Deutsche Motzkultur vs. Schweizer Harmoniebedürfnis

Mai 5th, 2009

(reload vom 12.05.06)

  • Motzkultur vs. Harmoniebedürfnis
  • Wenn es einen besonders häufig festgestellten Mentalitätsunterschied zwischen den Schweizern und den Deutschen gibt, dann ist es das Fehlen einer schweizerischen „Motzkultur“. Anders rum ausgedrückt: Wenn sich Deutsche in einer Situation schlecht bedient fühlen, wenn es mal nicht so läuft, wie es laufen sollte, wenn der Service schlecht ist, ein Zug Verspätung hat, ein Stau sich unnötig lange nicht auflösen kann, dann fangen sie an zu motzen. Und zwar laut und vernehmlich. Die Schweizer hingegen schweigen und leiden stumm. Im berühmten Sketch mit dem Deutschen am Skilift, durch das Schweizer Cabaret Rotstift aufgeführt (war als Ausschnitt in der Sendung QUER am 24.03.06 ganz am Anfang zu sehen) beschwert sich der Deutsche in der Wartschlange, dass es nicht weitergeht:

    „Jetzt warte ich hier schon seit 20 Minuten an diesem Skilift und komme nicht hoch, man, hier fehlt’s doch an der Organisation, verstehen Sie, Organisation, ruck zack zack…“. Der Deutsche als arrogantes Grossmaul. Ein Vorurteil mit langer Tradition. (Kommentar aus dem OFF). Das Cabaret Rotstift belustigte mit diesem Klischee die ganze Nation. (…)
    (notiert nach QUER vom 24.04.06)

    Solche Geschichten bekamen wir als Deutsche häufig erzählt: Wenn in einem Ferienort die Bedienung schlecht ist, das Frühstückbuffet nicht rechtzeitig aufgefüllt wird, es an irgend etwas mangelt, wer geht als erstes an die Rezeption und beschwert sich? Der Gast aus Deutschland. Hören wir unseren Schweizer Freunden bei diesen Erzählungen genau zu, dann haben wir mitunter das Gefühl, eine gewisse Resignation in ihrer Stimme herauszuhören. Die Schweizer bewundern ihre Deutschen Nachbarn offensichtlich für ihre Unhöflichkeit, sich bei Missständen gleich zu beschweren und nicht auf Harmonie und „Friede, Freude, Eierkuchen“ Stimmung bedacht zu sein. Jeden Unbill zu ertragen und weiter dazu zu schweigen.

  • Motzen die Deutschen häufiger als die Schweizer?
  • Die Hausverwaltungen im Kanton Zürich, welche unter ihren Mietern immer häufiger Deutsche haben, können ein Liedchen davon singen: Geht etwas schief im Haus, fällt die Heizung oder das warme Wasser aus (bei allen Mietparteien!), sie können darauf wetten: Als erstes ruft der Deutsche Mieter an und beschwert sich.

    Die Deutschen streiten sich gern, wenn sie sich im Recht fühlen. Unzählige Richter und Anwälte beschäftigen sich in Deutschland mit Streitereien zwischen Nachbarn, Vermietern und Mietern und Lappalien wie den „Maschendrahtzaun“, den einst Stefan Raab erfolgreich durch eine Platte zu Geld machte (750.000 verkaufte Expemplare!).

  • Zeige mir Dein Auto, und ich sage Dir wer Du bist
  • Deutschland war in der Geschichte lange kein Nationalstaat mit zentralistischer Struktur sondern ein Flickenteppich von Kleinstaaten und Fürstentümern, die alle jeweils miteinander verfeindet waren. Vielleicht kommt daher diese Lust am Streit, am Kräftemessen, am Imponiergehabe der Deutschen? Das manifestiert sich heute natürlich durch andere Ausdrucksformen. Während in den kleinen Nachbarstaaten wie Dänemark oder den Niederlanden die Einwohner tunlichst darauf achten, ihren erworbenen Wohlstand nicht zu stark nach aussen zu zeigen und damit Neid und Missgunst bei den Nachbarn zu provozieren, gehört ein vorzeigbares Auto zu Untermauerung des persönlichen Selbstwertgefühls und des Statusempfindens für den Deutschen häufig dazu. Da prallen dann die Mentalitäten aufeinander, wenn der Deutsche Arbeiter aus dem Rheinland am Wochenende seinen Mercedes oder BMW an den Strandpromenaden von Hollands Küsten vorführt, wohl wissend, dass ihn die Raten für das Auto noch ein paar Jahre zu Überstunden und Sonderschichten nötigen werden.

  • Gilt das für alle Deutschen?
  • Betonen wollen wir aber wiederum, dass diese Verallgemeinerungen auch in Deutschland schwer durchgängig zu halten sind. Die pietistischen (evangelischen) sparsamen Schwaben mit ihrem Drang zum Eigenheim haben da sicher ein anders Verhältnis zum Prestigeobjekt Auto (s’heiliges Blechle!) als die nicht auf den Mund gefallener karneval-feiernder Rheinländer. Sie merken, da ziehen sich kulturelle Gräben mitten durch Deutschland, die sehr wohl mit dem Röschtigraben und der Grenze zum „anderen Kulturkreis“ Schweiz vergleichbar sind.

  • Jeder Schweizer hat es schon erlebt: Den meckernden Deutschen
  • Was bleibt sind die zahlreichen kleinen Geschichten von Schweizern, die es alle selbst erlebt haben, in einem Restaurant in Deutschland, in einer Bar in Spanien, im Zug der Deutschen Bahn (= Die Bahn): Deutsche, die sich beschweren, Deutsche, die das Maul aufreissen und den für eine missliche Situation Verantwortlichen bedrängen, Deutsche, die ihr Recht einfordern und nicht schweigen wie die Lämmer. Wir wissen dabei nie so genau, ob dann aus der Stimme des Schweizers, der uns das erzählt, Bewunderung oder Spott herauszuhören ist. Irgendwie scheint es die Schweizer sehr stark zu faszinieren, wie man so „aushäusig“ veranlagt sein kann, und bei jedem Problem gleich so in „die Vollen“ geht.

    „Streitkultur“ ist quasi ein Schimpfwort in der Schweiz. Sie darf lediglich im kleinen und überschaubaren Rahmen der Sendung ARENA jeden Freitag um 22:20 Uhr praktiziert werden. (Für Leser ausserhalb der Schweiz: Unbedingt mal hier einen Videostream einer Sendung anschauen. Öffentlich lautstark streitende Schweizer haben absoluten Seltenheitswert!)

  • Beschwerde auch noch auf Hochdeutsch
  • Der Deutsche, der sich beschwert, das ist sowieso eine Horrorvorstellung für einen Schweizer, der diese Beschwerde zu hören bekommt. Er muss sich dann nicht nur den sachlichen Vorwürfen stellen und ihnen sachlich begegnen, das Ganze geschieht auch noch auf Hochdeutsch, der Sprache, in der er sich sowieso nicht ganz sattelfest fühlt. Schon gar nicht wenn die Emotionen hochgehen. Denn Emotionen, das war in der Schule nie Thema im Deutschunterricht. Für Emotionen ist ganz eindeutig nur Schweizerdeutsch vorgesehen. Klarer Vorteil also für den Beschwerdeführer, und Grundsubstanz für alle „Die Deutschen sind einfach arrogant“ Vorwürfe.

  • Ironie und Hochdeutsch, eine gefährliche Mischung
  • Wenn Sie jetzt als Deutscher oder Deutsche auch noch Sarkasmus und Ironie als Waffe einsetzen, um ihre Vorwürfe zu untermauern, fühlt sich ihr Schweizer Gegenüber gänzlich verloren. Er hat Mühe genug, ihrem Redeschwall zu folgen, wie soll da auch noch die Doppeldeutigkeit von Ironie verstanden werden?

    Kein Wunder, dass da schnell mal die „Klappe zu“ geht und gar nichts mehr zu erwarten ist. Darum bleiben Sie als Deutscher am besten immer gelassen, höflich, freundlich, sprechen Sie weiterhin betont langsam, auch wenn ihnen gerade der Kragen platzt, und halten Sie auf jeden Fall alle vorgeschriebenen Kommunikationsrituale ein (Ist das jetzt guet? Haben Sie sonst noch eine Frage? Dann ist das jetzt guet… etc) wenn sie wirklich in einer Problemsituation nicht nur Recht behalten sondern auch Erfolg haben wollen.

    Im Zweifel einfach «SIE» rufen — Die Höflichkeit der Schweizer Jugend

    Mai 4th, 2009

    (reload vom 11.5.06)

  • Haben Sie auch Kollegen?
  • Die Schweizer Jugend ist besser als Ihr Ruf. Wir haben diese Situation oft erlebt: Eine Clique junger Schweizer kommt auf der Strasse auf uns zu. Es sind Freunde, die über sich selbst als «Kollegen» sprechen. Ein «Kollege» ist für einen jungen Schweizer keinesfalls nur einfach eine Person, die in der gleichen Firma oder im gleichen Büro arbeitet. «Kollegen» sind Freunde, so wie «Kumpel» im Bergbau unter Tage auch mehr sind als nur Mitarbeiter. In der Schweiz sagt man nicht «Kumpel» oder «Copain» (weiblich «copine») sondern «Kollege», wenn es schon ein guter Freund aber noch nicht der «Schatzi» ist. Der muss dann allerdings meistens erst noch gehoben werden, der Schatz.

  • Höflichkeit mit Löffeln gefressen
  • Vielleicht haben wir einfach noch keine anderen negativen Erfahrungen gemacht in der Schweiz, um die folgende Beobachtung für allgemeingültig erklären zu können, aber wir haben die Schweizer Jugendlichen immer nur sehr höflich und wohlerzogen erlebt. Obwohl, das mit der Höflichkeit und Wohlerzogenheit bezieht sich jetzt ausschliesslich auf eine direkte Begegnung mit uns Deutschen. Zurück zu der beschriebenen Clique auf der Strasse. Ein ganzer Trupp von «Kollegen» kommt uns also entgegen, offensichtlich ausser Rand und Band, zu allerlei Jux aufgelegt, foppen sie sich gegenseitig, nehmen sich die obligatorischen Baseball-Kappen weg usw. Dann sind sie uns ganz nah, und eigentlich würde der jugendliche Übermut jetzt leicht dazu führen, sich auch mit jemand Erwachsenen anzulegen, ein bisschen zu provozieren, die Grenzen auszutesten. Jedoch nichts geschieht: Sprechen wir diese Kids an, fragen sie etwas, nach dem Weg zum Beispiel, sind sie plötzlich die Liebenswürdigkeit in Person, überschlagen sich schier vor Höflichkeit. Sprechen wir sie nicht an, werden wir zumindest respektvoll gegrüsst, in der Agglo und auch ausserhalb der grossen Städte. Das ist so gut wie überall üblich und normal.

  • «Sie» Rufen
  • Nur mit der Anrede hapert es ein bisschen. Weiss ein junger Schweizer nicht, wie er einen Erwachsenen ansprechen soll, dann ist ein lang gezogenes «Siiiiie» häufig die Regel. Es kling wie in Frankreich das «Monsieur!» der Schüler, die keine Ahnung haben, wie ihr Mathelehrer eigentlich mit Familiennamen heisst. Er ist für sie einfach nur «Monsieur», wenn es hochkommt, dann vielleicht noch «Monsieur le prof», oder «Monsieur le censeur» (= stellvertretende Direktor an einem Lycée in Frankreich). In der Schweiz begnügt man sich mit «Siiie».

  • Die Jugend von heute ist frech und unerzogen
  • Wenn Sie diesen Spruch noch nicht gehört haben, dann müssen Sie irgendwas verpasst haben im Laufe Ihres Lebens auf diesem hübschen Planeten, denn er ist eine «kulturhistorische Konstante» ersten Grades. Er fand sich bereits in den Pyramiden im alten Ägypten in Hieroglyphenschrift an die Wand gepinselt. Gleich neben dem anderen Klassiker: «Früher war alles besser». Keine menschliche Erfahrung, keine Lebensweisheit ist nachweislich älter als diese beiden Sentenzen.

  • Wieso sind Schweizer Jugendliche so höflich und wohlerzogen?
  • Sind sie es wirklich? Nicht mit ihresgleichen oder mit ihrer Umwelt. Auf dem Weg zum Kino die leeren Redbull oder Bierdosen einfach an der nächsten Ampel stehen zu lassen oder ins Gras neben der Strasse zu werfen, damit haben sie keine Probleme. Überall gibt es genug „magische Papierkörbe“ wie in Bülach. Ein ganz klein bisschen Rebellion muss schliesslich sein, gegen die Generation der sauberen Bünzli-Schweizer, die am liebsten noch den Papierkorb am Strassenrand von innen putzen würden.

  • Findet hier überhaupt Unterricht statt?
  • Wir liefen durch eine Schweizer Primarschule am Vormittag, während der Unterrichtszeit, und waren erstaunt über den nicht vorhandenen oder nur sehr geringen Lärmpegel aus den Klassenräumen. Man konnte meinen, es war Ferienzeit. Tatsächlich sind die Klassen kleiner als in Deutschland, wo max. bis 32 Kinder in einer Klasse unterrichtet werden und Frontalunterricht oft der einzige Weg ist, alle „im Griff“ zu behalten. Wir konnten auch beobachten, das grösster Wert auf Disziplin (Aufstellen in Zweiereihen am Ende der Pause) in Schweizer Schulen gelegt wird. Aus Deutschen Grundschulen blieb uns eher der Eindruck „Lärmpegel wie im Schwimmbad“ und „Schrei so laut du kannst“ im Gedächtnis (weswegen der Sensationserfolg der Teeniegruppe Tokyo-Hotel in Deutschland mit dem Titel „Schrei“ leicht zu verstehen ist). Natürlich sind das nur einzelne, subjektive Beobachtungen. Es gibt bestimmt auch leise Grundschulen in Deutschland und schlecht erzogene Schüler in der Schweiz, nur sind wir denen nicht begegnet.

  • Haben Sie auch schon mal vergessen «Merci» zu sagen?
  • Wir haben es in einem Gartenlokal am Zürisee erlebt: Eine Familie mit zwei vielleicht 14 oder 15-jährigen Jugendlichen studierte die Speisekarte (die vor «spitzen Spissen» nur so wimmelt). Der 15-jährige ist unleidlich, schlecht gelaunt und kann sich nicht entscheiden, was er bestellen soll. Wahrscheinlich hat er sich den sonnigen Feiertag sowieso irgendwie anders erträumt, nicht in Begleitung seiner Eltern. Er lässt sich von der jungen Bedienung, die hier im Freien freilich nicht «Saaltochter» heissen kann, weil es keinen Saal gibt, das Menü erklären. Dann folgt Schweigen. Dann verlässt die Bedienung den Tisch. Dann folgt das Donnerwetter des Vaters: «Du hättest Dich gefälligst für die freundliche Auskunft bedanken sollen!». Hatte der Junge nicht getan, er hatte glatt die Dienstleistung als solche entgegengenommen, ohne danach mindestens drei «Merci vielmals», und «ja, das ist jetzt guet» zu äussern.

    Für uns Deutsche am Nebentisch war es eine Schlüsselszene: So wird Höflichkeit von klein auf antrainiert in der Schweiz und von den Eltern für die Einhaltung der ungeschriebenen Regeln gesorgt!

  • Höfliches Fragen auf Ruhrpott-Deutsch
  • Dabei erinnerte ich mich daran, wie ich als Kind im Urlaub in Bayern losgeschickt wurde, um an einem Kiosk eine Flasche Cola zu kaufen. Die für mich als Ruhrpott-Kid übliche Fragestellung an den Verkäufer lautete: „Eh, hamse ma’ ne Cola oda son Scheiss?“ Selbstverständlich wurde dieses hochpolierte Deutsch von dem bayrischen Verkäufer nicht verstanden. Ich bekam dennoch irgendwie die gewünschte Cola und erlebte zum ersten Mal, dass nicht in ganz Deutschland mein heimischer «Soziolekt» gesprochen wurde, und das gleiche Verständnis für die korrekte Form einer «höflichen Frage» vorhanden war.