Wie demokratisch ist Ihr Land? — Wie alt ist die Demokratie in der Schweiz und in Deutschland
Februar 26th, 2010(reload vom 14.12.06)
Die Schweiz wird oft als „Urdemokratie“ bezeichnet, als „Wiege der Demokratie“, die quasi seit ihrer Gründung im Jahre 1291 frei von Fremdherrschaft ist und von den Eidgenossen basisdemokratisch regiert wurde. Mit diesem Mythos räumt Walter Wittmann in seinem Buch „Helvetische Mythen“ (Frauenfeld 2003) gründlich auf.
Die Schweiz ist eine junge Demokratie. Erst die liberalen Sieger des Bürgerkriegs von 1847/48 brachten ihre Forderungen durch. Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Freiheitsrechte. Die französische Revolution lieferte die liberalen Ideen, die amerikanische Verfassung das Modell des Zweikammersystems. Die Bundesverfassung von 1848 enthielt Ansätze zur direkten Demokratie, in den Kantonen setzte die demokratische Bewegung die Volkssouveränität durch.
1291, im Geburtsjahr der Eidgenossenschaft, war von Demokratie nichts zu spüren. Es gab keine Versammlungs-, keine Niederlassungs-, keine Gewerbefreiheit. Keine kollektive Meinungsbildung, die zu demokratischen Entscheiden geführt hätte — das „Volk“ war nicht gefragt. Es führten Adel, ländliches Magnatentum und Geistlichkeit. Mythenzertrümmerer Walter Wittmann: „Daran änderte in der Regel auch die Landsgemeinde nichts, da dort nur ihre Vertreter wählbar waren. Es ist völlig verfehlt, die Schweiz, wie sie vor dem Einmarsch von Napoleon 1798 existierte, als Demokratie zu bezeichnen.“
(zitiert nach: Schweizer Lexikon der populären Irrtümer von Franziska Schläpfer, S. 63)
In Deutschland ist das Verständnis und die Akzeptanz von moderner Demokratie ebenfalls noch eine relativ junge Errungenschaft der Geschichte. Noch die Generation unserer Grosseltern hatte ein äusserst suspektes Verhältnis zum Begriff der „Demokratie“. Mit dem Wegfall des Deutschen Kaiserreiches zum Ende des 1. Weltkriegs brach für sie eine Weltordnung zusammen. Feudale Strukturen waren angenehm geordnet, einem nicht demokratisch sondern durch Erbfolge legitimierte Herrscher die Treue zu schwören und zu dienen galt als besondere deutsche Tugend. Demokratie war verschrien als „Herrschaft des Pöbels“, als Aufstand der Unterprivilegierten. Die junge „Weimarer Republik“ schaffte es bekanntlich nicht, die Prinzipien der Demokratie dauerhaft durchzusetzen:
Das Vertrauen in die Demokratie und die Republik sank ungebremst. Die Republik wurde für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich gemacht, zumal die Reichsregierung im Verlauf des Jahres 1930 mehrfach neue Steuern erhob, um die Staatsaufgaben erfüllen zu können. Die Rufe nach einem „Starken Mann“, der das Deutsche Reich wieder zu alter Größe und Ansehen bringen sollte, wurden lauter.
Auf diese Forderungen gingen besonders die Nationalsozialisten ein, die mittels gezielter Propaganda und der Konzentration auf die Person Hitlers ein solches Bild der Stärke suggerierten.
(Quelle: Wikipedia zur Weimarer Republik)
Diese Erfahrungen führt nach Ende der Naziherrschaft in Deutschland bei den Müttern und Vätern des Grundgesetzes dazu, eine Reihe von Sicherungen einzubauen, wie z. B. die „Fünf-Prozent-Hürde“:
Sinn einer Sperrklausel dieser Art ist es, eine Konzentration der Sitzverteilung herbeizuführen, um stabile Mehrheiten zu fördern. Kritiker meinen, dies widerspräche allerdings dem Gedanken der Demokratie und dem Grundgesetz (Art 38 Abs. 1 GG), nach dem das Volk bestimmt und jede Stimme den gleichen Wert haben muss. Eingeführt wurde sie in Deutschland nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, in der teilweise eine zweistellige Anzahl von Parteien im Parlament saß und es dadurch zunehmend erschwert worden war, eine tragfähige Regierungskoalition zu bilden. Die dadurch bedingte Situation trug angeblich mit dazu bei, dass die extremistischen Parteien am linken und insbesondere am rechten Rand der Gesellschaft verstärkten Zulauf erhielten
(Quelle: Wikipedia)
Wenn wir in den Aufzeichnungen dieser Generation lesen, dann hat diese Denkweise auch bei ihren Kindern, d.h. unserer Elterngeneration tiefe Spuren hinterlassen. Ein Beispiel: Als im April 1945 in Amerika Präsident Roosevelt stirbt und durch einen gewählten Nachfolger ersetzt wird, wurde dies von der deutschen Nazipropaganda als Beginn einer Niederlage des Feindes USA interpretiert, ohne Verständnis dafür, dass in einer Demokratie wie in den USA ein solcher Wechsel in der Staatsführung etwas ganz Alltägliches war. Immerhin brachte es Roosevelt auf vier Amtszeiten und wurde mit 12 Jahren als aktiver Regierungschef in der Geschichte nur von den 16 Amtsjahren (1982-98) Helmut Kohls überrundet.
Eine der eindrücklichsten Szenen im Spielfilm „Der Untergang“ zeigt Offiziere der Wehrmacht, die von Tod Hitlers erfahren hatte und nun in einem Bunker darauf warteten, dass russischen Soldaten hereinkamen. Welcher Befehl sollte dann ausgeführt werden? Alle Magazine in Richtung Tür leerschiessen und mit der letzten Kugel Selbstmord begehen. Ein Plan für ein Weiterleben ohne Führer war nicht vorgesehen. Selbständiges Denken und Handeln waren diese Befehlsempfänger nicht gewohnt. Sie kamen mir wie Kinder vor, die auf einem Spielplatz von ihren Eltern abgesetzt und nun vergessen worden waren. Das war 1945, also vor 61 Jahren. Demokratie musste erst gelernt werden in Deutschland, und die Abschlussarbeit zum Thema „Abstimmung mit den Füssen“ wurde in der friedlichen Novemberrevolution 1989 eingereicht.
Auf einer Studienreise in die Toskana verbrachte ich einen Tag in Florenz mit einem Amerikaner, einer Engländerin, einem Franzosen und einer Schwedin. Wir diskutierten angeregt über unsere Länder und kamen auf das Thema Demokratie zu sprechen. Jeder sollte, nach reiflicher Überlegung sagen, welchem der fünf Länder USA, Grossbritannien, Frankreich, Schweden und Deutschland er oder sie den höchsten Grad an „Demokratieverständnis“ zugestehen würde. Als Kriterium dafür galt für uns u. a. der mögliche Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die gelebte Meinungsfreiheit, die freie und kritische Presse, die Einflussmöglichkeit des Volkes ausserhalb von Wahlen etc.
Das Ergebnis war erstaunlich: Jeder von uns legte ein eindeutiges Bekenntnis dafür ab, dass er sein eigenes Land als das demokratischste Land von allen halten würde. Lag es an der mangelnden Ahnung über das poltische System und die Gesellschaft in den anderen Ländern? Selbst der Amerikaner hielt die heimische Demokratie für die fortschrittlichste. Seit diesem Tag weiss ich: Demokratie ist eine äusserst subjektiv wahrgenommene Angelegenheit.