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Im Zweifel einfach «SIE» rufen — Die Höflichkeit der Schweizer Jugend

(reload vom 11.5.06)

  • Haben Sie auch Kollegen?
  • Die Schweizer Jugend ist besser als Ihr Ruf. Wir haben diese Situation oft erlebt: Eine Clique junger Schweizer kommt auf der Strasse auf uns zu. Es sind Freunde, die über sich selbst als «Kollegen» sprechen. Ein «Kollege» ist für einen jungen Schweizer keinesfalls nur einfach eine Person, die in der gleichen Firma oder im gleichen Büro arbeitet. «Kollegen» sind Freunde, so wie «Kumpel» im Bergbau unter Tage auch mehr sind als nur Mitarbeiter. In der Schweiz sagt man nicht «Kumpel» oder «Copain» (weiblich «copine») sondern «Kollege», wenn es schon ein guter Freund aber noch nicht der «Schatzi» ist. Der muss dann allerdings meistens erst noch gehoben werden, der Schatz.

  • Höflichkeit mit Löffeln gefressen
  • Vielleicht haben wir einfach noch keine anderen negativen Erfahrungen gemacht in der Schweiz, um die folgende Beobachtung für allgemeingültig erklären zu können, aber wir haben die Schweizer Jugendlichen immer nur sehr höflich und wohlerzogen erlebt. Obwohl, das mit der Höflichkeit und Wohlerzogenheit bezieht sich jetzt ausschliesslich auf eine direkte Begegnung mit uns Deutschen. Zurück zu der beschriebenen Clique auf der Strasse. Ein ganzer Trupp von «Kollegen» kommt uns also entgegen, offensichtlich ausser Rand und Band, zu allerlei Jux aufgelegt, foppen sie sich gegenseitig, nehmen sich die obligatorischen Baseball-Kappen weg usw. Dann sind sie uns ganz nah, und eigentlich würde der jugendliche Übermut jetzt leicht dazu führen, sich auch mit jemand Erwachsenen anzulegen, ein bisschen zu provozieren, die Grenzen auszutesten. Jedoch nichts geschieht: Sprechen wir diese Kids an, fragen sie etwas, nach dem Weg zum Beispiel, sind sie plötzlich die Liebenswürdigkeit in Person, überschlagen sich schier vor Höflichkeit. Sprechen wir sie nicht an, werden wir zumindest respektvoll gegrüsst, in der Agglo und auch ausserhalb der grossen Städte. Das ist so gut wie überall üblich und normal.

  • «Sie» Rufen
  • Nur mit der Anrede hapert es ein bisschen. Weiss ein junger Schweizer nicht, wie er einen Erwachsenen ansprechen soll, dann ist ein lang gezogenes «Siiiiie» häufig die Regel. Es kling wie in Frankreich das «Monsieur!» der Schüler, die keine Ahnung haben, wie ihr Mathelehrer eigentlich mit Familiennamen heisst. Er ist für sie einfach nur «Monsieur», wenn es hochkommt, dann vielleicht noch «Monsieur le prof», oder «Monsieur le censeur» (= stellvertretende Direktor an einem Lycée in Frankreich). In der Schweiz begnügt man sich mit «Siiie».

  • Die Jugend von heute ist frech und unerzogen
  • Wenn Sie diesen Spruch noch nicht gehört haben, dann müssen Sie irgendwas verpasst haben im Laufe Ihres Lebens auf diesem hübschen Planeten, denn er ist eine «kulturhistorische Konstante» ersten Grades. Er fand sich bereits in den Pyramiden im alten Ägypten in Hieroglyphenschrift an die Wand gepinselt. Gleich neben dem anderen Klassiker: «Früher war alles besser». Keine menschliche Erfahrung, keine Lebensweisheit ist nachweislich älter als diese beiden Sentenzen.

  • Wieso sind Schweizer Jugendliche so höflich und wohlerzogen?
  • Sind sie es wirklich? Nicht mit ihresgleichen oder mit ihrer Umwelt. Auf dem Weg zum Kino die leeren Redbull oder Bierdosen einfach an der nächsten Ampel stehen zu lassen oder ins Gras neben der Strasse zu werfen, damit haben sie keine Probleme. Überall gibt es genug „magische Papierkörbe“ wie in Bülach. Ein ganz klein bisschen Rebellion muss schliesslich sein, gegen die Generation der sauberen Bünzli-Schweizer, die am liebsten noch den Papierkorb am Strassenrand von innen putzen würden.

  • Findet hier überhaupt Unterricht statt?
  • Wir liefen durch eine Schweizer Primarschule am Vormittag, während der Unterrichtszeit, und waren erstaunt über den nicht vorhandenen oder nur sehr geringen Lärmpegel aus den Klassenräumen. Man konnte meinen, es war Ferienzeit. Tatsächlich sind die Klassen kleiner als in Deutschland, wo max. bis 32 Kinder in einer Klasse unterrichtet werden und Frontalunterricht oft der einzige Weg ist, alle „im Griff“ zu behalten. Wir konnten auch beobachten, das grösster Wert auf Disziplin (Aufstellen in Zweiereihen am Ende der Pause) in Schweizer Schulen gelegt wird. Aus Deutschen Grundschulen blieb uns eher der Eindruck „Lärmpegel wie im Schwimmbad“ und „Schrei so laut du kannst“ im Gedächtnis (weswegen der Sensationserfolg der Teeniegruppe Tokyo-Hotel in Deutschland mit dem Titel „Schrei“ leicht zu verstehen ist). Natürlich sind das nur einzelne, subjektive Beobachtungen. Es gibt bestimmt auch leise Grundschulen in Deutschland und schlecht erzogene Schüler in der Schweiz, nur sind wir denen nicht begegnet.

  • Haben Sie auch schon mal vergessen «Merci» zu sagen?
  • Wir haben es in einem Gartenlokal am Zürisee erlebt: Eine Familie mit zwei vielleicht 14 oder 15-jährigen Jugendlichen studierte die Speisekarte (die vor «spitzen Spissen» nur so wimmelt). Der 15-jährige ist unleidlich, schlecht gelaunt und kann sich nicht entscheiden, was er bestellen soll. Wahrscheinlich hat er sich den sonnigen Feiertag sowieso irgendwie anders erträumt, nicht in Begleitung seiner Eltern. Er lässt sich von der jungen Bedienung, die hier im Freien freilich nicht «Saaltochter» heissen kann, weil es keinen Saal gibt, das Menü erklären. Dann folgt Schweigen. Dann verlässt die Bedienung den Tisch. Dann folgt das Donnerwetter des Vaters: «Du hättest Dich gefälligst für die freundliche Auskunft bedanken sollen!». Hatte der Junge nicht getan, er hatte glatt die Dienstleistung als solche entgegengenommen, ohne danach mindestens drei «Merci vielmals», und «ja, das ist jetzt guet» zu äussern.

    Für uns Deutsche am Nebentisch war es eine Schlüsselszene: So wird Höflichkeit von klein auf antrainiert in der Schweiz und von den Eltern für die Einhaltung der ungeschriebenen Regeln gesorgt!

  • Höfliches Fragen auf Ruhrpott-Deutsch
  • Dabei erinnerte ich mich daran, wie ich als Kind im Urlaub in Bayern losgeschickt wurde, um an einem Kiosk eine Flasche Cola zu kaufen. Die für mich als Ruhrpott-Kid übliche Fragestellung an den Verkäufer lautete: „Eh, hamse ma’ ne Cola oda son Scheiss?“ Selbstverständlich wurde dieses hochpolierte Deutsch von dem bayrischen Verkäufer nicht verstanden. Ich bekam dennoch irgendwie die gewünschte Cola und erlebte zum ersten Mal, dass nicht in ganz Deutschland mein heimischer «Soziolekt» gesprochen wurde, und das gleiche Verständnis für die korrekte Form einer «höflichen Frage» vorhanden war.

    

    3 Responses to “Im Zweifel einfach «SIE» rufen — Die Höflichkeit der Schweizer Jugend”

    1. Ric Says:

      Ein Spezi von mir aus dem Rheinland nennt seine Spezis auch grundsätzlich immer „Kollegen“. Und die Hessen auch, die sagen dazu nur „Kollech“…

      In Bayern ist das biserl seltsam. Es gibt sogar mundartliche Sie-Formen. Zum Beispiel kann man nicht nur „gell“ sondern auch „gelln’S“ sagen („finden Sie nicht auch?“). Andererseits ist das Sie eigentlich ganz und gar nicht heimisch und keiner redet in Mundart mit Sie, erst wenn in Hochdeutsch gewechselt wird, vornehmlich um mit Zugereisten zu reden, kommt das Sie in’s Spiel und die ganze Sprache wird einige Temperaturstufen sachlicher und kühler.
      Andererseits widerrum ist das „Grüß Gott“ auf der Straße obligatorisch, mindestens wenn man ältere Herrschaften antrifft. Je nach Region „Griasigod“, „Griasgood“, „Griasi“ oder „Grias eana/engk“ ausgesprochen. Ein altes Weib (kein Schimpfwort in Bayern) grüßt man nicht mit „Servus“. Gleichaltrige Bekannte jeden Alters nicken sich aber auch schonmal einfach nur zu und murmeln „Oida Hund“.

      … Herr Wiese, an Ihrer Bestellung war schon der Artikel falsch, es heißt „a Cola“ 😉

    2. Brun(o)egg Says:

      Versteh das nicht so ganz. Hab irgendwie noch den „Diener“ in Erinnerung der in Deutschland üblich war?!

      @ Ric

      Der „Oida Hund“ wird übernommen. Ab sofort.

    3. Simone Says:

      Vielleicht verstehen die Deutschen auch eventuelle Unhöflichkeiten einfach nicht.