Heute schon geschlipft? — Vom Chue-Schlipf bis zum Schlüpfer als Herrenmantel
Der wunderbare Artikel „Wir gegen uns“ des Tagi-Magazins 21-2007 über das Verhältnis der Süddeutschen zur Schweiz berichtet im letzten Abschnitt über den Müllexport von Deutschland in die Schweiz. Die Müllabfuhr überquert die Grenze und wird zur Kehrichtabfuhr:
Um 6 Uhr ist er in Bad Säckingen losgefahren, zwanzig Minuten später hat er am Zoll das Formular ‚Grenzüberschreitende Verbringung von Abfällen` stempeln lassen. 100 000 Tonnen Müll aus Deutschland werden jedes Jahr in die Schweizer verbrannt. „Also wenn es um Abfall geht“, sagt Stuchinger, „dann ist die Zusammenarbeit über die Grenze hervorragend.“ Schliesslich erreicht der Müllwagen die Kehrrichtverbrennung. (…) 21 840 Kilo deutscher Müll schlipfen ins Loch.
Ob bei einem Mülltransport von der Ausdruck „Verbringung von Abfällen“ nun der deutschen oder der eidgenössischen Beamtensprache entsprungen ist, darüber mögen sich andere streiten. Auch dass Müll bei der Grenzüberschreitung in der Gegenrichtung flugs zu „Kehricht“ mutiert, macht uns nicht stutzig, denn Kehrichthaufen gibt es im Schwabenländle auch. Doch das kleine Verb „schlipfen“ hat uns uns angetan.
Wir kennen es von Vögeln, die „aus dem Ei schlüpfen“. Doch dann schreibt es sich mit „ü“ und nicht mit „i“. Wir finden es erklärt in Kurt Meyers Schweizer Wörterbuch:
Schlipfen (sw. V.:,ist) (mundartnah) – rutschen, ausgleiten. – ausschlipfen. Er schlipfte aus, nichts leichter als das, auf den Ufersteinen (Frisch, Bin 58).
(Quelle: Kurt Meyers Schweizer Wörterbuch, S. 73 u. 227)
Ein Wort also, was dem grossen Max Frisch nicht durch Deutsche Lektoren „zensuriert“ bzw. wegzensiert und in eine standarddeutsche Form gebracht wurde. Wahrscheinlich ist es bei der Kontrolle durchgeschlipft.
Unser Duden führt „schlipfen“ als eine von vielen Varianten für „glitschen“:
glitschen
1. ausrutschen, gleiten, rutschen, schlittern; (geh.): ausgleiten, entgleiten; (schweiz. ugs.): [aus]schlipfen.
(Quelle: Duden.de)
Wenn wir ältere Quellen heranziehen, die sich bei GRIMM finden, wird deutlich, dass dieses Wort praktisch seit dem Althochdeutschen „slipfan“ und dem Mittelhochdeutschen „slipfen“ unverändert im alemannischen Sprachraum erhalten blieb!
SCHLIPFEN, verb., ableitung von schleifen, sich zu diesem verhaltend wie schlitzen zu schleiszen, ritzen zu reiszen, ahd. slipfan, häufiger in zusammensetzungen GRAFF 6, 807–809, mhd. slipfen.
1) die bedeutung ist meist ‚gleiten, ausgleiten‘
(Quelle: Grimms Wörterbuch )
Während sich diese Variante für „gleiten, herausgleiten“ im Tagi-Magazin auf 21 840 Kg Müll beziehen, erinnert uns das Wort an die Norddeutsche Bezeichnung für „Unterhose“:
Schlüpfer, der; -s, -:
1. oft auch im Pl. mit singularischer Bed. Unterhose mit kurzen Beinen, bes. für Damen u. Kinder: einen neuen S., ein Paar neue S. anziehen.
2. bequem geschnittener, sportlicher Herrenmantel mit großen, tiefen Armlöchern.
Wenn ich je einen Herrenmantel als „Schlüpfer“ angeboten bekommen hätte, ich wäre sicher vor Lachen nicht zum Anprobieren gekommen.
Die Schweiz haben noch eine weitere eigene Variante des Wortes, die es auch in den Duden geschafft hat. Die Rede ist vom „Schlipf“ als Landschaft und Wohnstätte:
1. Schlipf:
1) Wohnstättenname zu mhd. slipfe „Erdrutsch“.
2) Herkunftsname zu der gleich lautenden Landschaft im Kanton Zürich.
2. Schlipf, der; -[e]s, -e [spätmhd. slipf(e)] (schweiz.): Berg-, Fels-, Erdrutsch.
Auch das DWDS führt ihn an, noch dazu den „Erdschlipf“.
Schlipf, der; -(e)s, -e schweiz. Berg-, Fels-, Erdrutsch: ein Schlipf geht nieder
dazu Erdschlipf
(Quelle: dwds.de)
Und das gar nicht auf den Mund gefallene Züri-Slangikon nennt den „Chue-Schlipf“ als Variante für einen Kuhfladen, neben „Alpen-Pizza“ und „Tälla-Miine“ noch die nettere Variante.
(Quelle: Züri Slangikon)
Doch jetzt ist Feierabend, sonst kommt noch jemand auf „schlüpfrige“ Ideen.
Juni 4th, 2007 at 0:45
Auch interessant wäre zu wissen ob das englische „slide“ von „slipfen“ abstammt.
Juni 4th, 2007 at 8:39
@ nightflyer
da habe ich gar keine Zweifel mit dem „slide“.
Auch der Begriff Slideshow wird nun klar: Mächtige Attraktionen, wenn in der Schweiz die Berge zu Tal donnern und Herr Wiese im sportlichen Herrenmantel bei Aeschbacher (der mich immer noch nicht eingeladen hat!!) auftritt.
Juni 4th, 2007 at 9:12
Anknüpfend an Nightflyers Kommentar frage ich mich, ob nicht eher ein Zusammenhang zum englischen „to slip* besteht? 😉
Juni 4th, 2007 at 11:49
@ Nightflyer
Das englische Wort „slip“, im Deutschen Sprachraum gerne auch für den Schlüpfer verwendet, ist wohl noch näher dran.
Juni 4th, 2007 at 12:25
Das Wort „Schlipf“ wird auch für jene Stelle gebraucht, bei welcher man an einem Gewässer ein Boot zu Wasser lassen kann. Das ist eine „Strasse“, die ins Wasser führt, so dass man rückwärts mit dem Bootsanhänger reinfahren kann.
Wie wird denn sowas im Standarddeutsch genannt…?
Juni 4th, 2007 at 14:16
>Auch interessant wäre zu wissen ob das englische “slide” von “slipfen”
>abstammt.
Da “slipfen/slipfan” Althochdeutsch ist und England eher nicht vom althochdeutschen Sprachraum besiedelt wurde (sondern vom altniederdeutschen und skandinavischen) kann eigentlich per se keine unmittelbare Abstammung vorhanden sein. Die gemeinsamen Wurzeln von Althochdeutsch und Altenglisch im Altniederdeutschen, bzw. im Urgermanischen scheinen aber offensichtlich, siehe „Santa Fe Institut“:
http://ehl.santafe.edu/cgi-bin/query.cgi?basename=/data/ie/germet&root=config
1. bei „Middle English“ `slide` eingeben und „Search“ drücken
2. neue Suche, bei „Old High German“ `slipfen` eingeben und „Search“ drücken
Juni 4th, 2007 at 14:31
Ach ja, und beides heisst „gleiten“ und „auf dem Eis rutschen“ und beides ist eng verwandt mit „schleim“ und mit „schleichen“ (s. Kluge, Etymologie-Lexikon)
Juni 4th, 2007 at 16:22
@ myl
Ich glaube, man nennt das eine Schiffslände…
Juni 4th, 2007 at 16:46
an myl:
Auf einer Slipanlage werden die Schiffe gewartet, gepflegt odfer überholt.
An der Waterkant sagt man dazu Slipanlage.
Juni 4th, 2007 at 17:00
OED (Oxford English Dictionary) online meint zur Etymologie von slide resp. slip:
[OE. slídan, = NFris. slî{dbar}e (slîre), sklid, older LG. slîden (slijden), MHG. slîten: for related forms see SLIDDER v. and SLEAD n.]
[prob. ad. MLG. slippen (LG., Du., Flem. slippen, G. schlippen), = OHG. slipfan (MHG. slipfen, G. dial. schlipfen) to slip, slide, glide, etc., related to the ON. strong verb sleppa (Norw. and Icel. sleppa; in Sw. slippa and Da. slippe the vowel has been influenced by LG). The stem slip- appears in OE. in the adj. slipor: see SLIPPER a.]
MLG=Middle Low German, LG=Low German, OHG=Old High German, OE=Old English, ON=vermutlich Old Norse
…and off, noch viel vor heute.
Juni 4th, 2007 at 17:02
Im Anhaltinischen gibt eine „Schlippe“ für einen schmalen Durchgang.
Juni 4th, 2007 at 18:56
@Tellerrand und @myl
„SCHIFFSLÄNDE“ ist nicht identisch mit einem „Schlipf“, denn eine Schiffslände ist ein Schiffsanlegeplatz für Passagiere und/oder Fracht, der sich außerhalb eines baulich befestigten Hafens oder Hafenanlage an einem Fluss / See befindet. Es kann hierbei ein Kai, Molle, Steg / Brücke, Schwimmeinrichtungen, Pontons, Schiffs- oder Landungsanleger uam vorhanden sein.
Üblicherweise führt eine befestigte Straße / Weg zu dieser Schiffslände, ansonsten ist im Regelfall kein weiteres Bauwerk vorhanden.
„SCHLIPF“ (SLIP) ist üblicherweise eine Stelle am Fluss / See, an welcher Wasserfahrzeuge, hier Schiffe, in das Wasser geleitet werden. Historische Schlipfe für Schiffstransporte (z.B. Wikinger-Wasserwege auf der Wolga
mit zugehörigen Landtransporte der Schiffe) über Land sind solche Orte.
Es können auch in heutiger Zeit Pionier- / Genie-Truppen-Übungsorte für Land- Wasser-Einsätze sein. Diese werden dabei üblicherweise in “gleitender“ d.h. in schlipfriger Ausführung zu Wasser gebracht.
Erst in neuerer Zeit werden befestigte Straßenbelege bis zum bzw. ins Wasser verbaut. Im Deutschen wird üblicherweise solch eine Stelle „Slip“ genannt. Es entstammt dem gemeingermanischen „Schlipf“ für gleiten, schleifen.
Juni 4th, 2007 at 20:43
@anfra
Genau, eine Schifflände ist für mich auch der Ort, an dem Passagiere bei Kursschiffen zusteigen.
Dann ist offenbar „Slip“ in dieser Bedeutung im Deutschen gebräuchlich…man lernt nie aus…
Juni 4th, 2007 at 20:44
Ein Schlüpfer ist ein Hügü. Sie wissen nicht, was ein Hügü ist?
Dann sind Sie möglicherweise unter 45 und eher männlich. Das ist nämlich genauso ein Hüftgürtel wie ein Beha (BH) ein Büstenhalter ist. Jedenfalls ein damaliger Tabugegenstand, dessen Name nur mit der Abkürzung und hinter vorgehaltener Hand angedeutet werden durfte.
Der Hügü ist eine leichte Version eines Korsetts (eben zum Reinschlüpfen, also ohne Geschnüre), mit dem man früher (alte Damen wohl noch heute) Bauch und Hintern in eine gefälligere Form brachte. Mühsam anzuziehen, heiss und unbequem! Meine konservativen, anspruchsvollen Eltern zwangen mich als Teenager Ende 60er-Jahre für Theater und Konzerte noch in so ein Unding. Grauenhaft. Als ob ich es damals auch nur schon nötig gehabt hätte. Heute vielleicht …, aber zum Glück sind hierzulande solche Zwänge passé.
Juni 4th, 2007 at 21:06
zum Slip noch eine Geschichte von Jan Schmietwech (vielleicht etwas langatmig, aber durchaus passend)
http://www.hafengeschichten.de/Meine_Odyssee/Die_Slipanlage/die_slipanlage.html
Juni 5th, 2007 at 8:49
Bei diesen Gedanken offenbart sich mir eine ganz logische Herkunft des in meiner Mundart üblichen „Schliifschueh“, (Schlittschuhe) und. Das hätte also mehr mit „gleiten, schlüpfen“ statt mit „Schlitten, schlitteln“ oder „schleifen“ zu tun. Für „Schlööf, schlööfle“ ist die Verwandtschaft weniger klar ersichtlich.
Wer noch nicht tauglich ist, um an der „Isokeiweäm“ mitzumachen, kann nach wie vor hochdeutsch von „Schlittschuhen“ und „Schlittschuhlaufen“ sprechen und unkontrolliert über den gefrorenen See „schlittern“.
Ähnliche kalte Themen:
http://www.blogwiese.ch/archives/152
http://www.blogwiese.ch/archives/15
Juni 5th, 2007 at 15:25
@Phipu
Das zeigt sich auch bei der „Schliiffi“. Schliiffi nennt man doch in vielen Kantonen einen langen Eisstreifen, über den die Kinder voller Wonne gleiten.
Manchmal ist der Eisstreifen natürlich, manchmal hilft jemand, z.B. ein netter Schulhausabwart, mit einigen Kübeln Wasser nach.
Die Kinder nehmen auf dem festenbzw. aperen Boden Anlauf und gleiten dann übers Eis, manchmal mit quer gestellten Füssen. Schade nur, dass sich jede Schliiffi beim nächsten Wärmeeinbruch (oder wenn jemand mit Salz dem Spass ein Ende setzen will) zuerst verflüssigt und dann austrocknet.