Im Sperrfeuer, im Stausee und in der Verbannung: Die merkwürdigen Spielorte der Schweizer Fussballer

Oktober 18th, 2005
  • In der Barrage spielen:
  • Die Schweizer möchten an der nächsten Weltmeisterschaft in Deutschland teilnehmen. Leider konnten sie sich nicht rechtzeitig qualifizieren und müssen nun „in der Barrage spielen“ (Titel Blick-Online vom 14.10.05).

    Natürlich verstehe ich als Deutscher wieder kein Wort und frage alle Schweizer in meiner Umgebung, was das denn heisst, „in der Barrage„. Niemand weiss was Genaues. Also frage ich das wunderbare Online-Wörterbuch LEO und erfahre

    Der Damm, die Sperre, das Sperrfeuer, das Sperrwerk, die Stauanlage, der Staudamm, die Staustufe, das Stauwerk, die Stützschwelle, das Trommelfeuer und das Wehr.
    (Quelle)

    Also entweder findet das nächste Spiel in einem Stausee statt, oder irgendwo in einem Krisengebiet (Trommelfeuer, Sperrfeuer)?

    So nicht schlauer geworden, versuche ich mein Glück bei der Süddeutschen Zeitung. Dort heisst es: Die Schweiz muss „Ab in die Relegation„. Barrage heisst Relegation. Ach so! Das hilft uns jetzt mächtig weiter, finden Sie nicht auch?

    Doch zum Glück haben wir ja Wiki:

    Relegation ist als Fremdwort nach einem lateinischen Wort (relegatio) gebildet. Ursprünglich bedeutet eine Relegation, dass man fortschickt, entfernt, ausschließt, verweist, verbannt, zurückweist. Bei den Römern bezeichnet sie speziell die mildeste Form der Verbannung, eine zeitlich oder räumlich begrenzte Verbannung (Quelle).

  • Gefährliche Zeiten für die Schweizer
  • Erst in den Stausee, dann ins Sperrfeuer, und jetzt in die Verbannung? Die Schweizer leben in gefährlichen und verwirrenden Zeiten.

    Aber es geht noch weiter, denn auch im Fussball kommt dieses Wort vor:

    Der Begriff „Relegation“ wurde seit 1982 umgangssprachlich auf verschiedene ähnliche Entscheidungsspiele und Entscheidungsrunden übertragen, bei denen es in der Regel um den Zugang zu einer Fußball-Liga oder einer Liga einer anderen Sportart geht. Oft handelte es sich dabei um reine Aufstiegsspiele oder Aufstiegsrunden, in denen alle beteiligten Mannschaften nur aufsteigen wollten, aber keine den Abstieg verhindern musste, z.B. in einem Entscheidungsspiel zwischen Tabellenführern zweier Ligen. Der im Fußball hierfür eigentlich geprägte und sprachlich korrekte Begriff lautet nicht „Relegationsspiel“, sondern „Qualifikationsspiel“. Ins Deutsche übertragen: nicht Abstiegsspiel, sondern Aufstiegsspiel. Ein Akt unfreiwilliger Komik ist es, wenn ein Trainer oder Spieler der Presse sagt „wir wollen die Relegation erreichen“. Dies heißt nämlich auf Deutsch „Wir wollen absteigen“.

  • Und was weiss Wiki zu „Barrage“?
  • Eine sogenannte Barrage gibt es in der Schweizer Fussballliga. Hier spielen der Tabellenneunte der sogenannten Super League gegen den Tabellenzweiten der Challenge League um einen Platz in der Super League. Der Sieger steigt in die Super League auf, der Verlierer bleibt in der Challenge League oder steigt von der Super League aus ab.

    Nur falls Sie nicht mehr ganz auf dem Laufenden sind: Es geht hier um Fussball in der Schweiz. Das ist dieses kleine viersprachige Land südlich von Deutschland. Hier heissen die Fussball-Ligen „Super League“ und „Challenge League“, weil dann am wenigsten Zoff zu erwarten ist zwischen Deutsch-Schweizern, Romands, Tessinern und Romantschen. Genial einfache Strategie, nicht wahr? Anstatt in vier Sprachen zu übersetzen nimmt man einfach die Lingua Franca des 21. Jahrhunderts, nämlich Englisch.

    Also wird dieser Begriff übertragen von den Mischmasch-Spielen intern zu den Mischmasch-Spielen zur WM Qualifikation. Nur was uns niemand erklären kann, warum für ein und dieselbe Sache nun zwei so ungenauer Ausdrücke verwendet werden, die gar nichts miteinander zu tun haben. Und warum die Schweizer „Barrage“ und nicht „Relegationsspiel“ dazu sagen.

    Zu mindesten Letzteres können wir klären. Es kommt aus der Französischen Sport-Fachsprache, denn dort wurde „Relegationsspiel“ mit „match de barrage“ übersetzt. Quelle

    Nun bleibt zu hoffen, dass die Schweiz auch gegen die Türkei gewinnt und damit diese ganze Recherche nicht umsonst war!

    Bitte keine Törlis oder Fränklis

    Oktober 1st, 2005

    Viele Deutsche meinen, der Schweizer Dialekt sei ganz einfach. Man müsse nur an jedes Wort das Suffix -li anhängen, schon spreche man perfekt Schweizerdeutsch. Das funktioniert schon schlecht bei einigen Wörtern wie „Der Gipfel“ => „Gipfeli“ (weil das was zu essen und nix zu besteigen ist), oder „Der Morgen“ => „Mörgeli“ (ein Nationalrat der SVP, der sich jede Verkleinerungsform verbietet). Bei den wirklich wichtigen Wörter geht es jedoch schief, und zwar so schief, dass die Schweizer ganz schön darunter leiden.

  • Niemals Fränkli
  • Kurz vor der Tagesschau kam im deutschen Fernsehen ein Bericht von der Frankfurter Börse. Es ging um die Zukunft der Fluggesellschaft SWISS, sie sollte verkauft werden, eventuell an die Deutsche LUFTHANSA. Der Reporter meinte einen besonders „schweizerischen“ Kommentar abgeben zu müssen und sagte:
    „Die Schweizer müssen nun zusehen, wie sie ihre Fränkli zusammenbekommen“.
    Falsch! So etwas Ernstes und Wichtiges wie den Schweizer Franken würde der Schweizer nie verkleinern! Es gibt das Füdli (schwäbisch als Fiedle bekannt, gemeint ist der meist pfundsschwere Hintern) , das Säckli (das ist jetzt nicht was Unanständiges, nein, sondern einfach nur eine kleine Plastiktüte), aber niemals nie den Fränkli. Das sind und bleiben immer Franken, oder vielleicht noch Stutz, wenn man es denn familiär ausdrücken möchte.

  • Fussballspiel Deutschland-Schweiz Juni 2004
  • Beim Freundschaftsspiel Deutschland-Schweiz, wenige Wochen vor der EM in Portugal, geschah wieder die klassische Deutsch-Schweizerische Sprachvermischung. So schrieb die Bildzeitung am Tag des Spiels:
    „Jetzt müssen wir Törli machen gegen die Schweizer“.

    Kein Schweizer würde diesen Satz verstehen, obwohl das anscheinend Schweizerdeutsch sein sollte. Denn erstens heisst es Goal und nicht Tor in der Schweiz, und ein Goali ist ein Torhüter, aber nicht ein kleines Tor. Warum sollte man auch Tore verkleinern? Da trifft doch niemand mehr rein. Für die Deutschen war das Schweizer Tor gross genug, das Spiel endete 2:0.

    Wo wir grad beim Fussball sind:
    Die Schweizer haben die Eindeutschungen der Fussballsprache nicht mitgemacht, nachdem sie 1895 ihren eigenen Fussball-Verband gegründet haben. Es heisst hier „Penalty“ und nicht Strafstoss, und Schweizer Mannschaften tragen Namen wie „Grasshoppers„, „Old Boys“ oder „Young Fellows„. Das ist praktisch für die britischen Talentaufkäufer, so können sie die Heimat-Vereine ihrer zugekauften Spieler leichter aussprechen.

  • Juli 2004: Europäische Fussballmeisterschaft
  • Die Schweiz war heilfroh, diesmal auch an einem internationalen Fussballwettbewerb teilnehmen zu dürfen. Es wurden alte Graubündner Adelsnamen aufgeboten, so z. B. der Stürmerstar Nikan Hakanyaki. Man spielte durchweg mit Stil, genauer: Mit Jörg Stiel, dem „Goali“ der „Natzi“ (= Nationalmannschaft), der übrigens ein Ex-Deutscher ist, wie ich später erfuhr.

    Leider kam die Schweiz nicht sehr weit. Immerhin wurde ein Tor geschossen. Das allererste „Feldtor„, das die Schweiz in einer Europameisterschaft überhaupt je erzielen konnte. Ein Feldtor ist ein Tor, dass in offener Feldschlacht erzielt wird, und nicht beim Elfmeterschiessen geschossen oder als Trostpreis in Form eines Eigentors vom Gegner verschenkt wurde. Doch es nützte nicht viel: Die „Equipe tricolore“ der Franzosen zog durch ein mühsames 3:1 (1:1) in ihrem letzten Vorrundenspiel gegen den krassen Außenseiter Schweiz zum dritten Mal in Folge ins EM-Viertelfinale ein.

    Zuletzt vor 9 Jahren beim Eröffnungsspiel 1996 erzielte der Schweizer Landsmann Kubilay Türkyilmaz (wiederum alter Graubündner Adel) einen Elfmetertreffer.

    Wisst ihr was, lasst uns doch demnächst lieber wieder über Tennis reden, einverstanden?

    Nationalfeiertag 1. August und 3. Oktober Tag der Deutschen Einheit

    September 29th, 2005
  • Tag der deutschen Einheit am 17. Juni
  • Von 1954 bis 1989 feierten die Deutschen ihren „Tag der Deutschen Einheit“ immer am 17. Juni, in Gedenken an den Volksaufstand von 1953 in der DDR. Wie lief das ab? Tagsüber ein Ausflug ins Grüne, dann ab in den Biergarten, denn es war ja Sommer und selbst die Pfarrer hatten dienstfrei. Abends dann wurden Kerzen ins Fenster gestellt, zum Gedenken an die „Brüder und Schwestern im Osten“. In der Schule wurde uns immer vom tragisch-dramatische Anlass für diesen Feiertag erzählt, aber am 17. Juni selbst interessierte das niemanden mehr, solange der Himmel blau und die Luft lau war.

  • Die wahre Fussball-Einheit
  • Dann kam die Wende, und kurz darauf gewann Deutschland die Fussballweltmeisterschaft von 1990. Das war die wahre Wiedervereinigung, denn in Ost und West strömte alles zum Autokorso auf die Strassen, um zu feiern. Die Brasilianer in Zürich taten dies nach dem Sieg über Deutschland beim WM-Endspiel 2002 gegen Deutschland ebenfalls.

    Was wäre passiert, wenn 2002 auch Deutschland gewonnen hätte? Wären die 16.000 Deutschen in Zürich auf die Strasse gegangen und hätten einen Autokorso veranstaltet? Ich glaube kaum. Wir sind ein höfliches und äusserst bescheidenes Volk und halten uns lieber zurück im Ausland. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, das ist nur noch verstaubte Nazi-Propaganda. Ausser wenn es um die Plätze am Hotel-Swimmingpool auf Mallorca geht. Da gilt es, jeden Quadratzentimeter vor den Briten zu verteidigen. Wer zuerst kommt, der legt’s Handtuch zuerst. So einfach ist das mit dem Raumgewinn.
    Zumal die Schweizer im Sommer 2002 zu Brasilien hielten, und nicht für die „Sprachbrüder“ im Norden waren, ist doch selbstverständlich. Unsere Tochter war schockiert, als ihr plötzlich der unverhohlene Anti-Deutsche-Wind in ihrer schweizer Primarschulklasse ins Gesicht wehte und sie als einzige vor dem Match gegen Brasilien den deutschen Spielern die Daumen drückte.

  • Kein Gesang beim Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990
  • Im Jahr 1990 wurde der deutsche Nationalfeiertag zweimal begangen: Am 17. Juni und am 3. Oktober. Wir zogen, wie bei der gewonnenen Weltmeisterschaft gelernt, wiederum kurz vor Mitternacht in die Innenstadt von Freiburg im Breisgau und warteten auf das grosse Event, wenn Deutschland endlich „ein einig Vaterland“ wird. Doch nichts geschah. Koitus interruptus. Kein Autokorso, kein Gesang, nicht mal eine klitzekleine Parteiveranstaltung der örtlichen CDU. Die Post ging einzig in Berlin am Brandenburger Tor ab, mit Sylvesterfeuerwerk und Menschenmassen auf den Resten der damals noch existierenden Mauer.

  • Kantönligeist und Ländersache
  • Mittlerweile wird in Deutschland darüber nachgedacht, diesen Feiertag wieder abzuschaffen, zum einen aus Kostengründen, und zum anderen ist es eh meist zu kalt für den Biergarten. Neben dem 1. Mai ist das der einzige Feiertag, über den der Bundestag bestimmen kann. Alle anderen Feiertage sind Ländersache.
    Wir haben ihn auch in Deutschland, den berühmten „Kantönligeist“ der Schweizer. Bei uns heisst das: „Näheres regelt ein Ländergesetz„. Als der Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl zu Beginn des Internetbooms einmal gefragt wurde, wie er sich denn den Ausbau der Datenautobahnen vorstelle, antwortete er lakonisch: „Autobahnbau ist Ländersache„, also nicht Angelegenheit eines Bundeskanzlers.

  • Der 1. August in der Schweiz — vom halben zum ganzen Feiertag
  • Der 1. August ist ein nationaler Feiertag, allerdings haben die Schweizer nur etwas davon, wenn er auf einen Wochentag fällt, sonst fällt er aus. Viele Jahrzehnte war es nur ein halber Feiertag, d. h. bis zum Mittag wurde gearbeitet. Bei der 700-Jahrfeier 1991 haben sich dann die Schweizer den zweiten halben Feiertag gegönnt. Geplant ist, diese Grosszügigkeit im Jahre 2291 bei der Tausend-Jahr-Feier mit einem weiteren halben Feiertag mächtig auszuweiten.

    Zum 1. August gehört das Absingen der Schweizer Hymne. Damit da nix schiefgeht, wird sie ein paar Tage vorher jedem Haushalt per Postwurfsendung zugeschickt, natürlich in den vier Landessprachen. „Bitte zur Feier mitbringen“ steht auf dem Papier. Wir lernen die Schweizer Hymne (d. h. wir brummen so wie alle irgend etwas mit. Den ganzen Text kann hier niemand richtig) und kaufen Fähnchen mit Kreuz darauf. Alles ist mit Fähnchen geschmückt. Es gibt in der Schweiz kaum einen Gegenstand, den man nicht mit einem Schweizerkreuz verziert käuflich erwerben kann: Trinkbecher, T-Shirts, Socken, nur Toilettenpapier habe ich noch keins entdeckt. Wer würde auch sowas kaufen wollen?

  • Sylvesterknallerei von Juli bis August
  • Vor der Migros gibt es Raketen und Böller wie in Deutschland an Sylvester zu kaufen, und zwar schon ein paar Tage davor. Was dazu führt, dass man von Ende Juli bis Mitte August gelegentlich ein Böller in der Nachbarschaft hochgehen hört und unser Hund ernsthaft davon überzeugt ist, dass der Krieg wieder ausgebrochen ist und wir nicht ganz bei Trost sein können, bei solch einer Schiesserei auch noch spazieren gehen zu wollen. Er verkriecht sich dann lieber unters Bett.
    Anton unterm Bett wenn es knallt

    Die Schweizer feiern diesen Tag daheim, ein jeder macht sein Privatfeuerwerk. Wir feiern mit den Nachbarn ein rauschendes Fest im Garten, mit selbstgebastelten Krachern und Raketen vom Nachbarsjungen „Da-Benny“. Die Kinder haben einen Riesenspass. Manch eine selbstgebaute Rakete startet in der Waagerechten, was die Aufregung der Zuschauer noch steigert.

  • Die Schweizer sind schon auf den Bergen
  • Tagsüber machen wir einen Ausflug an den Vierwaldstättersee. Warum sind die Strassen so leer? Warum sind die Parkplätze an den Bergbahnen so voll? Die Schweizer sind schon oben, sie hocken auf den Gipfeln und warten auf den Sonnenuntergang. Dann gibt es grosse Feuer auf allen Gipfeln, die Höhenfeuer, und am Mythen wird ein überdimensionales Schweizer-Kreuz aus Strohfackeln in Brand gesetzt.
    Schweizerkreuz und Mythenkreuz

    Oberhalb vom Vierwaldstättersee entrollen mutige Bergsteiger eine Schweizerkreuz-Fahne in 20 x 20 m Grösse an einer Felswand. Die Aufhäng-Action wird live im TV übertragen.

  • Nazi Gegröle auf dem Rütli
  • Zu jedem 1. August in der Schweiz gehört auch das Ritual, zur Rütliwiese zu fahren und sich dort von an anwesenden Rechtsradikalen tüchtig die Laune verderben zu lassen. Jedes Jahr werden es mehr, und jedes Jahr herrscht grosse Empörung darüber, wie das Nazi-Gegröle und der Hitlergruss doch als störend empfunden werden. Verboten werden diese Aufmärsche dort nicht, denn das Rütli ist das nationale Heiligtum der Schweiz, und da darf jeder hin.
    Auf dem Ruetli am 1. August