Zwei Wochen lang Schulsilvester — Der 17. Mai in Oslo

Mai 19th, 2009
  • Ein Nationalfeiertag ganz ohne Feuerwerk
  • Am vergangenen Sonntag, dem 17. Mai, feierte Norwegen seinen Nationalfeiertag. Ein ähnlich wichtiger Tag wie der 1. August in der Schweiz. Doch alles ist anders. Der Tag erinnert an das Ende der Dänisch-Norwegischen Personalunion 1814, wodurch das Land unabhängig wurde. Anders als in der Schweiz gibt es kein Feuerwerk, aber eine prachtvolle Parade der Schulkinder in schmucken Trachten. In der Hauptstadt Oslo führt sie am Schloss des Königs vorbei, der mit seiner Familie stundenlang mit Grüssen und Winken beschäftigt ist.

    Norwegerin in Oslo mit Tracht
    (Quelle: Osloer Schülerin am 17. Mai — Privates Foto)

    Die meisten Frauen sind in traditionellen Trachten gekleidet. Die Männer tragen zum Teil ebenfalls Tracht, doch wer sich diese teuren Kleider nicht leisten kann, kommt zu mindestens im feinsten Tuch mit Krawatte und den angesteckten Nationalfarben zum Umzug. Würden Sie am 1. August rumlaufen wie bei einem Opernbesuch oder voll in Schale wie auf einer Hochzeit? Die Norweger tun dies mit Begeisterung, vom Nachmittag des Vortags bis spät in den Abend des Feiertags.

  • Keine anderen Flaggen erlaubt, aber Trachten
  • Wie in der Schweiz ist das Land mit Flaggen und Fähnchen übersät, an jedem Balkon steckt die norwegische Fahne, und Taxis fahren geschmückt umher wie sonst die Fussballfans in der Schweiz bei einer Fussball-Meisterschaft.

    Flaggen in Oslo
    (Quelle: Privates Foto)

    Es gab im Vorfeld des Feiertags eine grosse Diskussion darüber, ob die knapp 9 % im Land lebenden Ausländer nun ihre eigene Flagge neben der Nationflagge zeigten dürfen oder nicht. Es wurde abgelehnt, aber einige Peruaner liessen es sich nicht nehmen, ihre eigenen farbenfrohen Trachten aus den Anden anzulegen und mit Stolz zu tragen.

  • Zwei statt vier Sprachen
  • Das Tagesprogramm beginnt zeitig. Bereits für 8:00 Uhr sind die ersten Gedenkfeiern an diversen Grab- und Mahnmalen angesetzt. Die Nationalhymne wird vielerorts gesungen, wie in der Schweiz, aber statt vier Sprachen finden sich nur zwei Sprachen auf dem Liederzettel. In Norwegen muss jeder die zweite Landessprache „Nynorsk“ (= Neu-Norwegisch) schreiben und verstehen können, denn es könnte ja sein, man arbeitet eines Tages in einer Verwaltung und ist verpflichtet, ein Bürgeranliegen in dieser Sprache, welche im Westen des Landes gesprochen wird, zu antworten. Die Hymne beginnt mit dem Satz „Ja, vi elsker dette landet“ = „Ja, wir lieben dieses Land.“

  • 387 Punkten für einen halben Norweger
  • In diesem Jahr gab es ausser den üblichen Bällen und privaten Festen in der Nacht zum Nationalfeiertag noch ein weiteres Highlight zu feiern: Der charmante russisch-norwegische Doppelbürger Alexander Rybak gewann das Eurovisionsfinale mit sensationellen 387 Punkten, einem neuen Rekord. Der bisherge Rekord lag bei 298 Punkten. Die Hälfte der 42 teilnehmenden Länder hatte ihm die höchstmögliche Zahl von 12 Punkten zugesprochen. Norwegen, sowieso schon in Feierlaune, flippte nun vollständig aus. 5‘000 vorwiegend weibliche Fans kamen am Abend zum Empfang ihres Lieblings zum Flughafen Gardemoen gefahren. Er hatte sie um Mitternacht im Fernsehen in Moskau vor 100 Millionen Zuschauern auf Norwegisch dazu aufgefordert. Der 23jährige leitete das grösste Jugendsymphonieorchester Norwegen und gewann mehrfach Preise in seinem Heimatland.

  • Die Rüsse kommen
  • Einen bunten Kontrapunkt zum feierlichen Treiben am Nationalfeiertag setzten die vielen tausend Abiturienten, alle Jahrgang 1990, die leicht an ihren roten Latzhosen zu erkennen. Sie nennen sich „Russe“, was „Rüsse“ gesprochen wird, und feiern zwei Wochen lang bis zum 17. Mai in umgebauten Partybussen und Fahrzeugen das Ende ihrer Schulzeit. Es gibt auch grüne, schwarze und blaue Latzhosenträger, aber die sieht man seltener. Grün steht für das „Landwirtschaftliche“ Abitur, Schwarz tragen die Informatiker, die Farbe ihrer Zukunft sozusagen, und blau.. nun, das sind vielleicht angehende Seeleute, so genau konnte mir das niemand erklären.

    Die Russen in Oslo
    (Quelle: Die Russen sind los in Norwegen — Privates Foto)

    Waschen dürfen sie die Latzhose in der Zeit nicht, und norwegische Kinder sind scharf auf die farbigen Phantasie-Visitenkarten, die jeder „Rüsse“ bei sich trägt und gern als Souvenir verteilt. Am 17. Mai morgens lagen in vielen Osloer Grünanlagen die roten Rüsse-Hosenträger und schliefen. Geschlafen wird in dieser Zeit wenig, das hat Zeit bis zum 18. Mai, doch dann beginnt die eigentlich Prüfungszeit.

  • Abitur kommt nach der Feier
  • Ja, Sie haben richtig gelesen, die Jugendlichen feiern paradoxerweise das Ende der Schulzeit ausgelassen, noch bevor sie ihren Abschluss geschafft haben. Permanente Streiche und Beschallung aus den mobilen Diskobussen sorgen für ein vierzehntägiges „Dauer-Schulsilvester“. Bei der Parade liefen ganze Horden von Latzhosenträgern „gegen den Strom“, mit Trillerpfeifen auch bei den lautesten Blaskapellen unüberhörbar.

    Spiegel-Online berichtete 2007 über die „Russen in Oslo“, wie sie zu wilden Parties in die Wälder vor Oslo mit ihren getunten Spezialbussen unterwegs sind, siehe hier.

    Schweizer Wohneinheit mit fünf Buchstaben — Was ist ein Flarz?

    Mai 18th, 2009

    (reload vom 23.05.06)

  • Kreuzworträtsel sind anspruchsvoll!
  • Die Pendler in den Agglo-Zügen stürzen sich jeden Morgen auf die Kästen mit der kostenlosen Minizeitung „20minuten“. Einige Zeit lang gab es auf dem Heimweg dann noch eine Spätausgabe von „heute“. Nein, das war nicht die betuliche Nachrichtensendung im Zweiten Deutschen Fernsehen, einst wegen seiner regierungsfreundlichen Berichtausstattung auch als „Kohls Privatshow“ verunglimpft, sondern eine weitere „Zeitung für Nichtleser“. Doch „heute“ blieb nicht lange am Markt sondern wurde von „Blick am Abend“ übernommen. Die seit dem 15. Mai 2006 erscheinende Gratiszeitung „heute“ (später „Blick am Abend“) wird an Bahnhöfen von „Kolporteuren“ verteilt. Das sind keine schmuddeligen Gestalten, die „Kolportagen“ schreiben, also anrüchige Berichte, denn laut Duden ist eine Kolportage:

    Kolportage […], die; -, -n [frz. colportage, zu: colporter, kolportieren]: 1. literarisch minderwertiger, auf billige Wirkung zielender Bericht
    (Quelle: Duden.de)

    Nein, so heissen die Verteiler der Zeitungen in der Schweiz. Eigentlich ein sehr negativ besetztes Wort:

    Kolporteur […] der; -s, -e aus fr. colporteur „Hausierer“:
    1. jmd., der Gerüchte verbreitet.
    2. (veraltet) jmd., der mit Büchern od. Zeitschriften hausieren geht.
    (Quelle: Duden.de)

    Über die Duden typische Wertung „veraltet“ für einen typisch schweizerischen Begriff sehen wir wie immer gewohnt souverän hinweg. Auch der Blogger Jérome, der heute übrigens Geburtstag hat, fing an als Kolporteur:

    Meine „Promokarriere“, die 2001 als 20-Minuten und Metropol Kolporteur (bei Wind und Wetter: Jé war immer gut gelaunt) in Zug begann – hat gestern ihren wohl vorläufigen Höhepunkt erreicht!
    (Quelle: jeromel.kaywa.ch)

    Doch kehren wir zurück zu „20minuten“ und „heute„, zwei äusserst auflagenstarke Blätter im Schweizer Blätterwald, die besonders auf einer Seite einen besonders hohen Tribut an Verstand und Geistesgabe fordern: Beim Kreuzworträtsel.

  • Tagi und Dagi statt Maggi und Daggi
  • Manchmal schaue ich meinem Banknachbarn in der S-Bahn über die Schulter und lese heimlich mit, welche Frage in den Rätsel gelöst werden müssen: „Singvogel mit fünf Buchstaben, erster Buchstabe ein A“. Hmm, das ist jetzt aber verdammt schwer für einen Stadtmenschen wie mich. Vielleicht „a’Spatz“? Aber das sind ja schon sechs Buchstaben. Dann versuche ich mich wieder im Verstehen meiner Lieblingslektüre, dem „Total Anspruchsvollen Gesamt-Idiotikon“ für die Schweiz. Kurz: Dem „TAGI“, bei dem nur Deutsche auf die Idee kommen könnten, ihn mit zwei „g“ in der Mitte abzukürzen. Merke: Der „Tagi“ schreibt sich nicht wie „Maggi“, also nur mit einem „g„. Eine „Dagmar“ würde in Deutschland zur „Daggi“ und in der Schweiz zur „Dagi“ verkürzt (zum Name siehe hier)

  • Behausung mit fünf Buchstaben
  • Und dort im Tagi stolperten wir auch prompt über ein Wort, das gut in jedes Kreuzworträtsel passen würde. Der „Flarz“

    Aber das Haus hat natürlich auch eine Identität und eine Geschichte, die ein Stück weit einbezogen werden. Es ist ein ehemaliger Flarz aus dem Jahr 1780, der vor 15 Jahren einer grossen Renovation unterzogen wurde.
    (Quelle:Tages-Anzeiger.ch)

    Die Schweiz hat viele alte Gebäude und Haustypen, und als Deutsche stehen wir immer wieder staunend vor alten Fachwerkhäusern, die langsam vor sich hin modern, weil niemand Interesse hat, sie zu renovieren. Es gibt einfach zu viele davon. Oftmals werden sie abgerissen und an gleicher Stelle wird, mit gleicher Dachform und Umfang, etwas Neues gebaut. In Deutschland wurde durch das Bombardement im Zweiten Weltkrieg ein Grossteil der alten Bausubstanz ausradiert. Wer heute durch eine schnuckelige Altstadt wie die von Freiburg im Breisgau läuft, verfällt leicht dem Irrglauben, hier wirklich alte Häuser zu sehen.
    Altes Kaufhaus in Freiburg im Breisgau ist nicht alt
    (Quelle: lpb.bwue.de)
    In Wirklichkeit wurde fast alles mühsam wieder aufgebaut in den Fünfzigern, nur das Münster überstand wie durch ein Wunder den Bombenteppich der Engländer.
    Freiburg nach dem Bombenangriff
    Man muss sich das als Deutscher in jeder Schweizer Altstadt vor Augen halten: Hier ist alles wirklich alt, hier gab es keinen Bombenkrieg, hier wurde nicht alles erst wieder aufgebaut. Wirklich alte Wohnhäuser sind darum in deutschen Städten eine Seltenheit, die sorgsam gepflegt werden und häufig unter speziellem Denkmalschutz stehen, ob sie nun schön anzusehen sind oder nicht.

  • Doch was ist ein Flarz?
  • Wir fanden eine Definition auf Englisch:

    House in “flarz” style
    Three hundred years ago many communities in the Zurich Highlands restricted house construction because of the rapid population growth. They specified exactly how many dwellings were permitted within their municipal borders, or they completely prohibited the construction of new apartments. The crafty highlanders, however, found ways to circumvent such obstacles by dividing up existing houses or by adding extensions to the gable end. The outcome was the row house in “flarz” style – which today is a coveted, romantic dwelling.
    (Quelle: bioengineering.ch)

    Beispiel für ein Flarz
    Flarzhaus in Sternenberg
    (Quelle: sternenberg.ch)

    Das Flarzhaus ist ein so spezielles Haus, dass die Bezeichnung von vielen Schweizern auch nicht gekannt wird. Es sei denn, sie stammen aus dem Zürcher Oberland:

    Das Flarzhaus ist typisch für das Zürcher Oberland: Ein Zürcher Weinbauernhaus am Zürichsee unterscheidet sich vom Flarzhaus des Zürcher Oberlandes. Für eine gezielte Exkursion zur Beobachtung von Haustypen eignet sich das Zürcher Oberland besonders gut. Auf kleinstem geografischem Raum können verschiedene Bauweisen besichtigt werden. Fachwerkhäuser sind in Lützelsee-Hombrechtikon (das Menzihaus und das Hürlimannhaus) und in Lutikon-Hombrechtikon (das reich geschmückte Eglihaus) zu sehen. Das Dürstelerhaus in Ottikon-Gossau und das Guyerhaus in Wermatswil sind Bohlenständerbauten. In Rutschberg-Pfäffikon ist ein so genanntes Flarz-Reihenhaus aus dem 16. Jahrhundert erhalten geblieben
    (Quelle: verlagzkm.ch)

    Heute werden Häuser dieser alten Form des Flarzhauses nachempfunden:
    Häuser im Flarz Stil
    (Quelle: forums9.ch)

    Und weil Sie es ja sowieso wussten: Der Singvogel mit fünf Buchstaben, erster Buchstabe „A“ ist eine „Ammer„, oder was hatten Sie gedacht?

    Da laust sich der Affe — Fellpflege des Businessman im 21. Jahrhundert

    Mai 15th, 2009

    (reload vom 22.05.06)

  • Da laust sich der Affe
  • Kenne Sie das? Sie sitzen im Zug, in einem Cafe oder Sie halten vor einer Gruppe von erwachsenen Menschen einen Vortrag, und haben die volle Aufmerksam Ihrer Zuhörer. Da fängt doch tatsächlich der Mensch, der Ihnen genau gegenüber sitzt, plötzlich damit an, von seinem Hals ein wenig Haut abzukratzen,
    Fellpflege des Mannes Teil 1
    (Phase 1: Die Materialsammlung am Hals)

    diese dann mit spitzen Fingern vor dem Gesicht zu begutachten,

    Fellpflege: Optische Begutachtung
    (Phase 2: Die Optische Begutachtung der Ausbeute)

    schliesslich daran zu riechen
    Die olfaktorische Probe
    (Phase 3: Die olfaktorische Probe),

    und wenn Sie dann ganz grosses Glück haben, dürfen Sie jetzt auch noch einen Geschmackstest erleben.

    Geschmackstest nach der Fellpflege
    (Phase 4: Der Geschmackstest).

    Alles live und in Echtzeit, immer in genau dieser Reihenfolge.

    Ich weiss nicht, wie oft ich das in den letzten Monaten erlebt habe, und je häufiger ich das erlebe, desto öfter frage ich mich, was an mir diese alten tierischen „Fellpflege“-Instinkte auslöst, die Kopfhaut zu kontrollieren, Schuppen zwischen den Fingernägeln zu zerdrücken, daran zu riechen und sie sogar noch zu probieren.

  • Zuschauer stören nicht im Geringsten
  • Die Menschen, bei denen ich dieses Verhalten beobachte, lassen sich durch mein aufmerksames Zuschauen niemals in ihrem Tun stören. Manchmal möchte ich fragen: „Na, riecht das auch angenehm“ wenn sie bei der Geruchsprobe angekommen sind. Oder ich will ihnen einen Hinweis geben: „Dahinten rechts neben dem Ohr, da ist noch ganz frischer Schmalz zum Abkratzen“.

    Aber natürlich reisse ich mich zusammen, doppelt zusammen, um damit den Ausgleich für die entspannte Befindlichkeit meines Gegenübers zu schaffen. Vielleicht sollte ich ja strenger gucken, wenn es wieder losgeht. Vielleicht hilft ein energisches „Na na, wir wollen uns doch nicht selbst verspeisen?!“ im rechten Moment geäussert?

    Zugegeben, es sind vorwiegend Männer, bei denen ich dieses Verhalten beobachtet habe. Aber eins ist sicher und kann statistisch leicht bewiesen werden. Wenn sich 10 Personen im Raum befinden, dann sitzt derjenigen mit dem starken „mich laust der Affe“ Trieb unter Garantie genau vor mir.

  • In den Zähnen stochern war gestern
  • In der Nase popeln oder zwischen den Zähnen mit leicht fletschendem Geräusch die letzten Speisereste suchen, das habe ich hingegen schon lange nicht mehr erlebt. In der Schweiz putzen sich die Männer nach dem Mittagessen sorgsam die Zähne, wie wir schnell gelernt haben (vgl. Blogwiese). Folglich ist da nichts zum rausprokeln. Bleibt nur die Kopfhaare und Vorzugsweise die Haut am Hals und bei den Ohren. Am meisten liebe ich die kennerische „Schnuppergeste“, wenn das gefundene Hautstück geniesserisch zur Nase geführt wird. Nur was wirklich gut riecht, wird danach noch verköstigt.

    Was würden Sie tun in solch einer Situation? Salz und Pfeffer reichen? Es müssen alte Instinkte sein, aus grauster Vorzeit, als wir noch näher mit dem Affen verwandt waren, die nun plötzlich mitten in unserer Zivilisation wieder an die Oberfläche des menschlichen Verhaltens kommen. Die kleine Schicht „Konvention“, die uns von dieser Urzeit trennt, ist schnell durchbrochen, glauben Sie mir. „Fröhliches Fellpflegen“ bleibt uns da nur zu wünschen, und je nach Ausbeute auch „En Guete“!

    Nicht pöbeln sondern pröbeln — Wenn der Verurteilte seine Probezeit erlebt

    Mai 14th, 2009

    (reload vom 21.5.06)
    Der „Pöbel“ ist, wie der Lateiner weiss, das Überbleibsel von lat „populus“:

    Pöbel, der; -s [(unter Einfluss von frz. peuple) mhd. bovel, povel = Volk, Leute von afrz. pueble, poblo von lat. populus = Volk(smenge)] (abwertend): ungebildete, unkultivierte, in der Masse gewaltbereite Menschen [der gesellschaftlichen Unterschicht]
    (Quelle: duden.de)

    An diesen „Pöbel“ mussten wir unweigerlich denken, als wir zum ersten Mal in der Schweiz das hübsche Wörtchen „pröbeln“ lasen. Ist es etwas, das der Pöbel tut? Vielleicht eine Variante zu „herumpöbeln“:

    pöbeln sw. V.; hat (ugs.): jemanden. durch freche, beleidigende Äußerungen provozieren:
    (Quelle: duden.de)

    Weit gefehlt! Es handelt sich vielmehr um eine geniale Wortschöpfung der Schweizer, mit der die langatmige Formulierung: „etwas ausprobieren“ kurz und präzise zum Ausdruck gebracht werden kann. Passend zum „Pröbchen“, der kleinen Probe, gibt es immer was zum „pröbeln“ in der Schweiz. Handelt es sich hierbei um Wein oder Käse, sprechen die Schweizer allerdings lieber von der „Dégustation“, die „erst noch“ gratuite sein muss, also umsonst. Später wird es dann teuer, wenn man nach dem fünften Probierglas Rotwein alle Hemmungen fallen lässt und unbeschwert den Bestellschein des Weinhändlers auszufüllen beginnt.

    pröbeln (sw. V.; hat) (schweiz.): allerlei [erfolglose] Versuche anstellen: unser Nachbar pröbelt jetzt mit Elektromotoren; Während der Bub mit seinem Schwert herumpröbelt, pröbelt er ein wenig mit den Spiegeln (Geiser, Fieber 113).
    (Quelle: Duden.de)

    Bezogen auf das Wortfeld „Probe“ erfahren wir aus dem Variantenwörter noch ein paar weitere markante Unterschiede:

  • Eine Sechs für eine Probe ist in der Schweiz etwas sehr Gutes
  • Die „Probe“ wird in der Schweiz nicht nur für eine Chorprobe oder Theaterprobe verwendet, sondern kommt auch als Klausur, Klassenarbeit oder Schularbeit daher:

    Zum ungetrübten Ärger fast aller Lehrer waren sie gezwungen, uns nach jeder Probe eine Fünf oder Sechs zu notieren
    (Quelle: Schädelin: Mein Name ist Eugen, Seite 60)

    Die zitierte Quelle ist ein äusserst bekanntes Jungendbuch, das in der Schweiz Kultstatus hat, im Sommer 2004 genial verfilmt wurde und als einer der erfolgreichsten Schweizerdeutschen Filme überhaupt in die Geschichte einging. Link zum Film hier.

    Deutsche Leser müssen an dieser Stelle noch wissen, dass die Schweizer Schulnoten von 6 bis 1 absteigend vergeben werden. Die Sechs und die Fünf sind in der Schweiz die besten Noten, während sie in Deutschland als schlechteste Noten gelten.

  • Probelektionen sind nicht umsonst in der Schweiz
  • Die „Lehrproben“, die in Deutschland die Referendare während ihrer Ausbildung haufenweise abgeben müssen, heissen in der Schweiz passend „Probelektionen“. In Deutschland würde das allerhöchstens als erste kostenlose Unterrichtsstunde in einer Fahrschule oder in einem Tanzkurs aufgefasst.

  • „Der ist in der Probezeit“ muss nichts Gutes heissen in der Schweiz
  • Die „Probezeit“ wird in Deutschland nur für die ersten 3 Monate eines Arbeitsverhältnisses geltend gemacht, während sie in der Schweiz als „Bewährungsfrist“ bei einer bedingten Verurteilung gilt:

    Das Gericht entschied sich für eine Strafe von drei Monaten Gefängnis auf eine Probezeit von drei Jahren.
    Quelle: NLZ 24.08.01, Internet; CH, nach Variantenwörterbuch S. 592

  • „Der tut nix“ kann vieles heissen
  • So können die einfachsten Formulierungen schon zu grossen Missverständnissen zwischen Deutschen und Schweizern führen. Aber mitunter sind die Verwirrungen und Zweideutigkeiten auch direkt in der Deutschen Sprache verankert. So lernt der türkische Held des Romans „Selim oder die Gabe der Rede“, von Sten Nadolny, im Laufe der Geschichte während seines Aufenthalts als Gastarbeiter in Deutschland zwar immer besser Deutsch, ist aber völlig verwirrt bei dem Satz: „Der tut nix“. Wird dieser über einen Hund geäussert, bedeutet er etwas sehr Gutes. Auf einen Lehrling in einer Lehrwerkstatt bezogen jedoch etwas sehr Negatives.

    Gesuch um Ausrichtung von Kinderzulagen

    Mai 13th, 2009

    (reload vom 20.5.06)

  • Ab dem dritten Kind wird es mehr in Deutschland
  • Falls Sie Kinder haben, in der Schweiz arbeiten, und hier auch wohnen, haben Sie Anspruch auf Kindergeld. Als wir Deutschland verliessen, gab es dort stolze 270 DM, mittlerweile sind es 154 Euro (240 Fr) fürs erste bis dritte Kind, und 179 Euro (279 Fr) ab dem vierten.

    Grundsätzlich ist Kindergeld in Deutschland ein feine Sache. Es kann erhalten:

    (…), wer in Deutschland seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder im Ausland wohnt, aber in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist. Als Kinder werden im ersten Grad mit dem Antragsteller verwandte Kinder berücksichtigt(eheliche, für ehelich erklärte, nichteheliche und adoptierte Kinder), Kinder des Ehegatten (Stiefkinder) und Enkelkinder, die der Antragsteller in seinen Haushalt aufgenommen hat sowie Pflegekinder, mit denen der Antragsteller durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist. Kindergeldberechtigter und damit Anspruchsinhaber sind die Eltern, nicht die Kinder. (…). Der Kindergeldanspruch kann jedoch von den Eltern an die Kinder abgetreten werden, so dass diese das Kindergeld selbst geltend machen können.
    (Quelle: Wiki)

    Kinder können also ihr eigenes Kindergeld bekommen in Deutschland. Manche Kinder sind ziemlich alt in Deutschland. Bis 27 Jahren und noch älter:

    Kindergeld wird mindestens bis zum 18. Lebensjahr gezahlt, darüber hinaus bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn das Kind sich in der Schul-, Berufsausbildung oder dem Studium befindet. Wenn das Kind verheiratet ist, besteht Anspruch auf Kindergeld nur noch, sofern der Ehepartner für den Unterhalt des Kindes nicht aufkommen kann.
    (Quelle: Wiki)

    Wir erinnern in diesem Zusammenhang gern daran, dass in Deutschland der Grossteil der Jugendlichen nicht schon mit 14 oder 15 genau weiss, dass er jetzt das KV oder sonst eine Ausbildung machen will, sondern so lange wie möglich zur Schule geht, danach gern auch an die Uni wechselt, um dann im Schnitt bis 27, 28 oder 30 Jahren zu studieren. Die Bundeswehr oder der Zivildienst wird in Deutschland vor dem Studium absolviert, was Ansprüche auf Kindergeld noch mal um ein paar Jahre nach hinten verlängern kann:

    In Einzelfällen wird selbst über das 27. Lebensjahr hinaus noch Kindergeld gezahlt. Dies ist dann der Fall; wenn Kinder in Schul-, Berufsausbildung oder im Studium den gesetzlichen Grundwehrdienst oder Zivildienst geleistet haben, sich freiwillig für nicht mehr als drei Jahre zum Wehrdienst verpflichtet haben oder eine vom Grundwehr- bzw. Zivildienst befreiende Tätigkeit als Entwicklungshelfer ausgeübt haben. Die Zahlung verlängert sich um die Dauer der Dienstzeit.

    Das Schweizer Kindergeld wird ihnen vom Deutschen Kindergeld abgezogen, sie können das also auf keinen Fall in beiden Ländern zugleich beziehen.

  • Wie kommen Sie in der Schweiz an Kindergeld?
  • Sie kriegen gar keins, denn hier gibt es kein Kinder-„Geld“, sondern eine „-Zulage„. Da müssen Sie erst mal nach suchen, am besten mit einem „Ge-such“, damit das nicht so einfach ist wie in Deutschland einfach „Kindergeld zu beantragen“, erhalten Sie als „Gesuchsteller“ ein dreisprachiges Formular in der Schweiz mit dem Titel:
    Gesuch um Ausrichtung von Kinderzulagen
    Gesuch um Ausrichtung von Kinderzulagen
    Eine Hochzeit könnten Sie ja auch ausrichten, für ihre Tochter. Oder die Satellitenschüssel auf dem Dach, die müsste dringend mal wieder korrekt ausgerichtet werden. Vielleicht lassen sie es ihrem TV-Fachmann ausrichten, dass er kommt und diese Ausrichtung für sie vornimmt. In der Schweiz „gesuchen“ Sie erst mal um Ausrichtung. Nicht von Kindergeld, sondern von „Kinderzulagen“. Legen Sie sich also Kinder zu, dann richtet man ihnen Kinderzulagen aus. In allen Lebens- und sonstigen Lagen, versteht sich.

  • Warum heisst das Ding „Gesuch“?
  • Warum dieses Teil „Gesuch“ heisst? Vielleicht weil es auf Französisch eine „Demande d’allocations pour enfants“ ist. Und „demander“ heisst fragen, um etwas bitten, um etwas höflich „ersuchen“. Denken sie an den dreifach höfischen Knicks, wenn sie dieses Gesuch bei ihrem Souverän, der „Ausgleichskasse“ vorbringen möchten. Die sorgt dann für ausgleichende Gerechtigkeit und legt zu bei der Zulage.

    Ach, und ehe wir es vergessen: Ohne Vorlage ihres „Familienbüchleins“ läuft sowieso rein gar nichts in der Schweiz. Wenn das bei Ihnen in Deutschland noch ein „Familienbuch“ war, dann sorgen Sie am besten rasch dafür, dass es nun zu einem „Büchlein“ mutiert um Anerkennung in der Schweiz zu finden.