Wie demokratisch ist Ihr Land? — Wie alt ist die Demokratie in der Schweiz und in Deutschland

Februar 26th, 2010

(reload vom 14.12.06)

  • Der Mythos von der Schweiz als „Wiege der Demokratie“
  • Die Schweiz wird oft als „Urdemokratie“ bezeichnet, als „Wiege der Demokratie“, die quasi seit ihrer Gründung im Jahre 1291 frei von Fremdherrschaft ist und von den Eidgenossen basisdemokratisch regiert wurde. Mit diesem Mythos räumt Walter Wittmann in seinem Buch „Helvetische Mythen“ (Frauenfeld 2003) gründlich auf.

    Die Schweiz ist eine junge Demokratie. Erst die liberalen Sieger des Bürgerkriegs von 1847/48 brachten ihre Forderungen durch. Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Freiheitsrechte. Die französische Revolution lieferte die liberalen Ideen, die amerikanische Verfassung das Modell des Zweikammersystems. Die Bundesverfassung von 1848 enthielt Ansätze zur direkten Demokratie, in den Kantonen setzte die demokratische Bewegung die Volkssouveränität durch.
    1291, im Geburtsjahr der Eidgenossenschaft, war von Demokratie nichts zu spüren. Es gab keine Versammlungs-, keine Niederlassungs-, keine Gewerbefreiheit. Keine kollektive Meinungsbildung, die zu demokratischen Entscheiden geführt hätte — das „Volk“ war nicht gefragt. Es führten Adel, ländliches Magnatentum und Geistlichkeit. Mythenzertrümmerer Walter Wittmann: „Daran änderte in der Regel auch die Landsgemeinde nichts, da dort nur ihre Vertreter wählbar waren. Es ist völlig verfehlt, die Schweiz, wie sie vor dem Einmarsch von Napoleon 1798 existierte, als Demokratie zu bezeichnen.“
    (zitiert nach: Schweizer Lexikon der populären Irrtümer von Franziska Schläpfer, S. 63)

  • Die Herrschaft des Volkes galt als etwas Anrüchiges
  • In Deutschland ist das Verständnis und die Akzeptanz von moderner Demokratie ebenfalls noch eine relativ junge Errungenschaft der Geschichte. Noch die Generation unserer Grosseltern hatte ein äusserst suspektes Verhältnis zum Begriff der „Demokratie“. Mit dem Wegfall des Deutschen Kaiserreiches zum Ende des 1. Weltkriegs brach für sie eine Weltordnung zusammen. Feudale Strukturen waren angenehm geordnet, einem nicht demokratisch sondern durch Erbfolge legitimierte Herrscher die Treue zu schwören und zu dienen galt als besondere deutsche Tugend. Demokratie war verschrien als „Herrschaft des Pöbels“, als Aufstand der Unterprivilegierten. Die junge „Weimarer Republik“ schaffte es bekanntlich nicht, die Prinzipien der Demokratie dauerhaft durchzusetzen:

    Das Vertrauen in die Demokratie und die Republik sank ungebremst. Die Republik wurde für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich gemacht, zumal die Reichsregierung im Verlauf des Jahres 1930 mehrfach neue Steuern erhob, um die Staatsaufgaben erfüllen zu können. Die Rufe nach einem „Starken Mann“, der das Deutsche Reich wieder zu alter Größe und Ansehen bringen sollte, wurden lauter.
    Auf diese Forderungen gingen besonders die Nationalsozialisten ein, die mittels gezielter Propaganda und der Konzentration auf die Person Hitlers ein solches Bild der Stärke suggerierten.
    (Quelle: Wikipedia zur Weimarer Republik)

    Diese Erfahrungen führt nach Ende der Naziherrschaft in Deutschland bei den Müttern und Vätern des Grundgesetzes dazu, eine Reihe von Sicherungen einzubauen, wie z. B. die „Fünf-Prozent-Hürde“:

    Sinn einer Sperrklausel dieser Art ist es, eine Konzentration der Sitzverteilung herbeizuführen, um stabile Mehrheiten zu fördern. Kritiker meinen, dies widerspräche allerdings dem Gedanken der Demokratie und dem Grundgesetz (Art 38 Abs. 1 GG), nach dem das Volk bestimmt und jede Stimme den gleichen Wert haben muss. Eingeführt wurde sie in Deutschland nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, in der teilweise eine zweistellige Anzahl von Parteien im Parlament saß und es dadurch zunehmend erschwert worden war, eine tragfähige Regierungskoalition zu bilden. Die dadurch bedingte Situation trug angeblich mit dazu bei, dass die extremistischen Parteien am linken und insbesondere am rechten Rand der Gesellschaft verstärkten Zulauf erhielten
    (Quelle: Wikipedia)

  • Wenn der Präsident stirbt muss auch das Land bald am Ende sein
  • Wenn wir in den Aufzeichnungen dieser Generation lesen, dann hat diese Denkweise auch bei ihren Kindern, d.h. unserer Elterngeneration tiefe Spuren hinterlassen. Ein Beispiel: Als im April 1945 in Amerika Präsident Roosevelt stirbt und durch einen gewählten Nachfolger ersetzt wird, wurde dies von der deutschen Nazipropaganda als Beginn einer Niederlage des Feindes USA interpretiert, ohne Verständnis dafür, dass in einer Demokratie wie in den USA ein solcher Wechsel in der Staatsführung etwas ganz Alltägliches war. Immerhin brachte es Roosevelt auf vier Amtszeiten und wurde mit 12 Jahren als aktiver Regierungschef in der Geschichte nur von den 16 Amtsjahren (1982-98) Helmut Kohls überrundet.

  • Als der „Führerstaat“ kollabierte
  • Eine der eindrücklichsten Szenen im Spielfilm „Der Untergang“ zeigt Offiziere der Wehrmacht, die von Tod Hitlers erfahren hatte und nun in einem Bunker darauf warteten, dass russischen Soldaten hereinkamen. Welcher Befehl sollte dann ausgeführt werden? Alle Magazine in Richtung Tür leerschiessen und mit der letzten Kugel Selbstmord begehen. Ein Plan für ein Weiterleben ohne Führer war nicht vorgesehen. Selbständiges Denken und Handeln waren diese Befehlsempfänger nicht gewohnt. Sie kamen mir wie Kinder vor, die auf einem Spielplatz von ihren Eltern abgesetzt und nun vergessen worden waren. Das war 1945, also vor 61 Jahren. Demokratie musste erst gelernt werden in Deutschland, und die Abschlussarbeit zum Thema „Abstimmung mit den Füssen“ wurde in der friedlichen Novemberrevolution 1989 eingereicht.

  • Wie demokratisch ist Ihr Land?
  • Auf einer Studienreise in die Toskana verbrachte ich einen Tag in Florenz mit einem Amerikaner, einer Engländerin, einem Franzosen und einer Schwedin. Wir diskutierten angeregt über unsere Länder und kamen auf das Thema Demokratie zu sprechen. Jeder sollte, nach reiflicher Überlegung sagen, welchem der fünf Länder USA, Grossbritannien, Frankreich, Schweden und Deutschland er oder sie den höchsten Grad an „Demokratieverständnis“ zugestehen würde. Als Kriterium dafür galt für uns u. a. der mögliche Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die gelebte Meinungsfreiheit, die freie und kritische Presse, die Einflussmöglichkeit des Volkes ausserhalb von Wahlen etc.

    Das Ergebnis war erstaunlich: Jeder von uns legte ein eindeutiges Bekenntnis dafür ab, dass er sein eigenes Land als das demokratischste Land von allen halten würde. Lag es an der mangelnden Ahnung über das poltische System und die Gesellschaft in den anderen Ländern? Selbst der Amerikaner hielt die heimische Demokratie für die fortschrittlichste. Seit diesem Tag weiss ich: Demokratie ist eine äusserst subjektiv wahrgenommene Angelegenheit.

    Die Schweiz als Glücksfall der Geschichte — Leben wir auf der Insel der Glückseligen?

    Februar 25th, 2010

    (reload vom 13.12.06)

  • Der Glücksfall der Geschichte
  • Im August 2006 lasen wir im Tages-Anzeiger einen höchst interessanten Artikel von Helmut Stalder:

    Die Katastrophen des 19. Und 20. Jahrhunderts zogen an der Schweiz vorbei als sei sie nicht von dieser Welt. Politisch praktisch stabil seit 1848, sozial weit gehend befriedet seit dem Generalstreik 1918, verschont von zwei Weltkriegen – die Schweiz hat wenig Grund zur Klage. Warum blieben ihr die Verwerfungen der Geschichte erspart? Handelte sie besonders klug? Half jeweils der Zufall? Oder waltet ein gütiges Schicksal über dem auserwählten Volk? Die Geschichte der Schweiz, die scheinbar so bruchlos verlief, verleitet leicht zu einer verklärten Sicht.
    (Quelle für alle Zitate, soweit nicht anders gezeichnet: Tages-Anzeiger vom 21.08.06)

    Diese verklärte Sicht wird heute häufig angeführt. Die Schweiz versteht sich als „Sonderfall“, die Schweiz wird als „Glücksfall der Geschichte“ gedeutet.

    Der Prototyp des Glücksfalls ist, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht angegriffen wurde. General Guisan legte das Deutungsmuster «Glücksfall» schon früh bereit, im Tagesbefehl vom 8. Mai 1945: «Nach fast sechs Jahren Krieg wurde in Europa der Befehl zur Einstellung des Feuers gegeben. (…) Die Armee hat ihre Hauptaufgabe, mit der sie im Herbst 1939 betraut wurde, erfüllt. Soldaten, wir wollen nun vor allem dem Allmächtigen danken dafür, dass unser Land von den Schrecken des Krieges verschont blieb. Eine wunderbare göttliche Fügung hat unsere Heimat unversehrt gelassen. Unsere Armee war und ist unser Schutz und Schirm.» Damit ist zweierlei gesagt: Die Schweiz überlebte unversehrt dank der Armee und dank dem Allmächtigen.

    Unter Historikern wird bis heute die Frage diskutiert, warum Nazideutschland die Schweiz nicht überfallen hat. Pläne dafür gab es sehr wohl, und der viel zitierte Satz „Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, nehmen wir auf dem Rückzug ein“, dessen genau Herkunft nicht mehr feststellbar ist, war fest im Bewusstsein der Schweizer verankert.

  • Die Operation Tannenbaum
  • Unter Operation Tannenbaum fasst man eine Reihe von Angriffsplanungen zur überfallartigen Besetzung der Schweiz von Deutschland und Frankreich zusammen, die Otto Wilhelm von Menges nach dem deutsch-französischen Waffenstillstand von Compiègne am 24. Juni 1940 als Auftrag erhielt. Es war vorgesehen, dass bei der Umsetzung der Angriffsplanung die italienischen Truppen mit einem gleichzeitigen Angriff von Süden aus unterstützend wirken würden. Mit ihnen wurde um dem 31. Juli 1940 eine ungefähre Teilungslinie für die Schweiz fixiert, die von Saint Maurice über die Wasserscheide Aare-Rhône weiter zum Tödi und ins Rhätikon führte, um schließlich am Muttler zu enden.
    Otto Wilhelm von Menges hatte bis 12. August 1940 die dritte aktualisierte Fassung des Operationsplanes des Generalstabes des Heeres fertiggestellt. Menges ging davon aus, dass das Schweizer Heer so zu zerschlagen sei, dass ein Ausweichen ins Hochgebirge und ein geführter Widerstand (Réduit) unmöglich werde. Dabei seien Bern, Solothurn und Zürich (Oerlikon) schnell und unversehrt zu besetzen. Dazu kam: „Gewinnung der wichtigsten Eisenbahn- und Straßenknotenpunkte sowie der zahlreichen Brücken und Tunnel in unbeschädigtem Zustande, um das Land als Durchmarschgebiet für alle Transporte nach Südfrankreich nutzbar zu machen“.
    (Quelle: Wikipedia)

    Eine verbreitete Theorie besagt, dass die Nazis die Schweiz als „neutralen“ Lieferanten für kriegswichtige Stoffe benötigten, also mit der Schweiz quasi legal Geschäfte machten, und darum dieses Land in Ruhe liessen, eine andere Theorie führt aus, dass rein strategisch die Schweiz nicht interessant war. Der Nachschub nach Italien funktionierte über den Brenner genauso wie über den Gotthard.

  • Ist die Miliz-Armee wirklich abschreckend gewesen?
  • Die Gretchenfrage auch für alle Militärhistoriker ist: Hat das Modell der Miliz-Armee Schweiz gegen den Feind aus Nazideutschland tatsächlich soviel abschreckende Wirkung gezeigt, dass es als ein Erfolgsmodell bezeichnet werden darf?

    Stalder schreibt:

    Selbst grosse Historiker wie Edgar Bonjour prägten die Formel, die Schweiz habe «einfach Glück gehabt». Bis in die 70er- Jahre vermied es die Forschung, der Frage auf den Grund zu gehen. Nur langsam kam es zur Rationalisierung des «Glücksfalls», unter anderem durch die Historiker Jakob Tanner («Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft», 1986) und Markus Heiniger («Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde», 1989). Beide stuften den militärischen Anteil zurück und hoben die wirtschaftliche Kooperation der Schweiz mit Nazi-Deutschland hervor.
    Inzwischen wurde unter anderem durch die Bergier-Kommission ein ganzes Bündel von Faktoren ausgebreitet, die zur Verschonung geführt hatten. Die Sicht der Armee als alleinige Retterin ist nicht mehr haltbar, und Gottes Beitrag verflüchtigt sich. Tanner sagt heute, dass durchaus Glück im Spiel war, aber er bürstet es gegen den Strich: «Führt man Glück als Faktor ein, so kann man das auf göttliche Vorsehung beziehen oder mit dem viel prosaischeren Sachverhalt in Verbindung bringen, dass die Schweiz strategisch im ‹toten Winkel› lag und der durchaus beabsichtigte Anschluss von der Kriegsführung der Alliierten durchkreuzt wurde – sodass die Schweiz einfach Glück hatte, weil die Alliierten den Kontinent rechtzeitig befreiten.»

    Denn hätte Nazideutschland in Europa weiterhin seinen Expansionskrieg erfolgreich führen können, es hätte nicht lange gedauert, und Hitler hätte sich auch die Schweiz einverleibt. Er hat sich deutlich abfällig über die kleinen demokratischen Länder wie Dänemark, Schweden und die Schweiz geäussert.

    Dennoch prägt die Idee des Glücksfalls das Selbstbild der Schweiz – meist in der Form des «Glücks der Tüchtigen»: Da ist aus dem 18. Jahrhundert die Ikonografie der Alpeninsel, wo unverdorbene Menschen tugendhaft und edel nahe am glücklichen Urzustand leben. Da ist die im 19. Jahrhundert aufgewertete Gründungsmythologie mit Tell und den Schwurbrüdern, die, wie es Schiller darstellte, als Hüter der Pässe im höheren Auftrag den Gotthardweg zum Heiligen Vater nach Rom bewahren. Und da ist in modernerer Form die Vorstellung vom «Sonderfall Schweiz», entstanden als liberale Kleinrepublik mitten im reaktionären Europa, sich tapfer behauptend gegen alle Fährnisse, unschuldig, harmlos, neutral, urdemokratisch und deshalb zu Recht vom Schicksal belohnt.

  • Harmlos und urdemokratisch
  • „Harmlos“ ist diesem Zusammenhang relativ. Immer war das Land hochgerüstet, lieferte Rüstungsgüter in die ganze Welt und gut trainierte Söldner aus der Schweiz waren nicht nur in Rom beim Papst beliebt. Auch „urdemokratisch“ hat einen bitteren Beigeschmack, wenn man sich die Geschichte des Frauenwahlrechts in der Schweiz und anderen Ländern Europas anschaut.

    Das Unglück sind die andern
    Die Kehrseite: Wer sich selbst so glücklich schätzt und das noch als eigenes Verdienst empfindet, sieht die andern als Unglückliche, unterstellt ihnen Neid und sieht, was ringsum geschieht, in erster Linie als Bedrohung. Man wähnt sich auf der Insel der Glückseligen und zieht sich von der Welt zurück. Folgerichtig hielt sich die Schweiz lange von der Uno fern. Folgerichtig beobachtet sie die EU mit Misstrauen. Europa ist aus Schmerz geboren. Das Unglück des Weltkriegs lehrte die Nationen, dass sie ihr Glück in der Kooperation suchen müssen. Die kollektive Erfahrung von Leid ist der Ursprung der EU, ein Projekt, das zuallererst der Friedenssicherung dient. Die Schweiz hat eine grundlegend andere Erfahrung: Indem sie das Glück hatte, verschont worden zu sein, wurde sie um die Leiderfahrung gebracht. Sie redet sich ein, sie sei für ihr Glück nicht auf andere angewiesen; es lasse sich vielmehr bewahren, indem man sich draussen hält. Die Frage ist nur, ob es in der heutigen Welt drinnen und draussen noch gibt.

  • Baut wieder Zugbrücken
  • Den Wunsch vieler Schweizer, sich von „aussen“ zu schützen, bezeichne ich gern als das „Zugbrücken-Syndrom“. Am besten sollten sie wieder eingeführt werden, die Zugbrücken, um die Festung „Schweiz“ wehrhaft von der Aussenwelt abschotten zu können (vgl. Blogwiese).

    Die „fehlenden Leiderfahrung“ muss eine Schweizer Grunderfahrung sein. Sie ist vielleicht der Grund für die ausserordentlich hohe Bereitschaft in der Schweiz, das Leid andere lindern zu wollen, so zuletzt nach der Tsunami-Katastrophe in Asien.

  • Gibt es noch ein Drinnen und Draussen?
  • Die Frage, ob es in der heutigen Welt ein „Drinnen und Draussen“ noch gibt, ist natürlich rein rhetorisch. Die Schweizer Banken verwalten das Geld von „Draussen“ und sind selbst „draussen“ aktiv. Die Schweizer Wirtschaft und das Bankenwesen sind „Global Player“, wie wir erst neulich mit einem Zitat über die UBS in einem Kommentar anführten:

    Die UBS ist in 50 Ländern und an allen wichtigen Finanzplätzen der Welt mit Niederlassungen vertreten. 39 % ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in Amerika, 37 % in der Schweiz, 16 % im restlichen Europa und weitere 8 % im asiatisch-pazifischen Raum tätig
    (Quelle: Wikipedia)

    Sind 50 Länder genug „draussen“?

    Gute Büezer müssen nicht büssen — Von Malochern, Bosselern und andern Menschen

    Februar 24th, 2010

    (reload vom 12.12.06)

  • Gute Büezer müssen nicht büssen
  • Wir lasen im Tages-Anzeiger vom 25.11.06 auf Seite 5:

    „Bis Ende der 80er-Jahre wusste in der Schweiz kaum jemand, dass es Kosovo-Albanien gibt“, sagt Ueli Leuenberger, grüner Nationalrat aus Genf und Migrationsfachmann. Die Albaner galten als gute Büezer, waren ruhig und machten keine Probleme.

    Gute Büezer

    Moment bitte, für was mussten sie dann eigentlich büssen? Oder haben wir hier erneut einen bedeutungsunterscheidenden Diphthong übersehen. Hat Büezer mit Büsser gar nichts zu tun?

    Der „Büezer“ findet sich bei Google-Schweiz 24.000 Mal. Er findet sich in der NZZ:

    Das Komitee, das sich als Anwalt der einfachen Büezer versteht,
    (Quelle NZZ 9.7.05)

    genauso wie im Tages-Anzeiger:

    Ihre Initiative ist sicher toll. Aber was konkret bringt mir kleinem Büezer diese Initiative?
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 21.11.06)

    Unser Variantenwörterbuch kennt neben dem Büezer natürlich auch die Büezerin:

    Büezer, Büezerin CH, der: -s, -bzw, die; – , -nen (Grenzfall des Standards): HACKLER A-ost, MALOCHER D-mittelwest „Arbeiter(in)“: Unfrohe Kunde kurz vor Weihnachten für 700 Büezer in Pratteln. Ihre Fabrik soll anscheinend geschlossen werden (Blick 12.11.99,1)

    Die „Büez“ wird auch als „der Krampf“ (oder „Chrampf“, zur Unterscheidung vom Waden-Krampf) bezeichnet, während in D-mittelwest „Maloche“ für anstrengende Arbeit oder Schufterei gebräuchlich ist. Das Schweizer Wörterbuch von Kurt Meyer kennzeichnet „Büez“ interessanter Weise als „mundartl., salopp“ und bringt die Schreibweise mit „t“ in einem Zitat aus der Nationalen-Zeitung vom 5./6.10.68:

    So nebenbei hatte das Personal der Waldenburgerbahn in siebenjähriger Büetz [!] von Grund auf einen Wagen gebastelt“.

    Das eingefügte Ausrufezeichen soll andeuten, dass auch Kurt Meyer geschockt war über diese Schreibweise. Aber bitte schön, die richtige Verschriftung eines Schweizerdeutschen Wortes ist doch immer noch die Sache des Schreibers! Er entscheidet, ob mit oder ohne „t„, ob mit einem oder zwei „ü„, ob mit oder ohne „e“ hinter dem Umlaut. Wer will sich denn da gleich echauffieren! Das müssen wir ganz entspannt und gelassen sehen, solange es kein Deutscher ist, der dort versucht „Büez“ zu schreiben…

  • Hugo Boss war kein Chef
  • Der bekannte schwäbische Herrenmodenhersteller Hugo Boss, mit Sitz in Metzingen, hat sich diesen Namen nicht ausgesucht, weil er gern auch im anglo-amerikanischen Markt seine Anzüge mit „Chef-Image“ verkaufen wollte. Nein, das „Boss“ in seinem Namen stammt vom schwäbischen Wort „Bosseler“ = Arbeiter. Bosseln ist im Schwäbischen eine Variante für „arbeiten, handwerken“ und hat nichts mit einem „big boss“ zu tun.

    Grimms Wörterbuch sagt dazu:

    uf den ganzen menschen, so von leib und seel, von gar zwo widerwertigen naturn ist zusamen gbosselt. FRANK spr. 2, 121b; sonntags nach dem gottesdienst, ja da posselt man so was kleines für sich selbst zurecht. FR. MÜLLER 3, 113; doch was soll dichtung, scene, idylle? musz es denn immer gebosselt sein, wenn wir theil an einer naturerscheinung nehmen sollen? GÖTHE 16, 21; der held deiner posttage, sagt er, ist ein wenig nach dir selber gebosselt. J. P. Hesp. 4, 166; die theatermaske, die ich in meinen werken vorhabe, ist nicht die maske der griechischen komödianten, die nach dem gesicht des gespotteten individuums gebosselt. war. Tit. 1, 72. diese bedeutung mahnt auch an bosse, entwurf, larve, bossieren. SCHM. 1, 298 hat posseln, posteln, pöseln, pöscheln, kleine arbeiten verrichten. posteln (vgl. nachher bosten, bosteln) erinnert an basteln
    (Quelle: Grimms Wörterbuch)

    Ganz entfernt findet sich also ein Spur von „bosseln“ noch in „basteln“, wie es nun zur Weihnachtszeit so beliebt ist und immer in gleich in Arbeit ausartet. „Bosser“ ist in Frankreich auch ein Wort für „arbeiten„, ob es vielleicht von Napoleons Truppen im Schwabenland zurückgelassen wurde?

    So bosseln die Bosseler und chrampfen die Büezer und malochen die Malocher, und jeder auf seine Art. Ist es nicht wundervoll, wie viele Wörter es für anstrengende Tätigkeiten gibt?

    Das Züri-Slängikon verzeichnet 28 Begriffe für „arbeiten“:

    aaschaffe, ackere, ad Seck gah, Batzeli verdiene, bügle, chnuppere, chnüttle, chrampfe, chrämpferle, chrüpple, d Stämpel-Uhr beschäftige, Freiziit vergüüde, grüble, hacke, i d Hose stiige, in Bou gah, in Bunker gah, in Stolle gah, maloche, noddere, pickle, Raboti mache (Anlehnung ans Russische), rackere, robottere, rüttle, s Bättle versuume (zu wenig verdienen), schufte, tängle, wörke (von engl. to work)
    (Quelle: Slängikon)

    Sogar die Malocher aus dem Kohlenpott haben es sprachlich bis nach Zürich geschafft! Na dann: „Glück auf“.

    Wo gehe ich nach — Von der Alb komme ich herab — Als Norddeutscher im Schwabenland

    Februar 23rd, 2010

    (reload vom 8.12.06)

  • Wo gange mir no?
  • In früheren Jahren bekam ich als Norddeutscher meinen ersten innerdeutschen Kulturschock, als ich das heimische Pommesbuden- und Trinkhallen-Paradies Ruhrgebiet verliess und zum Zivildienst ins tiefste Schwabenland in die Heimat von Harald Schmidt auswanderte. Der hatte dort von 1978 bis 1981 an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart das Fach Schauspiel studiert.

    Nicht weit von Stuttgart besuchte Harald Schmidt das Gymnasium in Nürtingen. Dort in der Nähe lernte ich meine ersten schwäbischen Sätze. „Wo gange mir no?“ zum Beispiel war eine häufige Frage, die mir von den zu betreuenden erwachsenen Geistigbehinderten gestellt wurde. Der Satz heisst auf Hochdeutsch verschriftet: „Wo gehen wir nach“ und hat nichts mit verstellten Uhren zu tun, sondern meinte schlichtweg: „Wohin gehen wir?“. Im Kohlenpott wäre das einfach „Wo gehze?“ gewesen. Auch die immer wieder fällige Satzbetonungsfloskel „Woisch des?“, mit der sich mein Gegenüber darüber versicherte, ob ich eine wichtige Sache bereits weiss, ging mir schnell ins Ohr. Und das typisch schwäbisch „Gell?“, über das manche Norddeutschen schmunzeln und gleichzeitig „Wah?“, „Woll?“ oder „Nö?“ von sich geben um die Kommunikationskanal weiterhin offen zu halten, ging mir schnell in Fleisch und Blut über. In Basel wurde es dann später durch ein kräftiges „Oderrrr?“ ersetzt.

  • Von der Alb komm ich herab, auf die Alb muss ich rauf
  • Ich erwanderte mir an den dienstfreien Wochenende den „Albtrauf“ , d. h. die Abbruchkante dieses Mittelgebirges, dass sich von Süden her weit ins Schwäbische Land schiebt und im Durchschnitt 400 Meter hoch ist.
    Schwäbisch Alb bei Bad Urach
    (Die Schwäbsiche Alb bei Bad Urach. Quelle Foto: laufspass.com)

    Man fährt drum von Stuttgart „rauf auf die Alb“ oder man gibt seine Herkunft an als „von der Alb raa“. Dieses „raa“ klingt wie „Rabe“ und war mir lange Zeit unerklärlich, bis ich lernte, dass es einfach die Kurzform von „von der Alb ‚herab‘“ bedeutet.

    Später, als ich in der Stuttgarter Industrie in den Semesterferien hochbezahlte Ferienjobs bekam (1984 für sage und schreibe 15 DM = damals ca. 12 Franken die Stunde), kam eines Morgens um ca. 6:30 Uhr ein ur-schwäbischer Kollege auf mich zu und sagte diesen Satz: „I bii heut‘ früh schon auf die Alb gehupft“. Ich hatte diesen Satz genau so verstanden, und wunderte mich sehr, warum der gute Mann in aller Herrgottsfrühe zu einer Wanderung auf die schwäbische Alb unterwegs sein sollte, so sportlich kam er mir gar nicht vor. Nun gut, Bergsteiger lieben das Morgenrot, und vielleicht ist dann die Luft am besten und die Aussicht vom Albtrauf rüber ins diesige Stuttgart besonders schön. Also fragte ich nach, welchen Gipfel er denn erklommen habe. „Noi noi, nit uff die Alb, uff die Alt‘ “.

    Plötzlich schwante mir, was mir der gute Mann sagen wollte: Er habe an diesem Tag vor dem Aufstehen um 6.00 Uhr bereits den Geschlechtsverkehr mit seiner Gattin vollzogen, er sei auf die „Alte gehüpft“. Wunderbar, auch das hatte ich begriffen. So ein Ereignis ist für ihn wahrscheinlich so selten gewesen, dass er es sogleich seinen Kollegen der Frühschicht mitteilen musste.

  • Da guckst Du nach der Gugg fürs Veschpa
  • Weitere überlebenswichtige Wörter, die ich im Zivildienst im Schwabenland erlernte war „Mei Veschpa“, womit der einheimische Sprecher nicht den draussen vor der Tür geparkten Vespa-Motorroller meinte,
    Mei Vespa
    (Ist dies „Mei Vespa“? Quelle Foto: wdr.de . Rechte akg-images)

    wie ich zunächst glaubte, auch nicht den katholischen „Vesper-Gottesdienst“ (im pietistisch-protestantischen Schwabenland eher selten) sondern sein Pausen- oder eben „Vesperbrot“.

    Dies wurde ordnungsgemäss verpackt in einer „Gugg“, der schwäbischen Tüte, die mir später in der Schweiz als „Guggenmusik“ erneut vor die Ohren kam.

  • Eine Rolle ist keine Wurst
  • Dann waren da noch die wichtigen Wörter für die Notdurft. Als auf einer Wanderung einer der mir anvertrauten jungen Männer plötzlich das dringende Bedürfnis anmeldete, er müsse sogleich „Rolle machen“, ging ich davon aus, dass es sich um eine sauber abgeseilte runde Wurst handeln müsse, eine „Rolle“ eben. Ich hatte den mir anvertrauten Betreuten ganz umsonst in den tiefsten Wald geführt, in der Annahme, es würde was „Grosses“ folgen. Doch der junge Mann pinkelte schlichtweg einfach an die nächste Tanne. Das war es, was er unter „Rolle machen“ verstand. „Noi, koi Stinker…“

    Auch das hatte ich dann verstanden. Stets denke ich an diese Sprachlektion im Schwäbischen, wenn wir zwischen Lausanne und Genf am hübschen Ort „Rolle“ vorbeifahren und frage: „Na, muss irgendjemand Rolle machen in Rolle?

    Rolle
    (Rolle am Genfer See. Quelle Foto: lake-geneva-region.ch)

    Junge, komm bald wieder —Liebeswerben der Swisscom

    Februar 22nd, 2010

    (reload vom 7.12.06)

  • Erst wollte die Swisscom uns nicht
  • Als wir in die Schweiz zogen und versuchten, einen Telefonanschluss zu bekommen, war das ohne gültige B-Bewilligung kein einfaches Unterfangen beim damaligen Monopolisten Swisscom. Internet bei der Cablecom gab es sofort, darüber konnten wir zur Not auch telefonieren, obwohl wir damit im Jahr 2000 noch zu einer kleinen exotischen Minderheit gehörten. Die Swisscom akzeptierte uns erst als Kunden, als nach einigen Tagen die Nachricht über den baldigen Erhalt eine Aufenthaltsbewilligung auf dem Tisch lag. Zur Sicherheit mussten wir eine Kaution von 500 Franken hinterlegen (vgl. Blogwiese )

  • Dann kassierten sie jahrelang für den Festnetzanschluss
  • Schon sehr bald wechselten wir zu einem anderen Festnetzanbieter. Zunächst Sunrise, später Ntel, um darüber unsere Schweizer Lokalgespräche und die Ferngespräche kostengünstiger abzuwickeln. Dennoch kamen monatlich die Rechnungen der Swisscom ins Haus, für die „Bereitstellung des Festnetzanschlusses“, die berühmte „letzte Meile“ ins Netz. Grob überschlagen 5 x 12 x 24 Franken waren das 1‘440 Franken, die die Swisscom in fünf Jahren an uns verdiente, nur für das Bereitstellen der Infrastruktur.

  • Und Tschüss —der Wechsel zur Digital Phone von Cablecom
  • Dann erlagen wir den permanenten Lockrufen der Cablecom. Wir sagten dem einstigen Monopolisten Tschüss. Keine 24 Franken pro Monat mehr für den Festnetzanschluss. Umsonst im Schweizer Festnetz ab 19.00 Uhr und an den Wochenenden, grundsätzlich umsonst (bis 1‘440 Minuten insgesamt) während der ersten 6 Monate ins Schweizer Festnetz tagsüber telefonieren, und dazu die Grundgebühr von 24 auf 20 Franken vermindert, das alles klang doch echt nett und kundenfreundlich. Wir hatten lange gezögert, denn bei den Nachbarn im Haus konnten wir live erleben, dass das Telefonieren über Cablecom zunächst doch nicht so ganz fehlerfrei wie erwartet ablief. Aber die Jungs der Cablecom bemühten sich redlich, schraubten kostenfrei neu Kabelbuchsen an die Wand, verlegten neue Kabel im Haus, vermassen immer mal wieder hochprofessionell die Stärke des Signals, bis die Sache rund und fehlerfrei lief.

  • Nun hätte sie uns gern wieder als Kunden
  • Was nun begann war ein „Dauerfeuer“ der Swisscom Marketingabteilung. Kein Monat verging, in dem wir nicht Post bekamen, ob wir es uns nicht doch wieder anders überlegen wollten und zur Swisscom zurückkehren. Wir erhielten auch besorgte Anrufe, die sich nach technischen Problemen mit dem Cablecom Digital Phone Angebot erkundigten. „Klappt das denn auch? Haben sie nicht eine sehr schlechte Verbindung? Bricht nicht häufiger mal die Kommunikation zusammen?“
    Wenn wir überschlagen, was die Swisscom in dieser Zeit in Geld und Ressourcen für Porto, den Druck von Hochglanzinformationen, in Manpower und Telemarketing-Zeit investierte, um uns als Kunden zurückzugewinnen, da mögen locker erneut ein paar hundert Franken zusammen kommen.

  • Die ultimative Leimrute: Ein Jahr umsonst mit der Swisscom!
  • Jetzt wurde ein stärkeres Geschütz aufgefahren. Sozusagen die ultimative „Leimrute“. Mit einem solchen Gerät fing man im Mittelalter Vögel, um sie zu verspeisen.

    Leimrute, die [spätmhd. līmruote]: für den Vogelfang verwendete, mit Leim bestrichene Rute, an der sich darauf niederlassende Vögel hängen bleiben: Leimruten legen.
    (Quelle: Duden.de)

    Eine Leimrute legen“ galt auch als Metapher für die verlockenden Angebote höfischer Frauenzimmer. So manch Dichter blieb dran kleben, wie uns die höfische Literatur erzählt.
    Wenn wir uns doch entschliessen sollten, zur Swisscom zurückzukehren, würde uns ein Jahr lang kostenloses Telefonieren im Wert von max. 100 Franken pro Monat bis zum Gesamtwert von 1‘200 Franken versprochen. Klasse, es tut richtig gut, so umschmeichelt zu werden, nach all der erlittenen Schmach, als sie uns nicht haben wollte als Kunde, die Schweizer Swisscom.

  • Junge, komm bald wieder
  • Das hört sich ja fast wie eine Drohung an, was die Swisscom da schreibt:

    „Tausende kehren zurück — jetzt sind Sie an der Reihe!“


    Tausende kehren zurück
    Die meinen doch nicht die 1’440 Franken, die ich ihnen einst zahlte? Plus das Geld, welches in meine Rückholung gebuttert wird? Sogar die „Einschaltkosten“ von CHF 43 will man mir schenken. Langsam kann ich richtig schwach werden, bei soviel Zuvorkommenheit und Bemühen um meine Wenigkeit als Kunden.

  • Vielleicht hilft es ja, Kunden zurück zu bekommen?
  • Es tut gut zu erleben, wie gesunder Wettbewerb zwischen der Swisscom und der Cablecom dafür sorgt, dass die Kunden von günstigen Konditionen profitieren können. Die Swisscom versuchte lange Zeit mit einer aufwändigen Kino-Kampagne den Abwanderungstrend umzukehren. In dem Spot wurde ein junger Mann auf der Autobahn gezeigt, der permanent versucht, mit seinem Wagen jede kleine Lücke zum Überholen auszunützen, um rascher als die anderen voran zu kommen, bis er schliesslich mit einer Panne am Strassenrand liegen bleibt. Das stellte den „Anbieter-Wechsler“ da, bei seinem Versuch, schneller und billiger zu fahren.

    Bildliche, vergleichende Werbung war so möglich, mit dem Fazit: „Lieber beim bewährten Festnetzanbieter bleiben“. Ob diese Werbung viele Kunden des einstigen Monopolisten zurückholen konnte? Sag „Swiss“ und „com“ zu uns zurück!