten noch Klinsmann und die Deutsche Mannschaft zu spüren, als die Vorbereitung auf die WM nicht so toll lief und gegen Italien 4:1 verloren wurde. Auf Urteile und Kritiken von dieser Seite sollte man doch wirklich nichts geben. Die Schweizer taten es, und sie schienen mächtig eingeschnappt.
(Quelle Foto: math.uni-bremen.de)
Vielleicht verkennen die Schweizer dabei, dass die deutsche Bildzeitung nicht mit dem „Blick“ vergleichbar ist. Das geht schon mit der Auflage los. Die Bildzeitung wird von mehr Menschen gelesen als die Schweiz Einwohner hat.
Die Bildzeitung ist die auflagenstärkste Zeitung Europas mit einer Reichweite von 11.8 Mio. Lesern.
(…)
Von Kritikern wird vor allem auf die reißerische Aufmachung, mangelnde Glaubwürdigkeit und Objektivität, Sensationsdarstellung und die thematische Konzentration auf Unfälle, Verbrechen, Prominente, Klatsch, Tratsch und Sex hingewiesen. Nicht zuletzt gibt es immer wieder Verleumdungs- und Rufmord-Kampagnen, bei denen Teilwahrheiten (im Sinne der Redaktion) zu gezielter Desinformation der Leser führen.
(Quelle: Wikipedia)
Es gehört zum Geschäft der Bildzeitung, über andere herzuziehen und Rufmord zu verüben. Da sind die Schweizer Elfmeterschützen eigentlich noch sehr glimpflich davongekommen. Darum am besten kein Wort mehr über diese Berichterstattung verlieren. Jede weitere Aufmerksamkeit wäre Kraftverschwendung.
Es ist natürlich schwer, die „Schweizer Empfindlichkeit“ zu verallgemeinern, ein Volk in seiner Gesamtheit hier „über einen Kamm“ zu scheren. Es sollte die Ansammlung von persönlich erlebten Situationen sein, die jeder dazu beitragen kann. Die leichte Änderung in der Haltung eines Schweizer Gegenübers, wenn er realisiert, dass Sie jetzt und unmittelbar mit einer Situation, Dienstleistung oder Auskunft NICHT zufrieden sind. Dass seine Rückfrage, ob das „jetzt so gut“ sei, von Ihnen nicht positiv begegnet wird. Sofort bricht Hektik aus, können wir Panikfalten auf der Stirn entdecken, wird der Ton rau und harsch.
Wir meinen hier beobachtet zu haben, dass unser Schweizer Gegenüber, wenn er denn ausnahmsweise mal etwas Negatives äussern muss, dies mit einer Spur mehr Barschheit von sich gibt, als wir es von Deutschen gewohnt sind. Vielleicht ist es das Bemühen, sich an den „direkten und (angeblich) unfreundlichen Ton“ des Deutschen anzupassen, in seinem Stil zu argumentieren, auf das gleiche Level hinauf (oder hinab?) zu kommen.
Jedenfalls misslingt es häufig. Wir haben oft in den Kommentaren dieses Blogs über Schweizer gelesen, die sich im Umgang mit Deutschen eine grössere Direktheit angewöhnt haben. Meist verwechseln oder kombiniert mit Unhöflichkeit, in dem Glauben, dies würde bei Deutschen zu mehr Erfolg führen.
Und genau da beginnt nun unser „Hirnspagat“: Wir sind zwar oft forsch, direkt, weniger höflich und unwirsch zu unserem Gegenüber, reagieren aber ebenfalls empfindlich wie die Mimosen auf einen solchen Ton, wenn wir selbst der „Empfänger“ sind.
Sind wir uns im Endeffekt doch viel ähnlicher, als wir es wahrhaben wollen? Meistens mag man bei seinem Gegenüber genau die negativen Eigenschaften am wenigsten, die man selbst hat. Klassischer Fall von „Übertragung„. Was man bei sich selbst nicht im Griff hat, muss zumindesten draussen in der Welt in Ordnung sein. So funktioniert das. Jeder kennt den super pingeligen und ordentlichen Nachbarn. Echte Chaotiker tarnen ihr persönliches seelisches Chaos durch nach aussen zur Schau gestellte perfekte Ordnung, die ihnen so etwas Halt im Sturm des Alltags gibt. Also haben Sie bitte Geduld und Verständnis mit ihrem Bünzli = Spiessbürger Nachbarn. Tief im Herzen ist er sicherlich ein Rocker. Frei nach Otto Waalkes:
„Wahre Deutsche sind wie Briefmarken: Aussen zackig, aber dahinter verbirgt sich ein klebriger Kern.“