Wie demokratisch ist Ihr Land? — Wie alt ist die Demokratie in der Schweiz und in Deutschland
(reload vom 14.12.06)
Die Schweiz wird oft als „Urdemokratie“ bezeichnet, als „Wiege der Demokratie“, die quasi seit ihrer Gründung im Jahre 1291 frei von Fremdherrschaft ist und von den Eidgenossen basisdemokratisch regiert wurde. Mit diesem Mythos räumt Walter Wittmann in seinem Buch „Helvetische Mythen“ (Frauenfeld 2003) gründlich auf.
Die Schweiz ist eine junge Demokratie. Erst die liberalen Sieger des Bürgerkriegs von 1847/48 brachten ihre Forderungen durch. Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Freiheitsrechte. Die französische Revolution lieferte die liberalen Ideen, die amerikanische Verfassung das Modell des Zweikammersystems. Die Bundesverfassung von 1848 enthielt Ansätze zur direkten Demokratie, in den Kantonen setzte die demokratische Bewegung die Volkssouveränität durch.
1291, im Geburtsjahr der Eidgenossenschaft, war von Demokratie nichts zu spüren. Es gab keine Versammlungs-, keine Niederlassungs-, keine Gewerbefreiheit. Keine kollektive Meinungsbildung, die zu demokratischen Entscheiden geführt hätte — das „Volk“ war nicht gefragt. Es führten Adel, ländliches Magnatentum und Geistlichkeit. Mythenzertrümmerer Walter Wittmann: „Daran änderte in der Regel auch die Landsgemeinde nichts, da dort nur ihre Vertreter wählbar waren. Es ist völlig verfehlt, die Schweiz, wie sie vor dem Einmarsch von Napoleon 1798 existierte, als Demokratie zu bezeichnen.“
(zitiert nach: Schweizer Lexikon der populären Irrtümer von Franziska Schläpfer, S. 63)
In Deutschland ist das Verständnis und die Akzeptanz von moderner Demokratie ebenfalls noch eine relativ junge Errungenschaft der Geschichte. Noch die Generation unserer Grosseltern hatte ein äusserst suspektes Verhältnis zum Begriff der „Demokratie“. Mit dem Wegfall des Deutschen Kaiserreiches zum Ende des 1. Weltkriegs brach für sie eine Weltordnung zusammen. Feudale Strukturen waren angenehm geordnet, einem nicht demokratisch sondern durch Erbfolge legitimierte Herrscher die Treue zu schwören und zu dienen galt als besondere deutsche Tugend. Demokratie war verschrien als „Herrschaft des Pöbels“, als Aufstand der Unterprivilegierten. Die junge „Weimarer Republik“ schaffte es bekanntlich nicht, die Prinzipien der Demokratie dauerhaft durchzusetzen:
Das Vertrauen in die Demokratie und die Republik sank ungebremst. Die Republik wurde für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich gemacht, zumal die Reichsregierung im Verlauf des Jahres 1930 mehrfach neue Steuern erhob, um die Staatsaufgaben erfüllen zu können. Die Rufe nach einem „Starken Mann“, der das Deutsche Reich wieder zu alter Größe und Ansehen bringen sollte, wurden lauter.
Auf diese Forderungen gingen besonders die Nationalsozialisten ein, die mittels gezielter Propaganda und der Konzentration auf die Person Hitlers ein solches Bild der Stärke suggerierten.
(Quelle: Wikipedia zur Weimarer Republik)
Diese Erfahrungen führt nach Ende der Naziherrschaft in Deutschland bei den Müttern und Vätern des Grundgesetzes dazu, eine Reihe von Sicherungen einzubauen, wie z. B. die „Fünf-Prozent-Hürde“:
Sinn einer Sperrklausel dieser Art ist es, eine Konzentration der Sitzverteilung herbeizuführen, um stabile Mehrheiten zu fördern. Kritiker meinen, dies widerspräche allerdings dem Gedanken der Demokratie und dem Grundgesetz (Art 38 Abs. 1 GG), nach dem das Volk bestimmt und jede Stimme den gleichen Wert haben muss. Eingeführt wurde sie in Deutschland nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, in der teilweise eine zweistellige Anzahl von Parteien im Parlament saß und es dadurch zunehmend erschwert worden war, eine tragfähige Regierungskoalition zu bilden. Die dadurch bedingte Situation trug angeblich mit dazu bei, dass die extremistischen Parteien am linken und insbesondere am rechten Rand der Gesellschaft verstärkten Zulauf erhielten
(Quelle: Wikipedia)
Wenn wir in den Aufzeichnungen dieser Generation lesen, dann hat diese Denkweise auch bei ihren Kindern, d.h. unserer Elterngeneration tiefe Spuren hinterlassen. Ein Beispiel: Als im April 1945 in Amerika Präsident Roosevelt stirbt und durch einen gewählten Nachfolger ersetzt wird, wurde dies von der deutschen Nazipropaganda als Beginn einer Niederlage des Feindes USA interpretiert, ohne Verständnis dafür, dass in einer Demokratie wie in den USA ein solcher Wechsel in der Staatsführung etwas ganz Alltägliches war. Immerhin brachte es Roosevelt auf vier Amtszeiten und wurde mit 12 Jahren als aktiver Regierungschef in der Geschichte nur von den 16 Amtsjahren (1982-98) Helmut Kohls überrundet.
Eine der eindrücklichsten Szenen im Spielfilm „Der Untergang“ zeigt Offiziere der Wehrmacht, die von Tod Hitlers erfahren hatte und nun in einem Bunker darauf warteten, dass russischen Soldaten hereinkamen. Welcher Befehl sollte dann ausgeführt werden? Alle Magazine in Richtung Tür leerschiessen und mit der letzten Kugel Selbstmord begehen. Ein Plan für ein Weiterleben ohne Führer war nicht vorgesehen. Selbständiges Denken und Handeln waren diese Befehlsempfänger nicht gewohnt. Sie kamen mir wie Kinder vor, die auf einem Spielplatz von ihren Eltern abgesetzt und nun vergessen worden waren. Das war 1945, also vor 61 Jahren. Demokratie musste erst gelernt werden in Deutschland, und die Abschlussarbeit zum Thema „Abstimmung mit den Füssen“ wurde in der friedlichen Novemberrevolution 1989 eingereicht.
Auf einer Studienreise in die Toskana verbrachte ich einen Tag in Florenz mit einem Amerikaner, einer Engländerin, einem Franzosen und einer Schwedin. Wir diskutierten angeregt über unsere Länder und kamen auf das Thema Demokratie zu sprechen. Jeder sollte, nach reiflicher Überlegung sagen, welchem der fünf Länder USA, Grossbritannien, Frankreich, Schweden und Deutschland er oder sie den höchsten Grad an „Demokratieverständnis“ zugestehen würde. Als Kriterium dafür galt für uns u. a. der mögliche Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die gelebte Meinungsfreiheit, die freie und kritische Presse, die Einflussmöglichkeit des Volkes ausserhalb von Wahlen etc.
Das Ergebnis war erstaunlich: Jeder von uns legte ein eindeutiges Bekenntnis dafür ab, dass er sein eigenes Land als das demokratischste Land von allen halten würde. Lag es an der mangelnden Ahnung über das poltische System und die Gesellschaft in den anderen Ländern? Selbst der Amerikaner hielt die heimische Demokratie für die fortschrittlichste. Seit diesem Tag weiss ich: Demokratie ist eine äusserst subjektiv wahrgenommene Angelegenheit.
Februar 26th, 2010 at 19:08
Nachdem bei der siegreichen Kriegsgeneration die nahezu gottaehnliche Verehrung aller helvetischer Mythen fortbestand, machten sich meist thoitschfreundliche 68-er daran, diese zu zerstoeren. Selbst der Bundesbrief wurde als «Faelschung des 18. Jht.» diffamiert, Tell und Konsorten als Hirngespinste abgetan. Heute ist man wieder klueger geworden: Mit der sogenannten C14 -Methode konnte der Bundesbrief als echtes Dokument bestaetigt werden! In Thoitschland findet man Reichsinsignien und Zeichen des Terrors vom jahrtausendealter Unterdrueckung durch Koenigshaeuser – der Bundesbrief bestaetigt den Versuch, wie sich Einwohner der Innerschweiz eine eigene Gerichtsbarkeit gaben. Hochdemokratisch, nicht ohne den Zeitgeist zu vergessen: «… sind alle Eidgenossen vor dem Rechte gleich – ein paar obere Herren (Politiker) ein wenig gleicher.» Trotz allem: Revolutionaer!
Die «Alte Eidgenossenschaft» vertrieb den arroganten Adel, den Verbliebenen raederte, verbrannte und vierteilte man.
Die Geschichte mit Napoleon ist korrekt: Erst nach der Einigung der zerstrittenen, urfoederalen Gebiete war ein subsidiaer organisierter Bundesstaat moeglich. Die Schweiz zaehlt nach den USA und Frankreich zur Dritten, grossen Demokratie der Welt – Thoitschland hat bis 1990 gebraucht, um sich ihnen anzuschliessen.
Von den obgenannten Staaten ist sicherlich die «BRD» die am wenigsten demokratische Gesellschaft, ein Zugestaendnis an Adenauers Amtsvorgaenger und den Thoitschen mit ihrem Hang zu Kadavergehorsam, Hierarchie und «starker Hand»: Fuehrerherrschaft des Kanzlers, extrem schwacher Praesident und Lokalregierungen, starke Buerokratie (preussisches Erbe) – Germanien koennte von den USA noch viel lernen. Von der Schweiz weniger – selbst Helmut Schmidt beantwortete die Frage, ob Nordrheinien die direkte Demokratie einfuehren sollte, sibyllinisch mit: «In der Schweiz funktioniert die direkte Demokratie. In Thoitschland haben wir die halbdemokratische Kanzlerrepublik. Eine Aenderung sehe ich, wenn ich mir die Thoitschen ansehe, als wenig wuenschenswert an.»
Februar 27th, 2010 at 22:01
Demokratie ist eine äusserst subjektiv wahrgenommene Angelegenheit.
O.K, aber wie erklärt man das Menschen mit Blog-Tourette-Syndrom?
Februar 27th, 2010 at 22:58
Ich wage doch zu bezweifeln, dass man Frankreich, dessen Präsident schon diktatorische Vollmachten inne hat, oder auch die USA (Vetorecht des Präsidenten) als Musterbeispiel einer Demokratie verstehen kann.
Februar 27th, 2010 at 23:50
«Demokratie ist eine äusserst subjektiv wahrgenommene Angelegenheit.»
Die Errungenschaften des Schweizers Jean -Jacques Rousseau, in der Folge die franzoesischen Revolution und der freiheitliche Liberalismus sind keine thoitschen Erfindungen, geschweige denn in der «BRD» bereits angekommen. Das Erbe der «Thoitschen Romantik» ist, dass selbst Ossis noch ungestraft von ihrer «DDR» weitertraeumen duerfen: «In unserer thoitschen demokratischen Republik war alles besser!»
Tja, thoitsche Verklaerung statt westliche Aufklaerung!
Muhahaaa!!
Februar 28th, 2010 at 19:31
Demokratie ist in der Tat eine sehr subjektive Sache. Das Helmut Schmidt-Zitat vom Zuercher finde ich sehr schön. Zeigt es doch die deutsche Situation sehr gut.
Das Land hat ja keine wirkliche Demokratie, sondern eine geschickt aufgebaute Parteiendiktatur, deren leitende Instanzen es sehr gut verstehen ihre eigenen Interessen wahrzunehmen und sich auf Kosten des „Volkes“ zu versorgen. Ab und zu gibt es zur Ruhigstellung der deutschen Schlafmützen Wahlen, wo sie dann zwischen Pest und Cholera entscheiden dürfen.
Die einzige Demokratie hat für mich nur die Schweiz, da nur dort das Volk dazu in der Lage ist, abgehobene Politiker von Zeit zu Zeit auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
Februar 28th, 2010 at 21:59
Die Früchte der Aufklärung lassen sich besonders an eingängigen Plakaten studieren.
Der neue Schweizer Expressionismus: Knallige Farbgebung, Verwendung von Stereotypen, das Beste aus 12 Jahren, verklärt den Verstand der Aufgeklärten.
http://www.rhetorik.ch/Aktuell/08/12_30/plakat.jpg
März 1st, 2010 at 8:53
„In der Schweiz funktioniert die direkte Demokratie.“
Ja Ja träumen Sie weiter.
Was direkt funktioniert ist die Umsetzung der Vorgaben der Wirtschaft an die Politik. Man nennt das auch Lobyismus.
Gruss helveticus
März 1st, 2010 at 10:39
@hansi
Der Hamster im Rad denkt auch er kommt vorwärts.
Lobbyismus, das ist das Stichwort
Für Einzelpersonen gilt: Je grösser das Vermögen umso stärker deren Einfluss.