Wie distanziert und verschlossen sind die Schweizer?
In der NZZ am Sonntag vom 30. Mai 2010 schrieb Haig Simonian, seines Zeichens Schweiz-Korrespondent der Financial Times, über die Schweizer, die den direkten Kontakt scheuen:
Die Schweiz geniesst unter Ausländern allergrösstes Ansehen. Während die Einheimischen auf Dinge wie Pünktlichkeit und Sauberkeit achten, schätzen Ausländer vor allem politische Stabilität, Wohlstand und Sicherheit. Doch in einer Hinsicht schneidet das Land nicht so gut ab: Die Schweizer gelten bei vielen Menschen als distanziert, ja verschlossen.
An Erklärungen mangelt es nicht. Aussenstehende verweisen gern auf das Klischee von der Mentalität des Bergvolks, das, von der harten Natur geprägt, im Laufe der Jahrhunderte gelernt hat, nur den unmittelbaren Nachbarn zu trauen und Fremden gegenüber misstrauisch zu sein. Andere sprechen von der typisch «alemannischen» Arbeitsamkeit und Schwerfälligkeit, der man auch in Baden-Württemberg und Vorarlberg begegne.
(Quelle für dieses und alle weiteren Zitate: NZZ am Sonntag vom 30.05.2010)
Arbeitsamkeit ja, aber Schwerfälligkeit? Wie wäre dann das alemannischer Tüftlertum mit Daimler, Benz, Porsche oder der Uhrenindustrie zu erklären? Sicher nicht mit Schwerfälligkeit.
Diese Klischees sind, wie jede Verallgemeinerung, im Detail natürlich unhaltbar. Vor allem ist die Schweiz nicht ein Land, sondern, nach Sprache und Kultur, mindestens drei. Das Image, sofern es überhaupt zutrifft, gilt also mehr für die Deutschschweizer als für den Rest des Landes.
Immerhin stellt er hier fest, dass die Deutschschweizer nicht gleichzusetzen sind mit der ganzen Schweiz.
Ich selbst würde sagen, dass sich die Verschlossenheit der Deutschschweizer typischerweise darin äussert, dass man den direkten verbalen Kontakt meidet und lieber schriftlich kommuniziert. Meine Einschätzung ist natürlich vollkommen subjektiv. Ich habe keine Analysen gelesen, keine Soziologen befragt, und vielleicht liege ich auch total daneben. Aber ich glaube eigentlich nicht.
Wir können hier als bestes Beispiel die „Zettelkommunikation“ in der Waschküche anführen. Lieber zweimal neue Zettel aufgehängt als einmal beim Nachbar geklingelt und die Sache von Angesicht zu Angesicht besprochen.
In keinem der europäischen Länder, in denen ich gelebt und gearbeitet habe (Deutschland, Italien, Frankreich und Grossbritannien), bin ich Menschen begegnet, die im persönlichen Umgang so gehemmt sind und gern Distanz wahren. Im Büro etwa bekomme ich täglich über hundert E-Mails, aber kaum jemand ruft an. Anderswo klingelte dauernd das Telefon.
Das kann natürlich mit der technischen Entwicklung zusammenhängen. In den letzten sechs Jahren hat der E-Mail-Verkehr sprunghaft zugenommen. Dass in der Schweiz, einem hochtechnisierten Land mit grosser Breitbanddichte, die Leute lieber Mails schicken, als zum Telefon zu greifen, ist eigentlich kein Wunder. Vielleicht wollen manche einfach nur höflich sein und mir nicht zumuten, Deutsch zu sprechen (was ich kann), oder möglicherweise fühlen sie sich unwohl, wenn sie Hochdeutsch oder gar Englisch sprechen müssen.
Wer in einem Büro sitzt, in dem Verkäufer damit beschäftigt sind, via Telefon ihre Ware oder Dienstleistung zu verkaufen, wird hier eine andere Beobachtung machen. Mails haben Telefonate tatsächlich weitgehend verdrängt, weil man seine Gesprächspartner sowieso nicht erreichen kann am Telefon, und irgendwann die Nase voll hat vom ständigen Nachrichten hinterlassen auf den Anrufbeantwortern, die in der Schweiz nur „Beantworter“ heissen, kurz und knapp.
Doch ich glaube, es ist mehr. Nach sechs Jahren Schweiz bin ich überzeugt, dass vielen Deutschschweizern der direkte Kontakt unangenehm ist. Man schaue nur, wie viele von ihnen unfähig sind, auch nur den harmlosesten Smalltalk zu führen.
Aber seit wann ist denn ein Telefongespräch ein direkter Kontakt? Ich glaube nicht, dass den Schweizern der „direkte Kontakt“ unangenehm ist, jedoch die „direkte Kontaktaufnahme“, ohne Vorspiel, Ritual und langsames Herantasten an den Gesprächpartner.
Ausländischen Mitarbeitern von multinationalen Unternehmen fällt die geringe Bereitschaft der Deutschschweizer auf, bei Sitzungen ihre Meinung zu sagen. Sie mögen klare Ansichten haben; sie behalten diese aber lieber für sich – aus Unsicherheit, aus Angst, anderen zu nahe zu treten, oder weil in ihrer Kultur der Konsens eine grosse Rolle spielt. Bei Ausländern kommt das leicht – und verständlicherweise – als Unfreundlichkeit, wenn nicht gar als Fremdenfeindlichkeit an.
Klassische Schweizer Zurückhaltung par excellence. Nicht aus Angst, sondern weil man es nicht nötig hat, sich gross in Szene zu setzen. Suter hat dort darüber in seinen Business Class Glossen tolle Erkenntnisse geliefert, siehe hier.
Tatsächlich ist das Bild komplexer. Den Klischees widerspricht beispielsweise die bemerkenswerte Offenheit in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, etwa die Akzeptanz von Ausländern auf Führungspositionen in Unternehmen, Universitäten oder Kultureinrichtungen.
Dies hier beobachtete „bemerkenswerte Offenheit“ und „Akzeptanz von Ausländern auf Führungspositionen“ ist wunderbar beobachtet, aber falsch interpretiert. Nur weil beim ESC die Schweiz für Lena 12 Punkte schickte, heisst das noch lange nicht, dass Schweizer für Lena gestimmt haben (es waren eher die 260 000 Deutschen im Lande). Nur weil da Ausländer in Führungspositionen sitzen, heisst das noch nicht, dass sie akzeptiert sein müssen. Ich würde da eher von „aus der Not eine Tugend machen“ sprechen. Denn wenn sonst kein Kader im eigenen Land zu finden ist, der die notwendige Qualifikation und Erfahrung mitbringt, dann wird halt in Gottes Namen ein Ausländer akzeptiert. Und Gott ist ein Schweizer, das wissen wir seit langem.
Ich weiss auch, dass dieselben Leute, die in ungewohnter Umgebung wenig kommunikativ und zugeknöpft wirken, in vertrauten Situationen ganz anders sein können. Historisch war das vielleicht ihr Bergdorf, heute dürfte es der Verein, der Klub oder das Quartier sein.
In unserem Quartier organisieren die Nachbarn seit Jahren allsommerlich ein Strassenfest. Es ist eine rein private Initiative, unabhängig von der Stadt, ohne Bezug zu einer Partei oder einem Klub. Die Atmosphäre ist entspannt, die Leute reden miteinander und riskieren sogar, mit «Fremden» ins Gespräch zu kommen. Das alles ist höchst «unschweizerisch».
Da sind wir wieder bei den alemannischen Schwaben und ihrer „Hocketse“ Feier einmal im Jahr. Da löst sich nach dem dritten Viertele schon die Zunge und es wird direkt und persönlich gefragt: „Henn Sii schoo geerbt? Henn Sii schoo gebaut?“ Alles doch nicht so anders als wie in der Schweiz, in Deutschland.
Juni 7th, 2010 at 11:28
Ich hab da meine Zweifel, ob es nur die in der Schweiz lebenden Deutschen waren, die für Lena angerufen haben. Die Pro7-Show sieht man bekanntlich auch hier und ihre Single war auch hier schon in den Charts, bevor der ESC ausgetragen wurde.
„Gott ist ein Schweizer, das wissen wir seit langem“. Ach, ist dem so?
Juni 7th, 2010 at 15:11
Ganz klar, der Mann ist Journalist. Der kriegt nichts von dem mit, was um ihn herum los ist,
“ … die bemerkenswerte Offenheit in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, etwa die Akzeptanz von Ausländern auf Führungspositionen in Unternehmen, Universitäten oder Kultureinrichtungen.“
aber nagelt dann gleich mal wieder ein paar Spitzen rein:
„Vielleicht wollen manche einfach nur höflich sein und mir nicht zumuten, Deutsch zu sprechen (was ich kann), oder möglicherweise fühlen sie sich unwohl, wenn sie Hochdeutsch oder gar Englisch sprechen müssen.“
„dass vielen Deutschschweizern der direkte Kontakt unangenehm ist. Man schaue nur, wie viele von ihnen unfähig sind, auch nur den harmlosesten Smalltalk zu führen.“
Ich finde, es ist genau anders herum. Bestimmte Medien, neidische Kader, zweifelhafte Politprominenz machen eine sonderbare zugeknöpfte Stimmung und sogar das Zürcher Amt für Integration lässt sich hier mit einspannen, während die „Menschen, wie Du und ich“, sich im Privaten ganz normal verhalten. Es ist halt nicht jeder gleich ne Stimmungskanone.
Juni 7th, 2010 at 20:01
@Neuromat: da gibt’s eigentlich nicht’s mehr hinzuzufügen 🙂 Trotzdem noch was Kleines: irgendwo hab ich von einem Engländer gelesen, Schweizer seien wie Kokosnüsse – schwer zu knacken aber nacher soll sie ganz innig sein. Die Freundschaft. Amerikaner seien hingegen wie Pfirsiche. Wohl leicht zu erringende Freundschaft, dafür bleibt’s aber oberflächlich weil der Kern ja nur schwer zu knacken ist. Es leben die Klischees. Der ‚Nationalitätenmensch‘ kann ja so einfach sein. Und das sich das Schweizer Ämter zu Nutze machen, ist mir als zugeknöpfte schwer zu knackende Schweizerin trotzdem mehr als peinlich. Und ich versteh auch völlig, wenn darauf nicht mit einem amüsierten Schulterzucken reagiert wird.
Juni 7th, 2010 at 22:50
«Vor allem ist die Schweiz nicht ein Land, sondern, nach Sprache und Kultur, mindestens drei.»
Mindestens vier sinds, Mr Simonian; vier, vier, vier!
Es nervt mich seit Jahren, dass alle möglichen Schreiberlinge aus aller Herren Ländern (auch aus der Eidgenossenschaft) mit konstanter Geringschätzung eine der vier Kulturen – man darf wetten: natürlich jene der Rätoromanen – beim Zählen «vergessen».
«Man schaue nur, wie viele von ihnen unfähig sind, auch nur den harmlosesten Smalltalk zu führen.»
Wozu Smalltalk? Wir haben doch die «NZZ am Sonntag»… 😉
Im Ernst: Ich kann Mr Simonian nur empfehlen, in einer beliebigen helvetischen Dorfbeiz dem Stammtischgeplapper zuzuhören. Der Talk dort ist notorisch extremely small. Er müsste sich dort sehr wohl fühlen.
Juni 8th, 2010 at 12:13
Der Titel müsste lauten: “ Wie distanziert und eingeschossen sind die CHler?
Die offizielle CH WM Einstimmung:
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Deutschland-vor-bloss-kein-Tor/story/26314469
Mal sehen wie hoch die Anzahl der Kommentare heute abend ist.:-)
Juni 9th, 2010 at 18:22
@ pfuus
da kann man ja fast ne masochistische Ader vermuten. Wo Du diese Artikel immer auftreibst. Gut, dass der Tagi die ähnlichen Themen gleich verlinkt hat. Die anderen Beiträge sind ja auch sehr lustig. Besonders diese Akzentgeschichte. Zugdurchsagen auf Hochdeutsch aber bitte akzentfrei! lol
Juni 9th, 2010 at 21:29
Interessanterweise werden Schweizern von den Teutonen oft Wesenszüge zugeschrieben – und natürlich vorbehaltlos verehrt, wie alles aus „der Schweiz“ – die sie an ihren Landsleuten eigentlich immer verachtet haben, mit größtmöglicher Agressivität zu tilgen suchten. So galt und gilt die schwäbische Kehrwoche als „Inbegriff deutscher Spießigkeit“. Und in der Schweiz ist man entzückt wie „sauber“ doch alles ist. Als sich auf deutschen Universitäten noch mit Sie angesprochen wurde, untereinander, hieß es plötzlich „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ und fortan galt nur noch etwas wer brutalstmöglich das „du“ verwendet. An den Schweizern schätzt man auf einmal deren Höflichkeit.
Und so weiter und so fort. Die Nachkriegs-Neurose der deutschen Halt.
Juni 14th, 2010 at 17:03
Naja Du lebst ja eh irgendwie in einem komischen Umfeld habe ich das gefühlt wenn ich manchmal Deine Blogs lese…
Juni 17th, 2010 at 21:28
@ mist lovalova
die Schweiz: „ein komisches Umfeld“?