-->

Wie langsam sind die Schweizer? — Vortritt geben und nicht Vordrängeln

(reload vom 7.1.07)

  • Die Nachbarstädte Konstanz und Kreuzlingen
  • Wir lasen im Tages-Anzeiger vom 06.01.07 auf Seite 2 einen interessanten Artikel über die Nachbarstädte Kreuzlingen und Konstanz:
    Langsame Schweizer

    Die sechs Jahre Weltkrieg waren für Kreuzlingen eine unmittelbare Bedrohung, die jahrzehntelang nachgewirkt und Ressentiments hinterlassen hat. Hinzu kommen Mentalitätsunterschiede: „Deutsche fahren schneller in den Parkplatz als wir; sie sind zuerst im Lift und reden rascher“, sagt der Kreuzlinger Lehrer Thomas Brütsch. „Da fühlen wir Schweizer uns immer ein bisschen minderwertig.“
    (Quelle: Tagi vom 05.01.07)

  • Fahren Deutsche schneller in Parkplätze?
  • Uns ist noch gar nicht aufgefallen, wie die Geschwindigkeit beim „in einen Parkplatz fahren“ gemessen wird. Es kann natürlich sein, dass wer so ein langes Verb wie „parkieren“ statt einem kurzen „parken“ benutzt, für die Tätigkeit an sich dann auch mehr Zeit braucht. Wahrscheinlich fühlen sich Schweizer Einkaufstouristen aus Kreuzlingen im hektischen samstäglichen Stadtverkehr in Konstanz nur unsicherer als die Einheimischen und fahren daher langsamer. Deutsche, die an einem verkaufsoffenen Sonntag im Einkaufsparadis Glattzentrum bei Zürich eine freie Parkmöglichkeit unter den 4.800 Parkplätzen suchten, kurvten ähnlich nervös und vorsichtig herum. An diesen verkaufsoffenen Sonntage in der Weihnachtszeit war bereits ab 10:00 Uhr kein Parkplatz mehr rund um Zürich zu finden. Wer 42.5 Stunden arbeitet wie die Schweizer kann nur am Sonntag Geld ausgeben, und dann aber bitte alle gleichzeitig.

    Kreuzlingen am Bodensee
    (Quelle Foto: pfimi-kreuzl.ch)

  • Nudeltage in Kreuzlingen
  • Der Einkaufstourismus zwischen den Nachbarorten Kreuzlingen und Konstanz funktioniert in beide Richtungen:

    Die Konstanzer kommen derweil zum Tanken und in die Migros — Letzteres gleich scharenweise, wenn doppelte Cumuluspunkte vergeben werden. Dabei kauft die deutsche Kundschaft mit Vorliebe Teigwaren ein. Weshalb Doppelcumulus-Tage in Kreuzlingen „Nudeltage“ heissen.
    (Quelle: Tagi vom 05.01.07)

    Falls Sie jetzt nicht wissen, was „Cumulus“ ist, dann lassen Sie sich vor ihrem nächsten Schweizbesuch vorwarnen. Wenn die Migros-Kassiererin „Haben Sie Cumulus?“ fragt, dürfen Sie auf keinen Fall „Darüber würde ich nur mit meinem Arzt reden“ antworten. Wenn die Migros-Verkäuferin Sie hingegen nach Ihrer Coop-Supercard fragt, dann haben Sie sich vertan und sind gar nicht in der Migros, sondern im Coop gelandet. Ist uns alles schon passiert. Falls Sie mit deutschen Bekannten zum ersten Mal in die Migros kommen, schicken Sie die am besten gleich los zum Weinkaufen , dann können Sie in Ruhe „go poschte“, d. h. ihre Posten erledigen, sprich „einkaufen“ und sehen die Bekannten garantiert eine Weile nicht mehr.

  • Deutsche sind zuerst im Lift
  • Wir kommen zurück zum Tagi-Zitat: „sie [die Deutschen] sind zuerst im Lift und reden rascher
    Die Deutschen kennen sonst nur Fahrstühle und Aufzüge, um damit in den Keller hinabzufahren. Kein Wunder dass sie gleich losrennen, wenn sie zum ersten Mal einen Schweizer „Lift“ sehen. Skilift, klar, der ist ihnen bekannt. Und erst recht kommt Freude auf, wenn sie dann im Lift das Schild entdecken, dass sie mit einem von „Schindlers Lifte“ unterwegs sind. Aber im Ernst: Es sind nicht die Deutschen zuerst im Lift, sondern es sind die Schweizer, die länger warten, die Tür aufhalten und den anderen automatisch den Vortritt lassen. Wir haben es das „Türen-aufhalten-Phänomen“ genannt.

  • Kein Vordrängeln sondern den Vortritt geben
  • Kein Deutsches „Vordrängeln“ also, sondern ein Schweizerisches „Vortritt geben“ ist Schuld an der Misere. Den „Vortritt“ geben die Schweizer sowieso gern, meistens zwangsweise, speziell im Strassenverkehr. Hier sind alle zu Fuss unterwegs, und garantiert immer den Vortritt hat „das Tram“ in Zürich. Kein einsames Tram(per-Mädchen), sondern eine neutrale Strassenbahn. Siehe hier: Strassenbahnen, bitte vortreten.

  • Wenn sich Schweizer minderwertig fühlen
  • Der entscheidende Satz des Lehrers Thomas Brütsch ist „Da fühlen wir Schweizer uns immer ein bisschen minderwertig.“ Er sagt nicht, dass die Deutschen von oben auf die Schweizer herabschauen oder sich über sie lustig machen, nein, das Minderwertigkeitsgefühl stellt sich ganz von allein ein. Sowas nennt man in der Psychologie einen „Minderwertigkeitskomplex„. Wikipedia meint dazu:

    Der Minderwertigkeitskomplex ist Ausdruck einer fehlangepassten Persönlichkeitsstruktur, die von Gefühlen der Unterlegenheit bestimmt ist und das Verhalten der Menschen wesentlich beeinflusst. Er entsteht aus Erfahrungen von Fehlern und eigenem Versagen.
    Die Thematisierung von Minderwertigkeitsgefühlen in der Psychodynamik wurde von Alfred Adler in die Tiefenpsychologie eingeführt.
    Menschen, die unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, sehen sich selbst als etwas Kleines, Unbedeutendes an. Sehr viele Patienten leiden auch unter Depressionen, worauf eine akute oder latente Suizidgefahr folgen kann.
    (Quelle Wikipedia)

    Zwar ist die Schweiz kleiner als Deutschland, aber warum daraus gleich ein Komplex erwachsen muss, bleibt für uns ein Rätsel. Deutschland ist auf einer Weltkarte auf Grund seiner geringen Ausdehnung auch nicht gerade leicht zu finden. Wichtig scheint mir, dass die Deutschen für diesen Minderwertigkeitskomplex wenig verantwortlich gemacht werden können, denn den reden sich die manche Schweizer offensichtlich ganz allein ein. Wir meinen, völlig zu Unrecht.

  • Komplexe können gefährlich enden
  • Wie wir bei Wikipedia gelesen haben, kann das dann sogar zum Selbstmord führen. In der Schweiz ein ganz besonderes Thema, dem wir an Weihnachten ein eigenes Posting gewidmet haben. Siehe hier: Alternativen für den Schweizer Selbstmord.
    Darum zum Schluss ein Aufruf an die Deutschen in der Schweiz: Lernt das anständige Türenaufhalten und drängelt euch beim Lift nicht immer vor! Auch das Vordrängeln der Deutschen am Skilift ist in der Schweiz fast ein nationales Trauma. Dazu mehr unter Der Deutsche und die Warteschlange.

    

    2 Responses to “Wie langsam sind die Schweizer? — Vortritt geben und nicht Vordrängeln”

    1. Yolke Says:

      O weh! Was muss ich als Bernerin jetzt erst für Minderwertigkeitskomplexe haben… wir sind ja noch langsamer als der Rest der Schweiz. Wird behauptet. Vielleicht sollte ich die suizidalen Alternativen noch einmal nachlesen 😉

      Unterdessen rätsle ich weiter, wieso gewisse Schweizer allen anderen Mitschweizern eigentlich ständig Minderwertigkeitskomplexe einreden wollen.

    2. neuromat Says:

      Lässt sich glaubhaft von einem Minderwertigkeitskomplex sprechen, wenn man „KN“ als Kreuzlingen Nord bezeichnet. Eigentlich wohl kaum.

      Es soll Schweizer geben, die angeblich gesagt hätten, dass „der Deutsche“ gerne so wie „wir Schweizer“ wäre, dies aber nicht schaffe. Komisch, welches Gefühl der Minderwertigkeit. Ich weiss zumindest für mich eines: Ich möchte nie so sein wie Roger Schawinski.

      Das gerne zitierte „deutsche Overstatement“ soll ja hierzulande ganz schrecklich nerven. Was aber ist mit einem „Understatement“, welches uebertrieben wird. Es nervt ebenso.

      Noch nerviger ist das „Schein-Understatement“. Auf lange Sicht auch unbrauchbar, weil dann auch der letzte Dullbraken, irgendwann mitbekommen hat, dass er nachdem Handschlag erst einmal nachsieht, ob alle fünf Finger noch dran sind.

      Ja, es wirkt immer mehr wie Teil einer Pose innerhalb einer Posse. Die Zurückhaltung wird dann als unechte, als gekünstelte und nicht aufrechte mit Skepsis wahrgenommen. Was dann passiert ist unschön, wenn die stilisierte und drapierte Handlung, ihren Zweck der Täuschung nicht mehr erreicht.

      Am Ende geht dann keiner mehr in den Lift oder wir finden die Szene bei Heinrich Mann im Professor Unrat, wenn zwei wie zusammenprellende Eber … oder so ähnlich