Was ist eine KMU? — Über das Verschwinden des Mittelstands im Sprachgebrauch
Manchmal mag ich den Duden richtig gern. Er kommt ja ursprünglich aus Leipzig, und das liegt im Osten. Fragt man ihn darüber aus, was eigentlich die Abkürzung „KMU“ bedeutet, so bekommt man die knackige Antwort:
KMU – Karl-Marx-Universität Leipzig • klein- und mittelständische Unternehmen
(Quelle: Duden.de)
In dieser Reihenfolge. Erst die Uni, dann die Unternehmen.
(Quelle Foto KMU Karl-Marx-Universität: ruhr-uni-bochum.de)
Natürlich steht im Duden kein Wort darüber, dass die Bezeichnung der Universität Leipzig nur von 1953 bis 1991 galt. Der Duden ist schliesslich ein Wörterbuch, kein historisches Lexikon.
Wir kamen 2000 in die Schweiz, und verliessen die Südbadische Wirtschaftswelt, in welcher es zwar jede Menge „Mittelständische Unternehmen und Unternehmer“, aber irgendwie weder „Unternehmungen“ noch „Entscheide“ oder gar „KMUs“ gab. Den Begriff „KMU“ lernte ich erst in der Schweiz. Genauso wie den Begriff der Migration. Das kannte ich nur von Wanderbewegungen afrikanischer Völker aus dem Geographie-Unterricht. Unser Umzug in die Schweiz war von uns nicht als „Auswanderung“ geplant worden. Wandern gingen wir zwar schon immer gern, aber man muss es ja nicht gleich übertreiben. Doch das ist ein anderes Thema. Zurück zur KMU. Ein Schweizer erklärte mir, dass er schon vor 20 Jahren im Betriebswirtschaftsstudium dieses Wort verwendet hat. Also nix Neues für die Schweiz. Ist uns da in Deutschland etwas entgangen, kurz bevor wir in die Schweiz kamen? Ich kann mich einfach nicht erinnern, etwas anderes als „Mittelständische Betriebe“ gehört zu haben. Die Abkürzung „KMU“ war in Baden-Württemberg nicht geläufig. Sie wissen schon, das Bundesland mit dem Motto „Wir können alles, ausser Hochdeutsch„.
Wenn man heute die Herkunft der Abkürzung „KMU“ recherchiert, dann wird rasch deutlich, dass das keine Schweizer Erfindung ist, sondern seit 2003 die neue von der EU normierte Bezeichnung auch in der Schweiz angewandt wird. Die Europäische Kommission legte sie am 6. Mai 2003 fest.
(Quelle: ec.europa.eu)
Klein gilt ein Unternehmen bis 50 Mitarbeiter, und „mittelgross“ heisst bis 250 Leute. Nur wird zwischen diesen beiden Gruppen nie getrennt. Niemand sagt „Ich arbeite in einem KU“, also einem Kleinunternehmen. Und den früher mal in Deutschland so häufig anzutreffenden Begriff des Mittelstandes findet Google-DE nur noch schlappe 660‘000 Mal, gegenüber 1.9 Millionen KMU Erwähnungen. Der Mittelstand ist out, die KMU ist in. Doch so ganz lässt sich diesen Begriffswandel für die Deutsche Wirtschaft noch nicht festschreiben. Die alte Tradition, bei jeder Firma ab zehn Hansel von einem „Mittelständischen Betrieb“ zu reden, wird nach wie vor am Leben gehalten. Habe noch ein paar weitere Deutsche befragt, ob sie etwas mit dieser Abkürzung anfangen können. Negativ, scheint noch nicht sehr tief verankert zu sein im deutschen Sprachbewusstsein.
Einen „Betrieb“ kennen die Deutschen, eine „Betreibung“ nicht. Und wenn wir schon beim Wortklauben sind. Der „Azubi“ als „Auszubildende“ wurde in Deutschland wieder durch den „Lehrling“ ersetzt, leider immer noch ohne weibliche Form. In der Schweiz sind dies hübsche Begriffe weder als Abkürzung noch in der Langfassung üblich. Auch aus der Mode gekommen ist in Deutschland der „Stift“, die berühmte „Niete ohne Kopf“. Wikipedia klärt uns über in der Schweiz üblichen praktische Bezeichnungen für Stifte und Azubis auf:
Berufslernende/Berufslernender oder lernende Person (Schweiz), veraltet oder umgangssprachlich auch Stift, Lehrjunge, Lehrbub / Lehrmädchen, Lehrtochter.
(Quelle: Wikipedia)
Demnach gab es auch einen „Stift“ in der Schweiz?
Die politisch und sprachlich korrekte Antwort in der Schweiz auf die Frage an eine junge Auszubildende „Was sind Sie von Beruf?“ lautet somit: „Ich bin von Beruf eine Berufslernende“. Kein Wunder dass die jungen Schweizer kaum Bock auf Hochdeutsch haben. Dann doch lieber „Lehrtochter“, was nur leicht mit der Tochter des Lehrers verwechselt werden kann. Immer noch besser als die Tochter des Saals zu sein.
April 10th, 2008 at 2:12
Der Stift ist in der Stifti: Der Lehrling/die Lehrtochter ist in der Lehrzeit.
April 10th, 2008 at 3:39
Die Rechenaufgaben werden auch immer schwieriger hier. Da fühlt man sich doch wieder wie in der „Stifti“. Als Stift geht man in der Schweiz auch in die „Stifti“. Und der Lehrling beim Zoll war der Filz-Stift!
April 10th, 2008 at 5:11
Stift ist ganz normal. Schliesslich geht man ja auch „i d’Stifti“ , also in die Lehre. Wird tagtäglich verwendet.
April 10th, 2008 at 8:26
Da ich einem Wirtschaftsstudium entgangen bin, kenne ich den Ausdruck KMU, der seit wenigen Jahren auch von der einheimischen Presse von ihren Hörern/Lesern als Allgemeinwissen vorausgesetzt wird, noch nicht ganz seit 20 Jahren.
Als eifriger Hörer/Leser welscher Presse war mir allerdings das Kürzel PME (petites et moyennes entreprises) zu einem Zeitpunkt bekannt (vor ca. 10 Jahren), als ich noch behauptet hätte, auf Deutsch gäbe es keine gleichwertige Abkürzung.
Aus dieser persönlichen Erfahrung mit der Presse wage ich also die Hypothese, dass sich diese Abkürzung über den französischen Sprachraum in die deutsche (bzw. europäisch standardisierte) Sprache eingeschlichen hat.
Um noch auf die mehr oder weniger politisch korrekten Ausdrücke für Lehrling/Lehrtochter zu kommen: In offiziellen Dokumenten bezeichnet man sie hier meistens als „Lernende“ (ohne „Berufs-…“). Genau gleich wie beim Wort „Auszubildende“ hat man damit den Vorteil, sich wenig um politisch korrekte männliche und weibliche Formen kümmern zu müssen, womit die Lektüre vereinfacht wird. Hinter ihrem Rücken sind diese Lernenden natürlich auch heute noch „der Stift, d’Stiftin“. Um des Stabreims willen behalten wir auch gerne den Dialektausdruck „d’Schnupper-Schtifti“ (die Schnupperlehre) bei.
Der bekanntere Ausdruck für „Saaltochter“ ist ja, wie hier schon so oft erwähnt, die „Serviertochter“. Wessen Tochter ist nun dies? Und ist die „Krankenschwester“ gesund, oder ist bloss ihr Bruder krank? Kein Wunder hat man einige Berufsgattungen neu benannt.
April 10th, 2008 at 8:55
„Sie hätt uuf Mercerie g’stiftet“, habe ich einmal über eine junge Frau erzählen hören (sie hat ihre Lehre in einer Kurzwarenabteilung gemacht).
April 10th, 2008 at 9:24
In Hessen heisst es „Leeeeermmeedsche“. Ich bin froh, dass ich das nie war. Wenn eine KMU als „klein“ gilt, wird sie übrigens schnell zu „KMS“: Kannste mal schnell…
April 10th, 2008 at 10:03
Stift dürfte aber eigendlich nicht mehr verwendet weil es beleidigend ist. Es wird aber vor allem von älteren Mitarbeitern durchaus noch verwendet, aber ich weiss von AusbildnerInnen die sehr grossen Wert darauf legen, dass ihre Schützlinge nicht so angesprochen werden. Korrekt werden „Stiftis“ als „Auszubildende“ bezeichnet. (achten sie mal in einem Migros oder Ähnlichen darauf, wenn sie von einem Lehrling bedient werden steht das oft auf seinem Namensschildchen)
April 10th, 2008 at 11:43
@alle
Bitte einen Blick in den BLICK.
http://www.blick.ch/news/schweiz/vermieter-bevorzugen-deutsche-88159
[Anmerkung Admin: danke für den Hinweis, werde ich morgen auf der Blogwiese drauf „eintreten“ 🙂 ]
April 10th, 2008 at 12:08
Bei uns (hier in Bern) sagt man in den Betrieben offiziell meist „Lernende“, also in weiblicher wie männlicher Form verwendbar.
Umgangssprachlich ist vor allem „Lehrling“ und „Lehrtochter“ üblich, „Stift“ eher bei älteren Generationen, aber durchaus ein bekannter Begriff.
April 10th, 2008 at 13:25
Hier was für Deine Rubrik Schweizer Ausdrücke:
http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/news/zuerich/860018.html
Letzter Absatz: „Genie-Bataillon“ Hört sich für mich nach der Vereinigung der studierten Akademiker in der Schweizer Armee an 😉
[Anmerkung Admin: Zum Genie in der Schweiz siehe hier ]
April 10th, 2008 at 14:35
Die Sache mit dem „Stift“ ist immer noch ne heitere Schmonzette wert.
Auch Jens schreibt von der „Niete ohne Kopf“, wobei dann der Lehrling, wenn er etwas (Niete ohne Kopf = auch Zapfen) verzapft hat, sicher besser „stiften“ gehen sollte.
Tatsächlich ist historisch betrachtet ein Lehrling vom Mittelalter an bis Anfang der industriellen Neuzeit als „Stift“ im wahrsten Sinne des Wortes ein „Stifter“! Der damalige Lehrbub MUSSTE seinem Lehrherrn für die Ausbildung eine gehörige Menge Geld für das meisterliche Wissenstransfer, Werkzeugbenutzung, Kost und Unterkunft bezahlen. Der Lehrbub gab also seinem Meister eine Art „Stiftgeld“!
Dies „Stiftung“ sollte man im tatsächlichen Sinne als eine zwischen beiden Parteien (Meister / Lehrbub ) rechtlich geschlossene Vereinbarung zwecks „Stiftung, d.h. Bezahlung zur Ausbildung“ ansehen und so wurde es auch benannt.
Siehe als Analogie: Hier 3. b. ß http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemmode=lemmasearch&mode=hierarchy&textsize=600&onlist=&word=stift&lemid=GS45815&query_start=1&totalhits=0&textword=&locpattern=&textpattern=&lemmapattern=&verspattern=#GS45815L0
Meiner Meinung nach ist die bei den Brüdern Grimm beschriebene Angabe zum „Stift“ als etwas „geringwertiges, unbedeutendes“ so historisch eigentlich nicht haltbar, da ja das alte Lehrlingswesen auch eine wichtige finanzielle Grundlage der mittelalterlichen Ständeordnung war!!!
Der Meister verwendete diese „Stiftgelder“ als ein Teil seines eigenen Einkommens. Die Veränderung im etwas entwertenden Sinn und Wertigkeit des „Stiftes“ kann sicherlich ab der Biedermeierzeit / Beginn der industriellen Revolution ansetzen werden, also etwa in der Zeit der Grimms.
Man darf natürlich nicht vergessen, dass sich aus diesem mittelalterlichen Umfeld der „Stifte“ in folgender Zeit immer die neuen Meister der jeweiligen Zunft ergaben. Die damalige extrem strenge Ständeordnung hat dem „Stift“ eine sehr große Hürde zum Überwinden in die anvisierte ständische Zunftordnung vorgegeben.
Heutzutage sollten für bestimmte Berufe, wie z. B. Bänker, Broker, Makler, Geldhändler uäm. solcherart von Lehrausbildung ( oft 5 bis 7 Jahre Lehre, Wasser und Brot, kein Urlaub und überhaupt Nichts) zur Erheiterung des Publikums wieder eingeführt werden.
April 10th, 2008 at 15:28
Das wuste ich nicht dass KMU Karl Marx Uni heisst!! man lernt nie aus!
April 12th, 2008 at 13:15
Nett finde ich auch dewn Ausdruck für Schulpraktikanten, die heissen hier in der schönen Schweiz nämlich Schnupperstift.
April 12th, 2008 at 16:32
KMU = kleine und mittlere Unternehmen kenne ich seit 16 Jahren. War in der Wirtschaftsberatung in Deutschland schon damals gängige Praxis. KMU = Karl-Marx-Universität, tja was soll man sagen. Steht eigentlich das zugehörige Hochhaus in Leipzig noch, oder ist es als asbestverseucht oder marode inzwischen abgerissen worden?
[Anmerkung Admin: Also Fachvokabular eine Wirtschaftsberatung, nicht wirklich im täglichen Sprachgebrauch verankert, so wie „der Mittelstand“, oder siehst du das anders? ]
April 13th, 2008 at 19:48
Für mich (Kt. Zug) lief die Wohnungssuche damals nach dem Motto „friss Vogel, oder stirb“. Ich stand unter Zeitdruck und habe dann das erstbeste genommen. Es war allerdings schon unglaublich, was einem da zu horrenden Preisen angeboten wird. So beispielsweise eine Wohnung in schlechtem Zustand über einer Toyota-Garage mit direkter Aussicht auf die Bahnlinie auf der einen und der Hauptverkehrstrasse auf der anderen Seite.